16 Jahre "Internationale Assoziation zur Erforschung bäuerlicher Schreibebücher"

16 Jahre "Internationale Assoziation zur Erforschung bäuerlicher Schreibebücher"

Projektträger
Landbohistorisk Selskab; Arbeitskreis für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins ()
Ausrichter
Ort des Projektträgers
Kiel
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.01.1989 - 13.05.2005
Von
Lorenzen-Schmidt, Klaus-Joachim

16 Jahre "Internationale Assoziation zur Erforschung bäuerlicher Schreibebücher" - Rückblick und Ausblick
zugleich
Mitteilung über das Ende des Projektes

von Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt

1989 trafen sich auf Einladung von "Landbohistorisk Selskab" (København) und des "Arbeitskreises für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins" (Kiel) in Kiel 15 Forscher zu einer Tagung über "Bäuerliche Schreibebücher als wirtschaftsgeschichtliche Quellen". Sie hatten eine interessante Tagung, deren Ergebnisse bald publiziert wurden.1 Und weil das Thema so interessant, die Tagung bereits die zweite zum Thema "Bauernschreibebücher" (nach der ersten 1981 in Cloppenburg)2 und das gegenseitige Verstehen und die Lust sich auszutauschen so groß war, schritt man auf Vorschlag von Jan Peters zur Bildung einer kleinen Vereinigung, die dann "International Association for the Research on Peasant Diaries / Internationale Assoziation zur Erforschung bäuerlicher Schreibebücher" benannt wurde. Der erste newsletter "Forschungen zu bäuerlichen Schreibebüchern / Research on Peasant Diaries" (kurz: rpd/fbs) erschien im Herbst 1989 und wurde vom Autor des Berichts herausgegeben. Dann übernahm 1992 Karl Peder Pedersen das Sekretariat, um es 1995 an Marie-Luise Hopf-Droste weiterzugeben, die es dann krankheitshalber 1996 wieder an mich zurückgab. Inzwischen fanden noch zwei Konferenzen statt, von denen die erste in wunderschöner frühsommerlicher Landschaft in Julita nördlich Stockholms und die zweite in der Carlsberg-Stiftung in Kopenhagen stattfand. Die beiden Tagungspublikationen sind erschienen.3

Insgesamt hat die Assoziation, eine sehr lockere Organisation, weniger als ihre aktiven Mitglieder gewirkt. Vor allem in Deutschland, wo bäuerliche und ländliche Selbstzeugnisse (sieht man einmal vom Adel und von der Geistlichkeit bzw. den Lehrern ab) eher gering geachtet wurden, hat sich nun doch eine breitere Akzeptanz dieser Quellen in der Forschung herausgebildet. Ländliche (und darunter auch: bäuerliche) Schriftlichkeit wird wahrgenommen und forschend erschlossen. In Dänemark, wo sich das Staatsvolk irgendwie als Bauernvolk sieht, ist Schriftlichkeit der Landbevölkerung sicher am besten erforscht. Hier gibt es - ebenso wie in Schweden - nationale Inventare solcher Quellen (von denen es mit Sicherheit noch viel mehr gibt, als jetzt bekannt sind!), Hilfsmittel, die überall woanders fehlen, wenn man einmal von mikroregionalen Aufnahmen um Cloppenburg absieht.4

Die Resultate der Erforschung von ländlich-bäuerlichen Schreibebüchern lassen sich etwa so zusammenfassen:

Entgegen der älteren Forschungsmeinung vom "Volk ohne Buch" (Schenda) oder "Volk ohne Schrift" zeigte sich in den vergangenen Jahrzehnten bei genauerem Hinsehen, dass es zahlreiche Schriftzeugnisse von nichtadligen und nichtklerikalen Landbewohnern (Bauern, Landhandwerkern und -gewerbetreibenden) gibt. Das Problem stellt die Zugänglichkeit dieser Überlieferung dar. Schriftzeugnisse dieser Art finden sich nämlich ganz überwiegend nicht in staatlichen Archiven, deren Aufgabe es ist, Politik und Verwaltung auf staatlicher Ebene zu dokumentieren. Häufiger schon findet man solche Quellen in kommunalen Archiven, die sich eher einem Dokumentationsprofil verpflichtet fühlen, das möglichst viele Seiten des kommunalen Lebens (also neben der Politik und Verwaltung auch solche des Wirtschafts-, Sozial- und Kulturlebens) überliefern möchte. Am häufigsten gibt es Unterlagen der fraglichen Art in privaten Bauernhofarchiven und Überlieferungen ländlicher Gewerbetreibender (Müller, Schmiede, Tischler, Zimmerleute, Stellmacher, Händler etc.). An diese Quellen heranzukommen ist für Forscher eigentlich nur möglich, wenn sie den Besitzern solcher Archive gut bekannt, wenn sie vertrauenswürdig sind. Das setzt zumeist einen langen Atem bei der Bearbeitung einer Mikroregion voraus, denn auch wenn Landwirte es heute zu schätzen wissen, dass sich überhaupt die Wissenschaft jenseits der Agrarwissenschaft für sie interessiert; so haben sie doch eine geringe Neigung, ihre privaten "Schätze" Fremden auf die Nase zu binden. Nur intensive Suche und möglichst genaue Kenntnis der Personen des Untersuchungsgebietes macht es möglich, an diese Unterlagen zu kommen. Suchaktionen von Archiven, Museen und Universitätsinstituten mögen einige private Quellen aus dem ländlichen Bereich zutage fördern, das Gros werden sie nicht ausfindig machen.

Schon diese Forschungssituation macht klar, dass dort, wo intensiv nach ländlich-bäuerlichen Schreibebüchern geforscht wird, die Funddichte am höchsten ist. Geht man von der 1999 in rpd/fbs veröffentlichten Bibliographie zum Thema aus5, dann stellt man folgende Verteilung von Publikationen über Schreibbücher fest:

in Deutschland 178
in Dänemark 158
in der Schweiz 27
in Österreich 3

Schon aus diesen Zahlen wird deutlich, dass es viel mit dem nationalen Selbstverständnis zu tun hat, wie wichtig Quellen aus Bauern- und Landbewohnerhand genommen werden. Dänemark mit seiner starken mentalen Verbindung mit seiner Bauernbevölkerung hat dem gesamten Landwirtschafts- und Landgesellschaftsbereich (und damit auch der ländlich-bäuerlichen Schriftlichkeit) eine viel größere Aufmerksamkeit gewidmet als Deutschland. Aber auch in Deutschland gibt es starke regionale Unterschiede. So stammten aus den einzelnen Bundesländern:

Schleswig-Holstein 87
Niedersachsen 26
Nordrhein-Westfalen 20
Hessen 15
Sachsen 9
Brandenburg 5
Hamburg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt je 3
Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen je 2
Baden-Württemberg 1
Berlin und Bremen 0

Bauernschreibebuch-Publikationen. Daraus etwas über das Vorkommen dieser Quellen zu schließen, ist völlig verfehlt. Von den 87 in Schleswig-Holstein erschienenen Veröffentlichungen zum Thema stammen allein 37 vom Autor, dessen Forschungsregion die Elbmraschen Schleswig-Holsteins sind. Wollte man also eine chorologische Karte der Anschreibebuchvorkommen nach den Veröffentlichungen zeichnen, so würde sich in erster Linie Forschertätigkeit und nicht Vorhandensein dieser Quellengruppe abbilden.

Bäuerlich-ländliche Schreibebücher kommen vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart vor. Ihr Erscheinen hat aller Erkenntnis nach einen deutlichen Höhepunkt im 19. Jahrhundert, was auf ganz verschiedene Faktoren (Schreibfähigkeit, Ausbildung, Ökonomisierung und Rationalisierung, auch Marktanbindung der Bauernstellen u.a.m.) zurückzuführen ist. Heute, da Bauern gezwungen sind, ihre Steuerklärungen alljährlich abzuliefern, da man also erwarten dürfte, dass Schriftlichkeit immer bedeutender wird, schreiben die Landwirte wieder viel weniger als früher und zumeist nur in den ersten Jahren nach ihrer Betriebsübernahme.

Was findet sich in ländlich-bäuerlichen Archiven? Neben Briefen, Einzelnotizen, Merkzetteln und Einzelurkunden (zumeist den Hofbesitzwechsel oder Landkäufe betreffend) kommen verschiedene Typen von Büchern vor:

- Tagebücher (mit täglichen oder in größerem zeitlichen Abstand eingefügten Eintragungen),
- Wirtschaftsbücher (die eigentlichen Anschreibebücher mit Einnahmen, Ausgaben, Krediten, Aussaat, Ernte, Viehbestand)
- Familienbücher (oft in sog. Familienbibeln eingeschriebene Genealogie, Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen)
- Merkbücher (mit chronikalischen, Wetter- und Klima-, Ernteterminaufzeichnungen und Notizen über besondere Ereignisse wie Krieg, Brand, Flut, Mord und Totschlag u.a.m.)
- Rezeptbücher (mit human- und veterinärmedizinischen Heilmitteln und deren Zusammensetzung, aber auch Holzschutz, Farbenmischungen u.a.m.)
- Briefsteller (mit Vorlagen zu Briefen an verschiedene Obrigkeiten, Liebesbriefen, Brautwerbungen, Liebesgedichten, Gevatternbriefen u.a.)
- Religionsbücher (mit Kirchenliedern, Predigtnacherzählungen, Glaubensreflexionen u.ä.)
- Gemeindebücher (Abschriften von Urkunden, Verhandlungen mit der Obrigkeit oder Nachbargemeinden, erinnernswerte Vorgänge, die der Nachwelt nützlich sein könnten u.a.)
- Recheneinschreibbücher (mit Rechenaufgaben - entweder die Lösung von Aufgaben aus gedruckten Rechenbüchern oder Abschrift von Aufgaben und Lösungen nach Vorbildern; sie treten in der Übergangszone von Landwirtschaft und Seefahrt an der Nordseeküste besonders stark auf - Steuermannsausbildung!)

Alle diese Typen sind fast nie "rein" zu finden, sondern allermeistens in Kombinationen. Das einmal begonnene Buch kann auch nach langer Zeit wieder hervorgenommen und einem bestimmten (neuen) Schreibzweck zugeführt werden.

Wofür lassen sich diese Quellen verwenden? In den bisher vier internationalen Konferenzen in Cloppenburg, Kiel, Stockholm/Julita und Kopenhagen sind verschiedene Aspekte der Nutzung der Schreibebücher überlegt worden. Man kann wohl folgende Hauptnutzungsmöglichkeiten angeben:

- Wirtschaftsgeschichte (Betriebswirtschaft, Marktanbindung, Innovationen)
- Mentalitätsgeschichte (Wahrnehmung, Einstellung, Reflexion)
- Alltagsgeschichte (Arbeit, Leben, Kleidung, Essen)
- Sozialgeschichte (Verhältnis der Klassen, Geschlechter und Generationen zueinander)
- Rechtsgeschichte (freiwillige Gerichtsbarkeit, Konflikte und Schlichtungen, Teilhabe an Rechtssprechung)
- Verwaltungsgeschichte (Herrschaft und Herrschaftspersonal, Handhabung von Verwaltung)
- Sprachgeschichte (Sprachwechsel und - wandel, Volkssprache und Hochsprache)
- Genealogie

Für die Innenansichten der agrarischen Gesellschaft auf der Ebene der Produzenten sind diese Quellen von zentraler Bedeutung. Vor allem deshalb hat Jan Peters mit seiner Anthologie "Mit Pflug und Gänsekiel" (2003) auf die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten ländlich-bäuerlicher Schreibebücher hinweisen wollen.

Die Mitarbeit in der Assoziation war zunächst - v.a. aufgrund des Interesses von Jan Peters und der dänischen Kollegen - gut. Sie wurde dann immer geringer. Schließlich bestritt der Autor die Hefte fast allein - und das war wegen des mikroregionalen Forschungsschwerpunktes dann für Forscher aus anderen Regionen nicht immer besonders erhellend. Es scheint deshalb geboten, die Anregungen, die durch die Bildung der Assoziation angestrebt wurden, für abgeschlossen zu erklären. Zu tun bleibt immer noch viel - etwa durch Erfassung und Registrierung ländlich-bäuerlicher Schriftgutkomplexe. Vielleicht ergeben sich hier Möglichkeiten im Rahmen der Stiftung "Agrarkulturerbe" 6. Man wird sehen, wie sich die bäuerlichen Schreibebücher im Konzert der popularen Schriftlichkeit weiter Gehör verschaffen und wie sie im kulturhistorischen Forschungsprozess als wichtige Quellen erkannt und genutzt werden.

Anmerkungen:
1 Teilnehmer waren: Jonas Berg (Stockholm, S), Wiebe Bergsma (Leeuwarden, NL), Maili Blauw (Leeuwarden, NL), Hidde Feenstra (Warffum, NL), Alexander Fenton (Edinburgh, GB), Gudrun Gormsen (Vinderup, DK), Esben Hedegaard (Odense, DK), Jens Holmgard (Viborg, DK), Lisbet Holtse (København, DK), Klaus-J. Lorenzen-Schmidt (Hamburg, D), Janken Myrdal (Stockholm, S), Helmut Ottenjann (Cloppenburg, D), Karl Peder Pedersen (København, DK), Jan Peters (Berlin, DDR) und Bjørn Poulsen (Flensburg, D).
2 Alte Tagebücher und Anschreibebücher. Quellen zum Alltag der ländlichen Bevölkerung in Nordwesteuropa, hrsg. v. H. Ottenjann u. G. Wiegelmann, Münster 1982:
3 Bäuerliche Anschreibebücher als Quellen zur Wirtschaftsgeschichte, hrsg. v. K.-J. Lorenzen-Schmidt u. B. Poulsen, Neumünster 1992; Peasant Diaries as a Source fort he History of Mentality, ed. By B. Larsson and J. Myrdal, Stockholm 1995:
4 Katalog ländlicher Anschreibebücher aus Nordwestdeutschland, hrsg. v. M.-L. Hopf-Droste, Münster 1989.
5 Bibliographie europäischer bäuerlicher Schreibebücher, zusammengestellt von K.-J. Lorenzen-Schmidt, in: Forschungen zu Bäuerlichen Schreibebüchern/Research on Peasant Diaries 16 (1999), S. 1-35. Noch greifbare Hefte von fbs/rpd können beim Autor angefordert werden.
6 Die Stiftung Agrarkulturerbe wird von der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft getragen und soll möglichst alle kulturellen Hinterlassenschaften der Landwirtschaft und der mit ihr eng verbundenen Gewerbe und Dienstleistungen dokumentieren. Dazu gehören in erster Linie dingliche Hinterlassenschaften wie Bauernhäuser, Mühlen etc., aber auch Schriftquellen. In einer ersten großen Anstrengung wird versucht, einen nationalen Überblick über das Erhaltene und zu Bewahrende zu erstellen.