U. Brunnbauer: Ideologie, Gesellschaft, Familie und Politik in Bulgarien

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Title
"Die sozialistische Lebensweise". Ideologie, Gesellschaft, Familie und Politik in Bulgarien (1944-1989)


Author(s)
Brunnbauer, Ulf
Series
Zur Kunde Südosteuropas II/ 35
Published
Extent
768 S.
Price
€ 69,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Rayk Einax, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Ulf Brunnbauer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der FU Berlin, bleibt Bulgarien auch mit seiner kürzlich veröffentlichten Habilitationsschrift treu. 1 Allerdings geht mit dem Wechsel zur sozialistischen Ära des Landes und seiner (schein-) modernen Gesellschaftspolitik eine Vermehrung der zu berücksichtigenden Akteure samt ihrer jeweiligen normativen Ansprüche sowie der statistischen Vergleichsmöglichkeiten einher. Einerseits gilt es, die politischen Strategien der KP-Funktionäre aufzuzeigen, die diese anwandten, um die von ihnen gewünschte Gesellschaftsordnung und -moral durchzusetzen. Andererseits soll die daraus resultierende Sozial- und Familienpolitik auf ihre "realsozialistische" Wirkungsmacht geprüft werden.

Eine umfangreiche Einleitung entfaltet die zentralen Themen und Fragestellungen. Ausgangspunkt ist das Primat der Partei als zentrale Machtinstanz nach 1944 und deren utopische Erwartungshaltung in Bezug auf eine umfassende gesellschaftliche Umwandlung, das heißt massive Eingriffe in bestehende Eigentumsverhältnisse, Industrialisierung, Modernisierung, eine neue Wirtschafts- und Arbeitsorganisation und die Revolutionierung der kulturellen Sphäre. Der "neue Mensch" sollte parallel dazu ein sozialistisches Gemeinschaftsleben entwickeln. Der Ursprung dieser Utopien war die Sowjetunion, in der führende bulgarische Kader die Zeit vor und während des Zweiten Weltkrieges im Exil verbracht hatten. Doch wie in der UdSSR war auch in Bulgarien das Ausgangsniveau für derartige Vorstellungen eher ungünstig. Durch eine intensive kollektive Erziehung, besonders der Arbeiterschaft, sollte dieser Mangel rasch behoben werden. Das wichtigste Instrument stellte hierbei die Familienpolitik dar, um nachhaltigen Einfluss auf die Privatsphäre, dem primären Ort der Auseinandersetzung zwischen Staatsdoktrin und individueller Lebensart, zu erlangen.

Demgemäß schildert Brunnbauer zunächst die Rolle der Ideologie und die strategische Adaption der darin geforderten Muster durch den bulgarischen Normalbürger, der damit Vorteile im Alltag zu erlangen hoffte. Was sich herausbildete war eine Art reglementierte kommunikative Interaktion zwischen Herrschenden und Gesellschaft zur Erlangung von Stabilität und Konformität einerseits, und ein Mittel der Interessendurchsetzung der damit Umworbenen andererseits. Da eine umfassende Kontrolle in modernen und komplexen sozialen Systemen nahezu unmöglich ist, wurden und blieben diffuse informelle Beziehungen grundlegend für realsozialistische Gesellschaften. Totalitarismusansätze erweisen sich damit für Bulgarien als obsolet und ein dichotomes Modell "Staat versus Gesellschaft" als unpräzise, wie der Autor hervorhebt (S. 29-47).

In den Vordergrund drängen Fragestellungen nach einer Interessenaustarierung im sozialistischen Staat und dem politischen Einfluss der Parteiherrschaft im Alltag einer Gesellschaft. Ideologische Konzepte und deren Umsetzungsversuche werden vom Autor analysiert, Akteure und Ergebnisse dargestellt. "Sozialistische Lebensweise" ist hier, vor allem als urbanes Phänomen, die Legitimierung staatlichen Eindringens in Alltagsgewohnheiten. Brunnbauer versucht sich also in einer Verbindung von Politik- und Gesellschaftsgeschichte und wirbt für Bulgarien als nahezu ideales Untersuchungsobjekt im Kreise der Ostblockstaaten. Gerade weil das Buch keinen historiographiegeschichtlichen Charakter beansprucht betritt es weitestgehend Neuland. 2 Die Vergleichsperspektive mit anderen realsozialistischen Staaten ist Brunnbauer zufolge nicht nur konzeptionell gewinnbringend, sondern auch auf Grund der bisherigen Forschungslücken zu Bulgarien notwendig, beschränkt sich im Buch aber weitestgehend auf statistische Gegenüberstellungen.

Die Kapitel eins bis fünf klären anhand von Fallbeispielen die ideologischen Prämissen und die manische Suche nach dem "neuen Menschen". Die aufgezeigten Appelle und Mobilisierungskampagnen hatten proletarisch-patriotischen Charakter und akzentuierten den Wert von "Arbeit" als Disziplinierungsmittel sowie als vorrangige Zielstellung eine sozialistische Arbeitsmoral unter den Werktätigen. Praktische Untersuchungsobjekte sind die bulgarischen Jugendbrigaden, die Errichtung der Stadt Dimitrovgrad und der Bau des Stahlwerkes Kremikovci. In den Blick rückt aber auch der gleichzeitig erfolgende soziale und wirtschaftliche Wandel in den bulgarischen Städten und Dörfern, der den propagandistischen Gehalt dieser sozialistischen Prestigeobjekte konterkarierte und andere Problemlagen umso dringender aufwarf.

Die Abschnitte sechs bis acht widmen sich der "sozialistischen Lebensweise". Die Partei und die Jugend- und Massenorganisationen, z.B. die hier umfassend dargestellte Vaterländische Front, visierten v. a. die privaten Lebensbereiche der Bürger an, um mit unerwünschten und hartnäckigen Alltagsgewohnheiten zu brechen. "Kultiviertheit" wurde ebenso erfolgsarm propagiert, wie auch der Versuch misslang, den zunehmenden Konsuminteressen der Bevölkerung zu entsprechen. Nicht einmal in den Reihen der Kommunistischen Partei, die 1984 circa 932.000 Mitglieder zählte (S. 375), gelang die vorbildhafte Durchsetzung moralischer Normen. "Die Politik der ‚sozialistischen Lebensweise' war daher sowohl Gesellschafts- als auch Sozialpolitik. Ihre zentrale Intention war, die sich herausbildenden neuen sozialen Realitäten mit den ideologischen Vorgaben des kommunistischen Menschenbildes in Einklang zu bringen, da sich diese Harmonie nicht automatisch hergestellt hatte." (S. 299) Relativ erfolgreich waren hingegen die patriotischen Impulse der Staatsführung, die die herrschenden Machtverhältnisse historisch legitimieren und bulgarischen Nationalstolz anfachen sollten.

Die Kapitel neun und zehn entschlüsseln die Gesellschafts- und Sozialpolitik. Analysiert werden das Verhältnis der Machthaber zu den Familien und die Bemühungen um erhöhten Kindernachwuchs. Die wichtigsten Aufgaben idealer Familien stellten die Zeugung und die sozialistische Erziehung der Kinder dar. Der soziale und demographische Wandel hatte aber auch zum Teil unerwartete Veränderungen zur Folge, so in Bezug auf die gesellschaftliche Rolle der Frau die Jugenderziehung und -ausbildung. In der bulgarischen Mangelgesellschaft behielten aber intensive Verwandtschaftsbeziehungen ihre hohe Bedeutung. Das Fazit des Autors lautet: das Ziel der Reproduktionspolitik - Nachwuchs vieler Arbeitskräfte und die Verhinderung einer Zunahme an muslimischen Minderheiten - wurde trotz einer geburtenfreundlichen Sozialpolitik unter anderem wegen des gleichzeitigen Wohnraumdefizits nicht erfüllt.

Brunnbauer versucht sich mit seinem Werk nicht zuletzt an einer Dekonstruktion der "sozialistischen Lebensweise", indem er die gesellschaftspolitischen Ansprüche der Apparatschiks an der bulgarische Realität der Jahre wischen 1944 und 1990 misst. Abschließend geht er daher auf die Frage ein, wie es zu der spürbaren Renaissance nostalgischer Erinnerungen an das sozialistische Regime in den 1990er-Jahren kam, welche doch augenfällig im Widerspruch zu den Ergebnissen des Autors stehen? Ein Aspekt stellt die Unsicherheit Einzelner im postsozialistischen Bulgarien angesichts einer zunehmend komplexer erscheinenden modernen Gesellschaft dar. Weiterhin gibt es eine Akzeptanz einzelner Werte der "sozialistischen Lebensweise", auch wenn deren Realisierungsversuche für den einzelnen wesentlich unangenehmer waren. Nonkonformes Verhalten oder "Eigensinn" 3 bedeutete aber nicht automatisch Widerstand, sondern hob sich vom alltäglichen Arrangement vieler ab. 4 Hinzu kommt, dass das Regime durchaus flexibel und sensibel regieren und bis in die 1980er-Jahre den Anschein von Stabilität und ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Zustimmung behaupten konnte.

Dem Buch ist zur Illustration reichlich Bild- und Datenmaterial beigegeben. Die statistische Einbettung in das sozialistische Lager dient der Orientierung ungemein, auch wenn der Autor das generelle Problem der Verlässlichkeit archivalischer und publizistischer Angaben einräumt. Einige Tabellen wirken deplaziert, da sie nicht direkt an den zugehörigen Text anschließen, sondern erst ein paar Absätze bzw. Seiten weiter hinten auftauchen. Die legislativen Grundlagen werden akribisch ausgearbeitet, ebenso zitiert der Verfasser aus einer Unmenge an bulgarischem Propagandaschrifttum. Hier hätten die Zitate ruhig in etwas abgekürzterer Form auftreten, der Sermon auf die charakteristischsten Passagen reduziert werden können, ohne ihn ganz so ernst zu nehmen. Dennoch: Eine so umfassende und klar strukturierte zeitgeschichtliche Studie aus dem Kreise der südostosteuropäischen Staaten hat nach wie vor Seltenheitswert.

Anmerkungen:
1 Vgl. Brunnbauer, Ulf, Gebirgsgesellschaften auf dem Balkan. Wirtschaft und Familienstrukturen im Rhodopengebirge (19./20. Jahrhundert), Wien 2004.
2 Vgl. zur Historiographie bzw. Landeskunde (dt. u. engl.): Grothusen, Klaus-Detlef (Hrsg.), Südosteuropa-Handbuch, Bd. 6: Bulgarien, Göttingen 1990; Brown, J. F., Bulgaria under Communist Rule, London 1970; Cramton, Richard J., A Short History of Modern Bulgaria, Cambridge 1989, S. 145-209; ders., A Concise History of Bulgaria, Cambridge 1997, S. 184-216 [2. Aufl. 2005]; ders.: Bulgaria. Oxford 2007.
3 Vgl. Lindenberger, Thomas, Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung, in: Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln 1999, S. 13-44.
4 Vgl. dazu auch: Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs. Zwischen partei-staatlicher Selbstinszenierung und kirchlichen Gegenwelten, hrsg. v. Gábor T. Rittersporn, Malte Rolf, Jan C. Behrends. Frankfurt am Main 2003.

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