Title
Japan in Asien. Geschichtsdenken und Kulturkritik nach 1945. Hrsg. und übers. von Wolfgang Seifert und Christian Uhl


Author(s)
Takeuchi, Yoshimi
Published
München 2005: Iudicium-Verlag
Extent
302 S.
Price
€ 28,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Hans Martin Krämer, Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Ostasienwissenschaften, Geschichte Japans

Der japanische Sinologe Takeuchi Yoshimi (1910–1977) scheint auf den ersten Blick nicht gerade ein nahe liegendes Objekt für eine deutsche Buchveröffentlichung zu sein. Zwar war er insbesondere in der frühen Nachkriegszeit einer der profiliertesten japanischen Intellektuellen, blieb jedoch der westlichen Japanforschung bis vor Kurzem eher unbekannt. Dass in den letzten fünf Jahren nicht nur zahlreiche japanische Veröffentlichungen, sondern auch auf Englisch und Deutsch zwei Monographien über Takeuchi und – inklusive des vorliegenden Bandes, der drei von Wolfgang Seifert (Heidelberg) und Christian Uhl (Leiden) übersetzte Essays beinhaltet – zwei Bände mit Übersetzungen von Aufsätzen Takeuchis erschienen sind 1, verdankt sich wohl zwei aktuellen Umständen. Der eine ist die Renaissance von Asien, insbesondere Ostasien, in der gegenwärtigen japanischen Kultur. Das in den letzten zehn Jahren sprunghaft gestiegene Interesse an China und Korea ist nicht zuletzt auf die gewachsene Bedeutung des wirtschaftlichen Austausches zwischen diesen Ländern und Japan zurückzuführen und hat sein Echo sowohl in den Niederungen der Populärkultur als auch in den Diskursen des Wissenschaftsbetriebes gefunden. Zum anderen hat die Herangehensweise des Postkolonialismus mit etwas Verspätung auch in Japan begonnen, in den Kultur- und Sozialwissenschaften ihre Spuren hinterlassen. Über die Beschäftigung mit Japans Rolle in Asien, inbesondere mit Japans kolonialer Vergangenheit in Korea und Taiwan und mit den Kriegshandlungen in China, hinaus widmet sich die (Geschichts-)Wissenschaft auch der Frage, welche Auswirkungen diese Vergangenheit auf Japan selbst hatte und hat.

Takeuchi nun, der sich nie mit deskriptiven Arbeiten über China zufrieden gab, sondern dem es häufig um die Bedeutung von China für die japanische Identität ging und der überdies ein eminent politisch denkender Mensch war, findet nicht nur Interesse, weil er als einer der ersten substanzielle Gedanken zum Verhältnis Japans und Chinas zueinander zu Papier gebracht hat, sondern auch, weil er in vielerlei Hinsicht zentrale Gedanken des Postkolonialismus vorweggenommen zu haben scheint. 2 Dies gilt insbesondere für seinen schon 1948 erschienenen und im hier besprochenen Band an erster Stelle abgedruckten Essay »Was bedeutet die Moderne? Der Fall Japan und der Fall China«. Ein Essay ist dies im besten Wortsinne: kaum ein Absatz, in dem der Autor nicht Zweifel an seinen eigenen Gedanken zum Ausdruck bringt oder bescheiden anmerkt, eigentlich sei er methodisch nicht geschult, die von ihm gestellten geschichtsphilosophischen Fragen zu beantworten. Er habe lediglich seine »literarische Intuition«, auf die er sich verlassen könne (S. 18).

Das zentrale Thema Takeuchis in "Was bedeutet die Moderne?" ist eine Bestimmung dessen, was Asien ist. Das moderne Asien sei durch das Eindringen Europas in Asien entstanden; umgekehrt aber habe Europa zur Selbsterhaltung der Selbstausdehnung nach Asien, der Europäisierung oder Modernisierung Asiens bedurft. Japan nun ist für Takeuchi zugleich das am meisten und das am wenigsten asiatische Land. Am meisten insofern, als eine typisch asiatische »Sklavenmentalität«, für die ein unvermitteltes Nebeneinander von Überlegenheitsgefühl und Minderwertigkeitsgefühl repräsentativ sei, in Japan am deutlichsten hervortrete. Am wenigsten aber in Hinsicht auf den Europas Fortschreiten entgegengebrachten Widerstand. Dieser bei Takeuchi zentrale Begriff kennzeichnet eine zentrale Verhaltensweise des modernen Asien, durch welche Europa erst zu Europa werde: "Anders als im Widerstand Asiens kann Europa sich nicht verwirklichen" (S. 23). Doch hierin unterschieden sich die Modernen Chinas und Japans: In Japan habe es keinen nennenswerten Widerstand gegen die europäische Moderne gegeben, kein Verlangen nach Selbsterhaltung. Somit sei Japan weder östlich noch europäisch: "Japan ist also überhaupt nichts" (S. 25). Diesem niederschmetternden Befund stellt Takeuchi die aus seiner Sicht positive Alternative der Entwicklung Chinas in der Moderne entgegen. In Japans "Musterschüler-Kultur" gelte es immer dem Neuen hinterher zu jagen und sich vom Bisherigen abzukehren, ohne doch innerlich bekehrt worden zu sein. Historisch habe sich diese Bewegung in der äußerlich erfolgreichen Meiji-Restauration von 1868 manifestiert, deren Erfolg eben durch den mangelnden Widerstand gegen die europäische Moderne erklärbar sei. Die chinesische Xinhua-Revolution von 1911 hingegen sei äußerlich gescheitert. Und doch habe es sich bei letzterer um eine echte Revolution gehandelt, in der das Prinzip des Widerstands deutlich zum Ausdruck gekommen sei.

Takeuchis Essay ist alles andere als klar und stringent: Allzu häufig wechselt er abrupt das Thema, allzu häufig weigert er sich, ein Problem klar zu bestimmen. Auch überträgt Takeuchi auf nicht immer ganz einsichtige Weise Erkenntnisse aus seinem eigentlichen Arbeitsgebiet, der Literaturwissenschaft, auf Politik und Geschichte. Man darf aber nicht vergessen, wie neuartig Takeuchis Hinweis auf China zum Entstehungszeitpunkt des Textes war. Zwar war China in der Phase um die Revolution 1949 in der japanischen Linken durchaus Gegenstand romantischer Überhöhungen, doch war es unerhört, wie radikal Takeuchi die Modernisierung Japans als Niedergang verurteilte und ausgerechnet die scheinbar so unordentlich und problematisch verlaufene Modernisierung Chinas als vorbildlich darstellte – mit dieser Sichtweise war Takeuchi zu seiner Zeit ein wahrer Pionier.

Dem Problem, wie Japan sich selbst zwischen Europa und Asien historisch positionierte und in der Gegenwart positioniert bzw. positionieren sollte, widmet sich Takeuchi auch in den beiden anderen für den vorliegenden Band übersetzten Essays. In "Die Überwindung der Moderne" aus dem Jahre 1959 analysiert Takeuchi das Verhalten der japanischen Intellektuellen im Zweiten Weltkrieg exemplarisch an dem seinerzeit viel beachteten und in Buchform veröffentlichten Symposium "Überwindung der Moderne", das 1942 abgehalten wurde. Takeuchi akzeptiert einerseits die gängige Deutung dieser Konferenz als geistige Wegbereiterin von Faschismus und Krieg, weist aber andererseits darauf hin, dass eine genaue Analyse des Denkens Anfang der 1940er-Jahre nötig ist, um die zeitgenössische Attraktivität dieser Ideen zu verstehen und einem Wiederaufkommen in der Gegenwart (also 1959) begegnen zu können.

Ohne Zweifel hätten sich die Teilnehmer des Symposiums mit ihrer Kritik an der europäischen Moderne und ihrer Bejahung des Krieges gegen die USA zu Handlangern des Staates gemacht. Die Reaktionen der Intellektuellen auf den Beginn des US-japanischen Krieges im Dezember 1941, einhellig von Begeisterung oder Erleichterung gekennzeichnet, zeigten aber, so Takeuchi, eine größere Komplexität der Einstellungen zu Europa. Erneut ist es der Hinweis auf Asien, der Takeuchi erlaubt, den Horizont gängiger historischer Urteile zu erweitern. Takeuchi führt die Schwäche des Widerstands gegen Krieg und Faschismus auf die "Doppelstruktur des Großostasiatischen Krieges" zurück. Diese Doppelstruktur habe darin bestanden, dass "die theoretische Grundlage des japanischen Führungsanspruchs [in Asien] sich aus nichts anderem herleitete, als aus dem europäischen Prinzip des Gegensatzes zwischen fortschrittlichen und unterentwickelten Ländern, während sich die Befreiungsbewegungen in den asiatischen Kolonien grundsätzlich gegen dieses Prinzip auflehnten und auch im Falle des japanischen Imperialismus nicht eigens eine Ausnahmen machten" (S. 88). Es sei dieser Zwiespalt, der den fatalen Weg Japans in den Pazifischen Krieg erkläre und die Zustimmung von Denkern zum Aggressionskrieg ermöglichte. Mehr noch, die einzige Möglichkeit, sich gegen den Krieg zu positionieren, habe nicht in einem bloß negierenden Pazifismus bestanden, sondern darin, eben in diese Doppelstruktur des Krieges einen Keil zu treiben. Das sei während des Krieges aber allenfalls von ganz rechts geschehen, von wo die Einstellung des Krieges gegen den asiatischen Bruder China und die Konzentration auf die wahren Gegner, Europa und die USA, gefordert worden seien.

Takeuchi führt die widersprüchliche Doppelstruktur der japanischen Außenpolitik und des politischen Denkens der japanischen Intellektuellen auf die frühe Meiji-Zeit zurück (also die Zeit zwischen etwa 1870 und 1890). Japan habe sich um die Revision der ihm von den westlichen Mächten aufgedrängten ungleichen Verträge bemüht, jedoch 1876 zugleich selbst Korea den Abschluss eines ungleichen Vertrages aufgenötigt (S. 104). Diesen kurzen Hinweis auf die frühen Wurzeln der Doppelstruktur griff Takeuchi selbst in dem dritten im vorliegenden Band übersetzten Beitrag, "Der japanische Asianismus" von 1963 auf. Wieder verfolgt er das Ziel, eine pauschal diskreditierte Denkrichtung differenzierter darzustellen. Die Geschichte des Asianismus in Japan lasse sich nicht auf seine Nutzbarmachung durch den Faschismus reduzieren.

Vielmehr ließen sich, obgleich eine echte Genealogie des Denkens über Asien in Japan nicht erkennbar sei, zahlreiche Vertreter eines differenzierten Asianismus in der Meiji-Zeit ausmachen. Kern des Takeuchi’schen Arguments ist der Hinweis darauf, dass es in der Meiji-Zeit durchaus einen nicht-aggressiven Asianismus gab, also zumindest in der politischen Praxis Einzelner Bemühungen identifizierbar seien, Korea oder China nicht aus Überlegenheitsgefühl, sondern aus Solidarität gegen den Westen beizustehen. Takeuchi ist hellsichtig genug, solche Bemühungen nicht zu idealisieren. Vielmehr wirft er ihnen Naivität vor, weil sie unwillentlich zum Wegbereiter der aggressiven Kolonialisierung Koreas und der japanischen Kriegshandlungen in China seit 1894 geworden seien. Dennoch betont Takeuchi, es sei erst in der zweiten Generation der Asianisten zu einer scharfen Trennung in links und rechts gekommen, wobei letztere Richtung den Sieg davon getragen haben. In der ersten Generation hingegen, während der 1880er Jahre, habe es diese Trennung noch nicht gegeben, weil die Ahnen der beiden späteren Richtungen in ihren progressiven innenpolitischen Einstellungen (Unterstützung der Bewegung für Freiheit und Volksrechte) und ihrem Engagement in Asien übereingestimmt hätten. Und obwohl er es nicht ausdrücklich so benennt, geht man wohl nicht fehl, wenn man zwischen den Zeilen liest, dass Takeuchi in den frühen Asianisten ein seltenes Beispiel für seinen emphatischen Begriff von Widerstand in Japan sieht. Immerhin sei "die Politik der Verwestlichung […] Geburtshelferin" des Asianismus gewesen (S. 141) und wünscht Takeuchi sich, die aktuelle Diskussion um einen "asiatischen Nationalismus" (also die von 1963) möge auf die Schriften der frühen Asianisten Bezug nehmen (S. 187).

Die Lektüre der Takeuchi-Texte ist nicht immer eine Freude. Mal ist seine Argumentation allzu sprunghaft, mal verliert er sich seitenlang in Details der Beziehungen einzelner Individuen aus der japanischen Geistesgeschichte untereinander (ein Grund, warum die Herausgeber dem Band ein über hundert Seiten dickes, ungemein nützliches Glossar, das vor allem aus biographischen Skizzen besteht, beigefügt haben). Doch ist die Lektüre zugleich höchst anregend. Dass Asien "vergessen" wurde, galt bis vor nicht allzu langer Zeit auch für Historikerinnen und Historiker der japanischen Neuzeit. Obschon Takeuchis Texte Beiträge zur politischen Diskussion der Nachkriegszeit waren, können sie auch heutigen Historikerinnen und Historikern der Vorkriegs- und Kriegszeit entscheidende Hinweise zum Verständnis der Außenpolitik des modernen Japan und vor allem der Einstellung Intellektueller zu dieser geben. Zugleich ist die Lektüre natürlich auch für eine Geistesgeschichte der frühen Nachkriegszeit in Japan von Interesse, zumal sie Einblicke gewährt in die Denkwelt des vielleicht einzigen prominenten Vertreters eines positiven Asienbildes aus dem nicht-marxistischen Lager der frühen Nachkriegszeit.

Dass sich die Lektüre des Bandes lohnt, liegt auch an der hervorragenden Arbeit der Übersetzer. Wie man es von Übersetzungen aus der Heidelberger Japanologie gewohnt ist, ist der deutsche Text nah am Original, ohne jemals künstlich zu wirken. Insbesondere die beiden Übersetzungen Uhls zeichnen sich überdies durch zahlreiche originelle Übertragungen aus, die den Text ungemein beleben. Die Auswahl der Texte macht vielleicht nicht jeden, der sich für die Geistesgeschichte des modernen Japan interessiert, glücklich, hat aber ihre innere Logik. Vom zentralen Thema der in sich widersprüchlichen Doppelstruktur der japanischen außenpolitischen Einstellungen seit der Meiji-Zeit (aus zivilisatorischer Überlegenheit hergeleitete Führungsmacht in Asien versus Vertreibung Europas und der USA aus Asien in Opposition gegen das Zivilisationsprinzip) her betrachtet, zeigen die drei ausgewählten Essays eine Progression von erster vager Konzeptualisierung über präzise Benennung bis hin zu genauer Untersuchung ihrer historischen Wurzeln.

Die vollständigen Werke Takeuchis, 1980 veröffentlicht, umfassen 17 Bände. Wer Takeuchi näher kennenlernen will, hat also ausreichend Möglichkeit, dies zu tun. Auch wer des Japanischen nicht mächtig ist, hat immerhin einen neu erschienenen Band mit Übersetzungen ins Englische zur Hand, der neben zwei der hier besprochenen Texte auch noch vier weitere – über Asien, Politik und Literatur sowie chinesische Literatur – bietet. Zu entdecken ist ein asiatischer Denker, der mit seinem einzigartigen Interesse an den kulturellen Grundlagen des asiatischen Regionalismus auch die heutigen Debatten über Regionalismus in China, Korea und Japan beeinflusst.

Anmerkungen:
1 Es handelt sich bei den Monographien um Uhl, Christian, Wer war Takeuchi Yoshimis Lu Xun? Ein Annäherungsversuch an ein Monument der japanischen Sinologie, München 2003; Calichman, Richard F., Takeuchi Yoshimi. Displacing the West, Ithaca 2004. Der neben dem hier zu besprechenden zweite Übersetzungsband stammt ebenfalls von Richard Calichman: What Is Modernity? Writings of Takeuchi Yoshimi, New York 2005.
2 Insbesondere Richard Calichman hat diese Dimension einer möglichen Interpretation Takeuchis stark gemacht. Vgl. meine Rezension seiner Monographie in: Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung 29 (2005), S. 281–286.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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