Wie kommt man dazu, sich individuell und kollektiv in eine vergangene Zeit zurückzuversetzen? Was unterscheidet die selbstgemachte Zeitmaschine der Sixties-Szene von jener der Menschen, die in ihrer Freizeit oder im Fernsehen in die „Geschichte“ reisen? Was motiviert ihre mühevollen, zeit- und manchmal kostenaufwändigen historischen Selbst-Inszenierungen, wie sie Heike Jenß in ihrer kürzlich erschienenen Dissertation sehr präzise beschrieben hat? Die Arbeit entstammt einem textilwissenschaftlichen Diskussionszusammenhang, ist aber für Historikerinnen und Historiker ebenso aufschlussreich.
Es beginnt mit der Musik der 1960er-Jahre. Es setzt sich fort mit dem bewussten, kreativen Bezug auf Kleidung und Mode sowie auf Alltagskultur – wie Möbel, Teppiche, Tapeten, Design und Einrichtungsgegenstände im weiteren Sinn. Diese möglichst authentische, kenntnisreiche und bewusst stilisierte Verwendung von originalen oder nachempfundenen Kleidungsstücken befreit die Sixties-Stylistinnen und Stylisten vom aktuellen Druck der saisonal wechselnden Mode. Sie schafft einen „beständigen Rahmen und ‚Ruhepol’, [...] innerhalb dessen man sich bewegen und mit der historischen Mode individuell experimentieren kann“ (S. 344). Es geht somit in erster Linie um die Schaffung einer individuellen und zugleich innerhalb der Szene überprüfbaren, durch Kleidung bezeichneten Identität, die sich scharf gegen die Außenwelt abgrenzt, welche stärker den wechselnden Vorgaben der Modeindustrie ausgesetzt ist.
Dabei zeigen die Sixties-AnhängerInnen kein mangelndes kritisches Zeitbewusstsein. Selbst wenn sie möglichst viele originale oder nach Original-Schnitten genähte Kleidungsstücke besitzen, bei ihren Partys eine „authentische“ Atmosphäre schaffen oder sich zuhause gern mit Designmöbeln und Accessoires der 1960er-Jahre umgeben, ist ihnen dennoch bewusst, dass es sich dabei nur um eine Neuschaffung des Stils, des Gefühls handelt und nicht um die Vergangenheit selbst. Die Sixties-Stylisten schaffen sich die Sechziger ganz bewusst nach eigenen Vorstellungen. „Aber ich wollte nicht gern in den Sechzigern leben“, gibt ein interviewter Protagonist unumwunden zu. „Du wärst nicht so mobil [und] hättest wahrscheinlich nicht so viele Möglichkeiten gehabt. Nee, ich find’s heute viel besser.“ (S. 281) Dennoch gelten für viele, natürlich nicht nur für die engeren Anhänger der Szene, die 1960er-Jahre nach wie vor als „Jahrzehnt der großen Visionen, des Engagements, für so viele Sachen“ (S. 279). Es geht ihnen weniger um Nostalgie als vielmehr um „Reflexion auf die Heterogenität der Gegenwart“ (S. 280), wie Jenß schreibt. Die Modestücke finden Verwendung als Geschichtsfragmente.
Das Buch „Sixties Dress Only“ ist äußerst anregend, gerade für die Geschichtswissenschaft. Denn es bietet eine ganze Fülle bisher – zumal in der Zeitgeschichte – sehr wenig genutzter Perspektiven und theoretischer Ansätze, die sich mit der Kommunikation mittels Kleidung und Körperlichkeit beschäftigen. Es gliedert sich in vier Teile. Einer mit „Vorgeschichte“ betitelten ausführlichen theoretischen und methodischen Einleitung folgt ein zentrales Kapitel, das sich mit der „Mod(e)geschichte“ einer in England entstandenen Jugendkultur befasst. Vor allem in den Boutiquen der Londoner Carnaby Street traten die „Mods“ (von „modern man“) als Pioniere dieser sich an Musik und Mode orientierenden Subkultur der 1960er-Jahre zunächst auf. Einzelne Elemente dieser modernen Dandy-Bewegung, die inmitten der working class entstand, breiteten sich in England rasch aus. Schon bald griff die Kultur- und Modeindustrie dies auf. Der Stil gewann international durch Magazine, Fernsehen oder Radio an Einfluss.
Die Mods stellten zugleich das Ideal dar, an dem sich die Retro-Bewegungen seit Ende der 1970er- und dann noch einmal Ende der 1990er- Jahre orientierten. Diesen Retro-Geschichten ist das dritte Kapitel des Buches gewidmet. Dort schildert die Autorin, wie durch Bands („The Jam“ und – bezeichnenderweise – „Style Council“) und vor allem den Film „Quadrophenia“ Wissen über die Mod-Szene der 1960er-Jahre erneut bekannt gemacht wurde. An den Rändern der Punk-/New-Wave-Bewegungen wurde dies aufgegriffen bzw. zur weiteren Differenzierung verwendet.
Im letzten Teil des Buches, einem vor allem auf qualitativen Interviews und teilnehmender Beobachtung basierenden Kapitel, beschreibt Jenß ausführlich Denk- und Handlungsweisen der deutschen Sixties-Szene am Anfang des 21. Jahrhunderts. Die nunmehr dritte Welle einer sich auf die Mods beziehenden Szene unterscheidet sich wiederum deutlich von den ersten beiden Erscheinungsformen. Es handelt sich um eine sehr mobile, in ganz Europa sich treffende und austauschende Bewegung. Jenß versucht in diesem Kapitel die Aneignungsgeschichten zu rekonstruieren – wie man in die Szene kommt, wie und wo die Kleider besorgt werden (vom Flohmarkt bis zum Internet), was die Szene zusammenhält bzw. entzweit. Sie zeigt, welche Bedeutung Geschlechterunterschiede besitzen – keine unwichtige Frage, haben sich doch die Original-Mods durch demonstrative „Feminisierung“ (Frisur, Kleidung) gegenüber ihrer proletarischen Umgebung abgehoben und zugleich die weiblichen Mitglieder abgewertet. Deutlich wird auch, wie sich das Tragen der Kleidung aus den 1960er-Jahren von dem Tragen heutiger Mode unterscheidet. Hier erfährt man etwa, dass die früheren Stoffe sehr viel dicker und steifer waren, den Körper stärker formten, während heutige Stoffe sich stärker an den Körper anschmiegen. Daraus entstehen ganz unterschiedliche Körpererfahrungen und -wahrnehmungen.
Das Buch leuchtet die Retro-Szene und ihre historischen Vorläufer in vielerlei Hinsicht aus. Zugleich ergeben sich viele Fragen, die im Buch nicht berücksichtigt werden konnten, sondern eher als Anregung für weitere Forschung zu verstehen sind. Sehr spannend wäre eine vergleichende Betrachtung der verschiedenen Szenen. So werden Orte in England, Italien oder Spanien als Treffpunkte erwähnt, aber es wird nichts über die Unterschiede zwischen den dort ansässigen Szenen gesagt. Was bedeutet die heutige Transnationalität der Szene? Auch die zahlreichen Bilder, es sind genau 100, werden nur teilweise in die Erzählung des Buches eingebaut; meistens stellen sie lediglich Illustrationen dar. Hier könnte man die gewonnenen Erkenntnisse ebenfalls noch vertiefen.
Doch zunächst gilt es für die Zeithistoriker, die ästhetische und sinnliche Welt des Alltags überhaupt erst einmal wahrzunehmen. Heike Jenß’ hervorragende Dissertation kann hierbei als Einführungslektüre dienen.