Discourses of Collective Identity in Central and Southeast Europe

Trencsényi, Balázs; Kopecek, Michal (Hrsg.): Discourses of Collective Identity in Central and Southeast Europe 1770-1945 (Vol. II). National Romanticism - The Formation of National Movements. Budapest 2007 : Central European University Press, ISBN 963-7326-60-X 498 S. € 38,95

Trencsényi, Balázs; Kopecek, Michal (Hrsg.): Discourses of Collective Identity in Central and Southeast Europe 1770-1945 (Vol. I). Late Enlightenment - Emergence of the Modern "National Idea". Budapest 2006 : Central European University Press, ISBN 963-7326-52-9 351 S. € 33,95

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Nils Müller, Osteuropa Institut, Freie Universität Berlin

„Words have not the same value nor ideas the same content in Austria or Hungary as farther west“1, schreibt der britische Südosteuropahistoriker R.W. Seton-Watson 1918. In Ostmittel- und Südosteuropa scheint die Frage von besonderer Brisanz, was mit Ideen und Begriffen geschieht, wenn sie durch die Reisen Gelehrter, den Handel mit Büchern oder anderen Formen des seit dem 18. Jahrhundert beschleunigten kulturellen Austauschs überregional in Umlauf geraten. Denn durch die gängigen sozialhistorischen, normativ an der westeuropäischen Entwicklung orientierten Modelle einer „nachholenden Modernisierung“ dieser Gesellschaften schwingt die Unterstellung von „Zurückgebliebenheit“ der Region immer mit.

Der von Balázs Trencsényi (Budapest) und Michal Kopecek (Prag) herausgegebene Reader zu „Discourses of Collective Identity in Central and Southeast Europe (1770-1945)“, von dem die ersten zwei von vier Bänden vorliegen, spricht diese grundlegenden Fragen an: Sind Begriffe und Konzepte, die zwischen Baltikum und Balkan das kollektive Selbstverständnis prägen, etwas Anderes als (schlechte) Kopien westlicher Vorbilder? Aus solch einer transfergeschichtlichen Fragestellung erwächst dann automatisch eine weitere, die nur in vergleichender Perspektive zu beantworten ist, „the problem of similarities (or differences) in national developments within the region“ (Bd. I, S. 15). Gibt es eine einheitliche ostmittel- oder südosteuropäische Art der Diskursführung oder folgen die Debatten allesamt nationalen „Sonderwegen“? „We sought to challange the reductionist claims usually heard when talking about Central and Southeast Europe: namely, that all these cultures were either completely alike, simple variations on the same theme of peripheral nation-building, or completely untranslatable into each other’s terms, featuring a veritable Babylon of incompatible and mutually antagonistic narratives of identity.“ (Bd. I, S. 22)

In einem von Detailstudien, national begrenzten Fragestellungen und Vergleichen zwischen zwei Ländern geprägten Forschungsfeld nimmt die von einem guten Dutzend jüngerer Wissenschaftler seit 1999 erarbeitete Textsammlung eine einzigartige Position ein. Ihre weite Perspektive beeindruckt, nicht allein der vielen Sprachen wegen. In den vorliegenden Bänden zu „Late Enlightenment“ (Bd. I) und „National Romanticism“ (Bd. II) sind 111 Textstücke aus dem 18. und 19. Jahrhundert in englischer Übersetzung zusammengestellt, mit Kommentar und Kurzbiografie des Autors (und einer einzigen Autorin) versehen. Zumeist handelt es sich um Auszüge aus Monografien und politischer Publizistik, zum Teil aber auch um Poesie, Briefe, Proklamationen und Ähnliches.

Als dominante Identitätskategorie steht – kaum überraschend – die Nation im Zentrum der edierten Texte. „The main aim [...] was to confront ‚mainstream’ and seemingly successful national discourses with each other, thus creating a space for analyzing those narratives of identity which became institutionalized as ‚national canons’“ (Bd. I, S. 4). Gesellschaften, die in der Region nicht als staatsbildende Nationen auftraten wie Juden, Roma, Ruthenen, Armenier, Kurden, Siebenbürger Sachsen oder die Aromuren finden sich nicht im Reader; dies zum Teil aber auch „due to the lack of human or institutional resources needed to [...] on these cases“. (Bd. I, S. 4) Ausnahmen in diesem Sinne sind Texte zur „Österreichischen Gesamtstaatsidee“ (Autoren wie Joseph von Sonnenfels, Joseph von Hormayr oder Viktor von Andrian-Werburg), das Gülhane-Edikt von 1839, mit dem die osmanische Reformära des Tanzimat beginnt, Dokumente des Austroslawismus (Karel Havlícek Borovský oder eine dem entsprechende Lesart der Texte von František Palacký), sowie die Petition des mährischen Landtages an den Kaiser von 1848 gegen eine Vereinigung mit Böhmen – Dokument eines gegen den befürchteten Prager Zentralismus gewandten „Landespatriotismus“.

Den kanonischen Texten der nationalen Traditionen stehen auch einige seltener rezipierte oder politisch inopportune Dokumente zur Seite: Im ungarischen Fall etwa der lange marginalisierte, das Konzept der „politischen Nation“ ablehnende Lajos Macsáry; für Polen zum Beispiel Henryk Rzewuski, der Mitte des 19. Jahrhunderts das Recht auf Eigenständigkeit der polnischen Nation verwirkt sah, die Assimilation zu Russland empfahl, und damit wie zu erwarten heftigen Widerspruch provozierte. Die räumliche Abgrenzung orientiert sich an den gängigen Fachgrenzen von Ostmittel- und Südosteuropastudien, wie sie die doppelte Einleitung zum ersten Band wiedergibt (László Kontler zu „Central Europe“, Paschalis M. Kitromilides zu „Southeast Europe“). Eine Stärke der Textauswahl ist der gleichgewichtige Einbezug von osmanisch-türkischen sowie albanischen Texten. Die Übersetzungen sind – soweit sich das beurteilen lässt – gelungen, nur wenige ältere Übersetzungen wurden abgedruckt, darunter leider auch solche, die in sprachlicher Hinsicht ganz offensichtlich problematisch sind (Bd. II, S. 90ff.). Eine konsequente Beifügung originalsprachlicher Schlüsselbegriffe (wie in Bernard Bolzanos Text „Über das Verhältniß der beiden Volkstämme in Böhmen“, Bd. I, S. 236ff.) wäre angesichts allgegenwärtiger Begriffe wie „people“ oder „nation“ von Vorteil gewesen.

Das methodologische Grundgerüst der Buchreihe ist eine Kombination von Vergleichs- und Transfergeschichte. Auch die zeitgenössischen Autoren thematisieren die Spannung zwischen der Mobilität des Ideenguts und der erwünschten Einzigartigkeit der eigenen nationalen Kultur (aufschlussreich ist etwa der Essay von Maurycy Mochniacki, der 1825 diskutiert, ob Übersetzungen die eigene Sprache und Kultur bereichern oder eher in ihrer Entfaltung behindern). Dass die titelgebenden Begriffe „Collective Identity“ und „Discourses“ sehr offen gehandhabt werden, ist notwendige Voraussetzung für die Koordination einer größeren Forschergruppe. Dafür sind die Kommentare erkennbar vor dem gleichen methodischen Hintergrund verfasst und verweisen reibungslos aufeinander. Es herrscht ein „textualist approach, not without influence from those models that employ the methods of of literary studies in analyzing historical problems and texts. [...] Although we took the socio-cultural context into account, we did not seek to contruct it as a reality that exists beyond interpretation or outside the texts.“ (Bd. I, S. 10) Die Herausgeber forcieren damit eine methodologisch gründlich reflektierte Ideengeschichte, erkennbar an der „Cambridge School“ orientiert. Mit der nationalen „Höhenkammliteratur“, den großen Ideen großer Männer, gehen sie einen altbekannten Gegenstand von neuem an, aber ohne kultur- oder sozialgeschichtlichen Perspektiven mehr Raum zu geben.2

Deutlich wird, was die Bücher nicht sind und nicht sein sollen: Eine Quellenedition, die eine Beschäftigung mit den Originalen ersetzen könnte. Denn die Quellen sind in einem System zentraler Topoi der Nationalismusforschung geradezu orchestriert. Die Reihe ist als Reader konzipiert, als Lehrbuch, „ultimately meant for didactic use“ (Bd. I, S. 16). Dass die übersetzten Textauszüge meist nicht sehr lang sind (zwei bis drei Seiten), und der vorangehende, oft längere Kommentar die Stichwörter für die Textinterpretation liefert, bindet die Lektüre an die Vorannahmen der Herausgeber. Die Kapitel sind in relativ enge thematische Einheiten gefasst. Unvermeidliche Wiederholungen in den Kommentaren fallen nur auf, wenn man die Bücher am Stück liest, ermöglichen umgekehrt aber auch die Beschränkung auf einzelne Kapitel.

Der Reader funktioniert auf zwei Ebenen. In der Gesamtlektüre ergibt sich ein umfassendes Bild des Ideentransfers in Ostmittel- und Südosteuropa, von der Art einer Überblicksmonografie. Autorenbiografien und Kommentare zeigen die den Transfer strukturierenden Netzwerke auf. Kapitelweise gelesen, wie zum didaktischen Gebrauch wohl vorgesehen, bieten die „close readings“ verschiedener Textpassagen eine vergleichende Nationalismusstudie: Die Bedeutung der Volkssprache, die Erfindung von Traditionen oder die Nationalisierung des Raumes werden dicht an den Quellen aufgezeigt. Autoren verschwinden hier hinter den Texten, so dass sich Dositej Obradovic oder František Palacký sowohl unter den Aufklärern als auch den „Romantikern“ wiederfinden – eine plakative Zweiteilung in den Buchtiteln, die in der Form dem differenzierten thematischen Aufbau nicht entspricht, wie dies auch Miroslav Hroch in der Einleitung zum zweiten Band feststellt.

Die Herausgeber „resisted the temptation of creating a ‚Grand Narrative’ of how things happened in the region“ (Bd. I, S. 22). Dennoch entwickeln sie über die Präsentationsform einen bewusst gewichteten Gesamteindruck von den zu beschreibenden Prozessen. Seinem Wesen nach ein gemeinschaftsbildendes Projekt wird die Aufklärung als Ausgangspunkt für kollektive Identitäten betreffende Diskurse, für die Reflexion über Gesellschaftsbildung im Allgemeinen verstanden. Sehr anschaulich ist dazu Band I, Kapitel 3, „Creating an Enlightened National Public“. Aufklärerisches Ideengut wurde aus dem Westen in die Region importiert. Die meisten der Autoren haben ihre akademische Bildung im deutschsprachigen Raum oder in Westeuropa erhalten, sind gereist oder lebten im Exil. In der weiten Perspektive werden besonders die Bedeutung der Habsburger Serben für den serbischen Nationalismus, oder der polnische Emigration in Paris augenscheinlich. Das sind sicher keine neuen Erkenntnisse, ihre vorliegende Dokumentation aber ist beeindruckend. Interessant ist der hier angelegte Vergleich mit den kollektivbiografischen Eigenheiten der griechischsprachigen Gelehrtenschicht im Osmanischen Reich. Auch deren geografische Mobilität, in Kombination mit der Institutionalisierung bestimmter Orte als Zentren des Wissenstransfers (Istanbul oder die Donaufürstentümer im frühen 19. Jahrhundert), lässt sich leicht aus den Quellen und Kommentaren erarbeiten.

In der vorliegenden Konstellation gibt die Textauswahl den Transferprozessen eine Richtung. Alle vier der grob chronologisch geordneten Kapitel in Band I beginnen mit einem Text aus dem cisleithanischen Teil der Habsburgermonarchie, drei enden mit albanischen Texten, eines mit einem osmanisch-türkischen. Als Besonderheit bei der modifizierenden Aneignung westlicher Konzepte begegnet dem Leser das vergleichende Anlegen an die eigenen (historischen) Gesellschaftsstrukturen: In Ungarn und Polen führte das zum Beispiel zu einer Umdeutung der spätmittelalterlich-feudalen Staatskonzepte („politische Nation“ bzw. Rzeczpospolita) zu frühdemokratischen Gesellschaftsformen. Solche Ergebnisse bestätigen Jeno Szucs’ klassische Definition von „Ostmitteleuropa“, da er die Modifikation und Deformation westeuropäischer Strukturen als grundlegenden Charakterzug dieses historischen Raums versteht.3 Man darf gespannt sein, welchen Eindruck die vollständige Edition vermitteln wird. Die Bände 3 („Modernism“) und 4 („Antimodernism“) sind in Vorbereitung, eventuell wird für die Zeit nach 1945 ein fünfter Band erscheinen.

„Discourses of Collective Identity“ bietet eine eindrucksvolle Lektüre und sei auch solchen Lesern empfohlen, die sich jenseits der ostmittel-, südosteuropäischen „Area Studies“ für Nationalismusforschung interessieren. Für jene Regionalstudien bedeutet er einen gewichtigen Versuch, das Feld für eine kritische Ideengeschichte zurückzugewinnen, nachdem besonders für Südosteuropa ethnologisch-anthropologische, kultur- und sozialgeschichtliche Fragestellungen in letzter Zeit eine dominierende Stellung einnehmen. Ob der Reader über anglophone Inseln wie die CEU Budapest hinaus auch als Lehrbuch Verwendung finden wird, bleibt freilich abzuwarten.

Anmerkungen:
1 Zitiert nach Seton-Watson, Hugh and Christopher, The Making of a New Europe. R. W. Seton-Watson and the last of Austria-Hungary, Seattle 1981, S. 244.
2 Als Beispiel für eine kulturwissenschaftliche Transfergeschichte in diesem Themenfeld vgl. jüngst Petrov, Petar; Gehl, Katerina; Roth, Klaus (Hrsg.), Fremdes Europa? Selbstbilder und Europa-Vorstellungen in Bulgarien (1850-1945), Münster 2007.
3 Szucs, Jeno, The three historical regions of Europe. An outline, Budapest 1983.

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