Zwischen Ideologie und Ökonomie. Das Politikum der Ganztagsschule im deutsch-deutschen Vergleich (1945-1989)

Zwischen Ideologie und Ökonomie. Das Politikum der Ganztagsschule im deutsch-deutschen Vergleich (1945-1989)

Projektträger
Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam ()
Ausrichter
Ort des Projektträgers
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.12.2005 -
Von
Hagemann, Karen

Die Volkswagen-Stiftung bewilligte in diesem Jahr die Förderung eines dreijährigen Forschungsprojektes mit dem Titel "Zwischen Ideologie und Ökonomie: Das Politikum der Ganztagsschule im deutsch-deutschen Vergleich (1945-1989)" für drei Jahre. Das Projekt wird von Prof. Dr. Karen Hagemann (Technische Universität Berlin und University of North Carolina/Chapel Hill) und Prof. Dr. Konrad H. Jarausch (Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und University of North Carolina/Chapel Hill) geleitet und von der Historikerin Dr. Monika Mattes bearbeitet. Es ist angebunden an das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und eingebunden in eine internationale und interdisziplinäre Forschungsgruppe zum Thema "Das deutsche Halbtagsmodell: Ein Sonderweg in Europa? Eine Analyse der Zeitpolitiken öffentlicher Bildung im Ost-West-Vergleich (1945-2000)", die von Prof. Dr. Allemann-Ghionda (Pädagogisches Seminar der Universität Köln), Prof. Dr. Karen Hagemann (Projektleitung) und Prof. Dr. Konrad H. Jarausch durchgeführt und ebenfalls von der Volkswagen-Stiftung für einen Zeitraum von drei Jahren gefördert wird. Im Rahmen des Projekts werden ein interdisziplinärer Workshop mit internationaler Beteiligung in Potsdam (31. März - 1. April 2006) und eine wissenschaftliche Tagung in Köln (1.-3. März 2007) stattfinden.

Beide Vorhaben widmen sich mit der Ganztagsschule einem höchst aktuellen politischen Thema, dessen Diskussion sie historische Tiefenschärfe geben wollen. Die systematische Vergleichsperspektive wird die spezifische Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland erklären helfen und dadurch auch Hinweise darauf geben können, wo bei einer erfolgreichen Reform angesetzt werden müß-te.

Die Ganztagsschule ist heute in fast allen europäischen Ländern der Normalfall. Neuerdings steht sie auch in der Bundesrepublik auf der bildungspolitischen Agenda ganz oben, obwohl sie dort noch bis vor kurzem primär als Schule für "Problem- und Schlüsselkinder" galt. Das Angebot an ganztägiger Bildung und Betreuung, das die Bundesrepublik für Grundschulkinder bereitstellt, ist im internationalen Vergleich außerordentlich gering. Lediglich fünf Prozent aller Kinder im Grundschulalter besuchen derzeit eine Ganztagsschule, weitere fünf Prozent einen Hort. Dies erschwert es insbesondere Frauen, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren. Mit zunehmender Qualifikation entscheiden sich Frauen auch aus diesem Grund immer häufiger gegen Kinder. Erst die Sorge um die bevölkerungspolitische Entwicklung einerseits und um die Leistungsfähigkeit deutscher Schulkinder nach PISA andererseits hat in den letzten Jahren die Annäherung der bis dato sehr unterschiedlichen Positionen zur Ganztagsschule beschleunigt. Mittlerweile wird der Ausbau des Ganztagsangebots parteienübergreifend befürwortet. Der Weg von der politischen Absichtserklärung zur flächendeckenden Realisierung ist allerdings noch weit.

Die zeithistorische Studie über die Diskurse und Politiken zur ganztägigen Bildung und Erziehung von Schulkindern im BRD-DDR-Vergleich möchte die aktuelle bildungspolitische Diskussion durch eine historische Langzeitanalyse mit vergleichendem Blickwinkel vertiefen. Die systematische Vergleichsperspektive ermöglicht es, die spezifische Entwicklung der Bundesrepublik herauszuarbeiten. Dies bietet die Chance zu verstehen, welche politischen und kulturellen Faktoren in der Bundesrepublik den Ausbau des Ganztagschulangebots bislang blockierten.

Bundesrepublik und DDR, die nach 1945/1949 diametral entgegengesetzte Pfade bei der Gestaltung ihrer Bildungs-, Erziehungs- und Sozialsysteme einschlugen, teilten eine gemeinsame Tradition: die in der Weimarer Republik institutionalisierte Aufgabenteilung zwischen Staat, Gesellschaft und Familie, bei der Schulbildung als Staatsaufgabe und Kindererziehung als Elternpflicht definiert und ein öffentliches Erziehungsangebot nur für soziale Problemfälle vorgesehen war. Die Bundesrepublik knüpfte an dieses Modell an, dem das Ernährer-Hausfrau-/Zuverdienerin-Ideal zugrunde lag. Die DDR beschritt hingegen einen neuen Weg, der Kindererziehung offiziell zur Staatsaufgabe machte. In der Praxis blieb die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern trotz einer hohen Frauenerwerbsquote weitgehend unangetastet, so daß für die "staatssozialistische" Kleinfamilie vom "Zwei-Verdiener-Hausfrau/Mutter"-Modell gesprochen werden kann.

Im Westen wie im Osten Europas waren beide Staaten mit ihrer jeweiligen Ausgestaltung der Zeitstruktur des öffentlichen Bildungs- und Erziehungssystems einzigartig. In keinem anderen Land in Westeuropa außer in Österreich ist die Halbtagsschule heute mehr das dominante Modell - die Bundesrepublik hat hier seit den 1960er Jahren einen ‚Sonderweg' beschritten. Die DDR wiederum betrieb einen stärkeren Ausbau des ganztägigen Bildungs- und Betreuungsangebots für Kindergarten- und Schulkinder als jedes andere Land im ehemaligen Ostblock. Damit korrespondierten eine vergleichsweise hohe Erwerbsbeteiligung von Müttern in der DDR und eine eher niedrige, über Teilzeitarbeit allmählich steigende Erwerbsbeteiligung von Müttern in der Bundesrepublik.

Das Projekt untersucht die Ursachen für die weitreichenden Unterschiede, fragt aber auch nach systemübergreifenden Gemeinsamkeiten. Es analysiert, welche Faktoren bei der Ausformung der veröffentlichten und internen Diskurse und realisierten Politiken zur Ganztagsbildung und -erziehung in Ost und West wie und in welchen historischen Kontexten zusammenwirkten und nachwirkten. Dabei werden die historisch gewachsenen rechtlichen und organisatorischen Grundlagen des Erziehungs- und Schulsystems ebenso in den Blick genommen wie die kulturell jeweils vorherrschenden Konzepte von Bildung, Erziehung, Familie und der angemessenen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die gesellschaftlichen und politischen Interessengruppen in Bildungs- und Erziehungsfragen und nicht zuletzt die politik-, gesellschafts- und wirtschaftsgeschichtlichen Rahmenbedingungen der beiden deutschen Teilstaaten.

Das Forschungsvorhaben setzt zeitliche und regionale Schwerpunkte. Zeitlich widmet es sich ausführlich dem ersten Jahrzehnt nach 1945, das für beide deutsche Staaten eine Phase entscheidender Veränderungen darstellte, und den 1960er und 1970er Jahren, die in beiden Teilen Deutschlands durch einen Reformschub gekennzeichnet waren. Um regionale Differenzen und konkrete historische Kontexte genauer auszuleuchten, sollen für die föderativ strukturierte Bundesrepublik Fallstudien für die Bundesländer Bayern, Hessen und West-Berlin erarbeitet werden. Für die DDR wird neben der "Hauptstadt Berlin" die Region Sachsen exemplarisch untersucht.

In ihrer theoretischen Verortung und ihrem methodischen Vorgehen wird sich die Studie einerseits auf die sozial- und politikwissenschaftliche Debatte über "Geschlecht und Wohlfahrtsstaat" stützen, die vorrangig im angloamerikanischen und skandinavischen Raum stattfindet. Andererseits wird auf das Konzept der "Pfadabhängigkeit" zurückgegriffen. Dieses Konzept zielt darauf ab zu erklären, warum und aufgrund welcher Konstellationen sich in verschiedenen Gesellschaftssystemen politische und gesellschaftliche Lösungsmuster durchsetzen können.

Weitere Informationen zum Projektverbund und zum Programm von Workshop und Tagung finden sich auf den Websites www.zzf-pdm.de und www.time-politics.com.