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Titel
Klassen-Bilder. Sozialdokumentarische Fotografie 1900-1945


Autor(en)
Stumberger, Rudolf
Erschienen
Konstanz 2007: UVK Verlag
Anzahl Seiten
288 S., 120 Abb.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rolf Sachsse, Hochschule der Bildenden Künste Saar, Saarbrücken

Rudolf Stumberger ist ein medientheoretisch profilierter Journalist in München, der mit der hier vorliegenden Arbeit 2005 am Gesellschaftswissenschaftlichen Institut der Universität Frankfurt am Main habiliert wurde. Seinem eigenen Anspruch nach ist das Werk „eine Geschichte der sozialdokumentarischen Fotografie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem Blickwinkel der Soziologie“ (S. 7). Über weite Strecken ist das Werk tatsächlich eine sehr gut geschriebene Einführung in diesen Themenkomplex, doch leider gibt es sowohl aus medienhistorischer wie aus methodischer Sicht einige Einschränkungen bei der Umsetzung des selbst gestellten Anspruchs.

Die so genannte sozialdokumentarische Fotografie half in den 1970er-Jahren das Fach Fotogeschichte zu konstituieren und hat jüngst eine neue Konjunktur erlebt. Zahlreiche kleinere Einzelstudien beleuchten Aspekte der fotografischen Darstellung von Armut und sozialem Kampf; eine Wiener Ausstellung widmete sich 2007 umfassend der „Entdeckung des Elends“1, und selbst eine lokale Sammlungspräsentation aus Dresden mochte 2006 nicht auf das Thema Sozialfotografie verzichten.2 Insofern ist es zu begrüßen, wenn Stumberger den erneuten Versuch einer zusammenfassenden Darstellung jenes Teils der Fotografiegeschichte unternimmt, der den französischen Medientheoretikern, über die er zuvor gearbeitet hat, mit Ausnahme von Pierre Bourdieu meist nur wenige Zeilen wert war. Sozialgeschichtlich mag er sich dieser Aufgabe auch deshalb gestellt haben, weil gerade im Deutschland der Weimarer Republik mit der Arbeiterfotografen-Bewegung ein historisch einzigartiges Phänomen der Selbstdarstellung von Arbeitern und Kleinbürgern aufgetaucht ist. Durchgängig und ganz richtig differenziert Stumberger zwischen den sozialen Bindungen der Aufgenommenen und der Fotografen sowie den Folgen dieser Differenz für die Abbildungsmodi dessen, was an Bildern – publiziert oder in Archiven – überliefert ist. Im ersten Teil der Arbeit stellt der Autor seinen methodischen Ansatz vor, den er mit dem Begriff „soziale Perspektive“ umschreibt; der zweite Teil ist eine Geschichte der sozialdokumentarischen Fotografie zwischen 1900 und 1945; im dritten und abschließenden Teil werden die konstitutiven Bedingungen sozialdokumentarischer Fotografie untersucht, woraus auf die „visuelle Konstruktion des Sozialen“ (S. 217) geschlossen wird.

Methodisch beruft sich Stumberger zunächst ganz auf Bourdieu und dessen Untersuchungen zur Trias von Fotografiertem, Fotograf und abwesendem Dritten aus Normen, Werten und Vorurteilen, die in das Bild einfließen. Dieses Dritte möchte der Autor aus der Soziologie heraus erfassen, um von der – seiner Meinung nach – zu stark kunstwissenschaftlich geprägten Fotohistoriografie der sozialen Dokumentation wegzukommen. Allerdings führt ihn diese berechtigte Intention auf die Abwege einer arg symbolbeladenen Metaphorologie, sowohl was den Gegenstand angeht – etwa bei der Darstellung einer Unternehmer-Bildserie des Fotografen Josef-Heinrich Darchinger (S. 23) – als auch im Hinblick auf den materiellen Zustand der Fotografie, die im Original „eine eher armselige Existenz“ führe; leider führt er nicht aus, was er damit meint (S. 27). Hier ist die Unentschiedenheit eines aktiven Fotografen zu verspüren, der das Ende seines Mediums als eines mechanischen Weltdarstellungsinstruments kennt und selbst im historischen Rückblick nicht auf die Unmittelbarkeit des engagierten Eingriffs in die Wirklichkeit als teilhabender Beobachter verzichten möchte, den es in der digitalen Bildproduktion qua Definition nicht mehr geben kann – möglicherweise ist der von Stumberger angekündigte zweite Band zur Sozialfotografie zwischen 1945 und 2000 in dieser Hinsicht erhellender. Die selbstgestellte Aufgabe einer „generelle[n] Analyse der Produktion, Zirkulation und Konsumtion visueller Bilder von sozialen Formationen“ (S. 37) ist unter Verzicht auf ästhetische Kritik kaum zu leisten. Wenig hilfreich erscheint hier auch der Rückgriff auf den stark symbolischen Begriff der Klasse als Beschreibungskategorie für die Abgebildeten.

Der weitaus größte Teil der Arbeit ist eine Darstellung der sozialdokumentarischen Fotografie im frühen 20. Jahrhundert. Hier beansprucht der Autor selbst keine neue empirische Forschungstätigkeit, sondern fasst ein rundes Dutzend Werke aus der Fotogeschichte zusammen, die allerdings fast durchweg in den 1970er-Jahren erschienen sind und aus der Feder von parteilich engagierten Autoren stammen. Allein in den sehr gut dokumentierten Fällen der Arbeit von Lewis Hine und der Farm Security Administration in den USA sowie der fotografischen Propaganda in der Sowjetunion scheint eine gelegentliche Kritik am sonst oft naiv vorgetragenen Glauben der Weltverbesserung durch die fotografische Dokumentation auf. Als Literaturbericht ist dieser Teil der Arbeit für heutige Leser wohl der wertvollste des ganzen Buchs; allerdings mindern zwei gravierende Fehlstellen die Nützlichkeit: Zum einen ist die Geschichte der britischen Sozialfotografie und vor allem des sozialdokumentarischen Films zwischen 1880 und 1945 kaum rezipiert, obwohl beides etwa im Werk von John Tagg exzellent analysiert worden ist3 und auch in der erwähnten Wiener Ausstellung zu Recht eine Hauptrolle spielte. Zum anderen reißt die Darstellung der deutschen Verhältnisse und Aktionen unvermittelt mit dem Jahr 1933 ab und geht mit keinem Wort auf die Übernahmestrategien der NS-Machthaber bezüglich der sozialdokumentarischen Amateurfotografie ein. August Sander mit seinen immerhin schon 1927 erstmalig publizierten Aufnahmen als einzigen Exponenten der 1930er-Jahre vorzuführen, dazu in sträflicher Verkürzung seines Lebenslaufes und ohne Hinweis auf die gut untersuchten soziologischen Implikationen des Sanderschen Konzepts, ist dann schon mehr als nur ärgerlich (S. 149f.). Parallele Porträtbildreihen-Produzenten wie Helmar Lerski oder die um 1930 wieder einsetzenden Demonstrationen sozialhygienischer Errungenschaften in der Industriefotografie – die um 1900 schon einmal zu sehen waren – werden ebenfalls nicht berücksichtigt.

Der dritte Teil des Buchs mag als der genuin sozialwissenschaftliche bezeichnet werden, auch insofern, als bei einem klassifizierenden Schema von Abgebildeten, Abbildenden, möglichen Betrachtern und deren ideologischem Hintergrund auf die Bedeutung historischer Chronologie verzichtet wird. Die schon für Bourdieus Forschungen auf diesem Gebiet bedeutsame semiologische Trias von Pragmatik, Syntaktik und Semantik wird hier auf die Visualisierung von Klassen durch sich selbst und andere Klassen angewandt, wobei gerade für den politischen Kontext der 1930er-Jahre sowohl in den USA als auch in der Sowjetunion zu wenig zwischen den Fotografen und ihren auftraggebenden Institutionen unterschieden wird. Für die Darstellungsmodi der Abgebildeten entwirft Stumberger ein sehr originelles topologisches Modell (S. 174f., S. 182), das methodisch auf Ideen der Visual Anthropology aufsattelt. Doch statt dieses Modell historiografisch nutzbar zu machen, um die stets mangelnde soziale Verortung von Unterprivilegierten zu verdeutlichen, flieht Stumberger in die umfassende Schilderung von drei Bildserien, die letztlich eine Stereotypenbildung befördern. Was in diesen Analysen präsentiert wird, ist dann auch nichts anderes als ein kunstwissenschaftlicher Diskurs aus einfach strukturierten Bildanalysen (S. 182-196). So mag es nicht verwundern, wenn das Resumée der Arbeit die Feststellung ist, dass die sozialdokumentarische Fotografie „die Abschaffung und Überwindung der dargestellten Verhältnisse zum Zweck hatte“ (S. 221) – davon allerdings, dass ein illusionistisch Welt verdoppelndes und damit gegenaufklärerisches Medium wie die Fotografie gerade durch das Abbilden seine Objekte kanonisiert, wird leider wenig deutlich.

Das Buch ist exzellent geschrieben, stilistisch eine Freude zu lesen. Die grafische Ausstattung ist dagegen beklagenswert: lange Zeilen in langweiliger Standardtypografie, ein schlecht gedruckter Abbildungsteil im Anhang, mit Wechseln zwischen Hoch- und Querformat sowie unübersichtlichen Bildunterschriften. An dieser Stelle schließen Verlag und Autor ungewollt einen Kreisbogen mit den viel zitierten Werken aus den 1970er-Jahren; auch diese waren allesamt von grauenvoller Druckqualität. Am Ende bleibt der Eindruck einer hoch ambitionierten Arbeit mit großer Empathie für den Gegenstand, die jedoch ein wenig abseits der fotogeschichtlichen Scientific Community entstanden zu sein scheint.

Anmerkungen:
1 Schwarz, Werner Michael; Szeless, Margarethe; Wögenstein, Lisa (Hrsg.), Ganz unten. Die Entdeckung des Elends, Wien 2007.
2 Hesse, Wolfgang; Schumann, Katja (Hrsg.), Mensch! Photographien aus Dresdner Sammlungen, Marburg 2006.
3 Tagg, John, The Burden of Representation. Essays on Photographies and Histories, Basingstoke 1988.

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