S. Zankel: Mit Flugblättern gegen Hitler

Cover
Titel
Mit Flugblättern gegen Hitler. Der Widerstandskreis um Hans Scholl und Alexander Schmorell


Autor(en)
Zankel, Sönke
Erschienen
Köln 2008: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
594 S.
Preis
€ 64,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Kißener, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Eine neue Gesamtdarstellung der Geschichte der studentischen Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, die die vielfältigen neuen Forschungsansätze der vergangenen Jahrzehnte aufnimmt und verarbeitet, wird seit langem erwartet. Und schon seit langem hat der Autor des hier anzuzeigenden Werkes, Sönke Zankel, angekündigt, dass er diese nicht einfache Arbeit leisten will.

Was in seinem weit über 500 Textseiten umfassenden Buch „Mit Flugblättern gegen Hitler“ nun vorgelegt wird, kann vom Umfang wie von der Perspektivenvielfalt her wahrlich den Anspruch einer Gesamtdarstellung erheben. Zankel setzt biographisch an und stellt dem Leser zunächst die Mitglieder der „Weißen Rose“ vor, allerdings wenig glücklich eingeteilt in „Protagonisten“ und „Sekundanten“. Sodann werden die Mentoren der Gruppe und die geistigen Prägungen der studentischen Widerständler behandelt. Ab dem vierten Hauptkapitel steht das Geschehen selbst im Mittelpunkt, das in eine Art Entwicklungsphase und eine ab November 1942 datierte Radikalisierungsphase untergliedert wird. In den letzten drei Kapiteln des Buches wird der Blick auf die Verfolger gerichtet und sowohl die Gestapo-Arbeit analysiert wie auch das Tun des Volksgerichtshofs berücksichtigt. Lobenswert ist insbesondere, dass Widerstandsaktivitäten in der Nachfolge der „Weißen Rose“ ebenfalls nicht vergessen werden und heikle Fragen wie das Verhältnis der „Weißen Rose“ zur Verfolgung der Juden nicht ausgespart bleiben.

Zankel hat zur Bearbeitung all dieser Themen mit beeindruckendem Forscherfleiß eine Menge bisher unbekanntes oder vernachlässigtes Quellenmaterial aus Privatnachlässen, aber auch aus unbeachtet gebliebenen staatlichen Provenienzen zusammengetragen und damit die „Arbeitsgrundlage“ der Forschung zur „Weißen Rose“ beachtlich erweitert. Dies bleibt ein anerkennenswertes Verdienst.

Liegt damit nun die erhoffte moderne Gesamtdarstellung der Münchner Widerstandsgruppe vor? Nach meinem Eindruck nicht. Hätte der Autor auf der Grundlage seiner so umfänglichen Recherchen und auf dem Fundament aufbauend, das viele vor ihm gelegt haben, seine Arbeit entwickelt, so wäre vermutlich ein Referenzwerk entstanden, das für lange Zeit Ausgangspunkt jeder weiteren Arbeit über die „Weiße Rose“ geworden wäre. Doch das war Zankel offensichtlich nicht genug – vielleicht auch deshalb, weil er in diesem Falle, anders als es sein Buch suggeriert, hätte zugeben müssen, dass sich manche geradezu brennende Frage nicht mehr beantworten lässt, weil eben die Quellen für eine wissenschaftlich verantwortbare Aussage fehlen.

Zankel will die „Weiße Rose“ mit einem umfassend neuen Interpretationsansatz von einem Sockel herunterholen (S. IX), auf dem sie allerdings spätestens seit der Forschung der 1990er-Jahre nicht mehr steht. Folglich muss er sie zunächst einmal umständlich auf diesen Sockel wieder hinaufbugsieren, indem er die bisherige Forschungsarbeit ohne jedes vernünftige Maß kritisiert und so defizitär, manchmal sinnentstellend zitiert, dass genügend Raum für eine angeblich notwendige Richtigstellung und Neuinterpretation geschaffen ist. Es kann jedem Leser nur empfohlen werden, die von Zankel heftig kritisierten älteren Arbeiten – und das sind fast alle – nach wie vor zu studieren, um sich selbst ein realistisches Bild der Forschungslage zu verschaffen.

Sodann wird ein angeblich unheilvoller Einfluss der Zeitzeugen auf das Bild der „Weißen Rose“ konstatiert, dem in dieser Arbeit durch eine rigorose Ausrichtung an den schriftlichen Quellen, insbesondere den Verhörprotokollen der Gestapo, entgegengewirkt werden soll, um so zu einer wissenschaftlich angeblich höherwertigen Neuaussage zu gelangen (S. 26). Jeder Zeithistoriker weiß um die Problematik der Zeitzeugenerinnerung, jeder gute Zeithistoriker weiß aber ebenso um die Lückenhaftigkeit der Überlieferung und die Problematik auch schriftlicher Quellen. Wer den Anspruch erhebt, valideres Quellenmaterial zu nutzen, muss deshalb bei jeder Quelle und in jedem Einzelfall fundierte Quellenkritik üben – doch die sucht man bei Zankel in concreto vergebens. Das hat bedenkliche Folgen: So hält er zum Beispiel ein positives politisches Zeugnis eines hohen Saarbrücker NS-Funktionärs über Willi Grafs Vater Gerhard, das dieser in seiner Verzweiflung zur Unterstützung eines Gnadengesuchs für seinen Sohn erbeten hatte, für valider zur Einschätzung der politischen Grundeinstellung von Gerhard Graf als das differenzierte Urteil der eigenen, damals schon erwachsenen Tochter Anneliese (S. 116). Anders als Zankel meint, sind solche „Zeugnisse“ in der deutschen Widerstandsgeschichte keineswegs außergewöhnlich, und sie taugen kaum, um die politische Haltung eines Menschen präzise zu bestimmen.

Wirklich problematisch wird Zankels „Neubewertung“ am Ende dadurch, dass er dem Leser zu suggerieren versucht, seine intensive Quellenrecherche ermögliche eine weitgehend detailgetreue Rekonstruktion des Geschehens um die „Weiße Rose“. Dass dies schon aus geschichtstheoretischen Gründen nicht möglich ist, lernt jeder Geschichtsstudent im ersten Semester. Zankel versucht es dennoch, indem er die gar nicht zu übersehenden Lücken im Quellenbestand mit Annahmen füllt, die mögliche historische Konstellationen beschreiben. Aus dem Denkmöglichen wird allzu rasch Wahrscheinliches konstruiert, das am Ende als Erkenntnis ausgegeben wird, auf der die weitere Argumentation aufbaut. Sogar das argumentum ex silentio wird bemüht, um so vorgehen zu können. Weil die Verhafteten zum Beispiel ausweislich der Verhörprotokolle nicht mit der Gestapo um die „Judenfrage“ stritten und in den Tagebüchern und Briefwechseln der widerständigen Studenten das Thema kaum aufgegriffen wurde, sei als „Befund zu konstatieren“, dass die „Weiße Rose“ desinteressiert gewesen sei an der Judenverfolgung (S. 500).

Doch damit nicht genug: Zwar ist bekannt, dass das zweite Flugblatt der „Weißen Rose“ sich gegen die Verfolgung der Juden und die Vernichtung der polnischen Intelligenz gewandt hat – ein bemerkenswerter Vorgang in der deutschen Widerstandsgeschichte, den es angemessen zu würdigen gilt. Doch das genügt Zankel nicht. Als gleichsam verspäteter Gutachter der Flugblattproduktion der „Weißen Rose“ fragt er kritisch, warum die Judenverfolgung nur einmal angeprangert wurde, warum nicht auch in den auflagenstärkeren Flugblättern vier und fünf. Dass das nicht mehr veröffentlichte sechste Flugblatt von Christoph Probst dann wieder Klage erhob gegen die Judenverfolgung, will Zankel nicht gelten lassen, denn darüber sei – ohne dass dafür Beweise vorgelegt werden könnten – in den Reihen der „Weißen Rose“ nicht mehr diskutiert worden. Ohnehin sei die Gruppe weltanschaulich heterogen zusammengesetzt gewesen – womit wieder insinuiert wird, dass nicht alle Mitglieder der „Weißen Rose“ die Judenverfolgung abgelehnt hätten. Zusammen mit der Beobachtung, dass nur die Ermordung der polnischen Juden in den Flugblättern kritisiert worden sei, ergeben sich nach Zankels Meinung starke Anhaltspunkte für die dem Leser schließlich als Gewissheit nahegelegte Vermutung, Hans Scholl und Alexander Schmorell seien im Grunde auch antisemitisch eingestellt gewesen, hätten sich nicht gegen die Judendiskriminierung im eigenen Land gewandt, sondern „lediglich“ die Ermordung von Juden in Polen kritisiert (S. 500-503).

Solche abenteuerlichen Konstruktionen, die in Zankels Arbeit nicht die Ausnahme, sondern die Regel darstellen, entwerten bedauerlicherweise die anerkennenswerte Rechercheleistung.1 Sie produzieren am Ende Bilder und Anschauungen von der „Weißen Rose“, für die es bei genauem Hinsehen eben doch keine hinreichenden Quellenbelege gibt. Deshalb wird die Forschung wie die interessierte Öffentlichkeit weiter auf eine sachadäquate Gesamtdarstellung der „Weißen Rose“ warten müssen. Das dürfte länger dauern, denn dazu gilt es nun wieder Zankels Bild von der „Weißen Rose“ zurechtzurücken.

Anmerkung:
1 Einen ähnlich zwiespältigen Eindruck hinterließ bereits Zankels schmaleres Vorgängerbuch: Die „Weisse Rose“ war nur der Anfang. Geschichte eines Widerstandskreises, Köln 2006 (rezensiert von Jakob Knab: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-085>).

Kommentare

Von Zankel, Sönke26.08.2008

Zu Michael Kißeners Rezension vom 22. Juli 2008 meines Buches „Mit Flugblättern gegen Hitler“ (<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-3-049>) möchte ich einige Punkte anmerken:

1. Kißener kritisiert, dass ich meine Arbeit „rigoros“ an schriftlichen Dokumenten ausrichten würde, dass jedoch die entsprechende Quellenkritik fehle. Um nur ein Beispiel zu nennen: Auf fast zehn Seiten (S. 416ff.) widme ich mich mit verschiedenen Zugängen der Quellenkritik der Gestapo-Verhörprotokolle, die meines Erachtens zentral für die Geschichtsschreibung des Widerstandskreises sind. Unter anderem habe ich aufgezeigt, dass mehrere der Vernommenen bzw. der Angehörigen des Widerstandskreises in den Spruchkammer- und Strafverfahren für die Gestapo-Beamten ausgesagt haben. So erklärte etwa der Vater der Geschwister Scholl, dass seine Kinder ihm unabhängig voneinander erklärt hätten, dass sie gut behandelt worden seien. Ähnlich äußerten sich auch mehrere damals Beschuldigte bis in die jüngste Vergangenheit hinein. Dies muss bei der Bewertung der Protokolle mitbedacht werden. Bei den Vernehmungen war bedeutend, aus welcher Bevölkerungsgruppe die Beschuldigten kamen, wann die Ermittlungen stattfanden und auch durch welche Gestapo-Leitstelle. In Hamburg ging man zum Beispiel eindeutig radikaler vor.

2. Kißener betont den Quellenwert der Zeitzeugenaussagen. Auch ich verzichte nicht gänzlich auf sie, auch wenn Kißener dies meint. Ich habe jedoch oftmals größere quellenkritische Bedenken gegen die Zeitzeugen. Kißener verweist unter anderem hinsichtlich möglicher Übereinstimmungen des Vaters von Willi Graf mit den nationalsozialistischen Herrschern auf das „differenzierte Urteil der damals schon erwachsenen Tochter Anneliese“. Kißener, der dieser Tochter ein Buch gewidmet1 und für sie eine Festschrift herausgegeben hat, verkennt meines Erachtens, dass zahlreiche Forschungen nachgewiesen haben, dass nach dem Krieg die Vergangenheit von Angehörigen und Freunden häufig zu unkritisch betrachtet wurde. Auch sein eigener Aufsatz über Willi Graf in der genannten Festschrift basiert zu nicht unwesentlichen Teilen auf Zeitzeugenerinnerungen. Quellenkritische Bedenken sucht man hier bezüglich der Zeitzeugen „in concreto“ ebenso vergebens wie hinsichtlich der staatlichen Ermittlungsakten, auf die er sich auch bezieht.2

3. Kißener zitiert die Seite 500 des besprochenen Buches. Dort hätte ich als „Befund“ konstatiert, „dass die ‚Weiße Rose’ desinteressiert an der Judenverfolgung gewesen sei“. Tatsächlich halte ich – wohlgemerkt als „ersten Befund“ – auf S. 500 fest, dass „die Verfolgung der Juden nicht im Zentrum der Interessen des Scholl-Schmorell-Kreises gestanden“ habe. Zudem weise ich zuvor darauf hin, dass die Anklage an dem Mord von 300.000 Juden im zweiten von sechs veröffentlichten Flugblättern – Kißener meint, es habe nur fünf gegeben – eine der „herausragenden Leistungen“ des Kreises darstellt. Was den gesetzlich legitimierten Antisemitismus betrifft, der jenseits der Ermordung und Versklavung etabliert worden war, so schreibe ich, dass der Eindruck bleibe, dieser sei hingenommen worden. Hierbei ist zu erwähnen, dass ich andere, apologetischere Interpretationen jedoch keineswegs unerwähnt lasse. Dennoch meine ich, dass die „Judenfrage“ in dem Kreis keine sonderlich große Rolle gespielt hat. Deswegen bezeichnet Traute Lafrenz, damalige Scholl-Freundin und die bedeutendste noch lebende Zeitzeugin, das Verhältnis des Kreises zum Judentum als „beinah peinlich“. Bezüglich der Wertung von Lafrenz als Zeitzeugin ist wichtig, dass sie nach dem Krieg in die USA ging und der Überhöhung der „Weißen Rose“ in der Bundesrepublik nicht ausgesetzt war.

4. Entgegen Kißeners Darstellung „suggeriere“ ich nicht, dass ich eine „weitgehend detailgetreue Rekonstruktion“ des Geschehens liefere. Vielmehr betone ich die Lücken, an der ich und jede andere wissenschaftliche Arbeit über den Kreis scheitern müssen. So schreibe ich abschließend, dass die Geschichtswissenschaft den Kreis nicht erschöpfend darstellen könne, sondern lediglich gewisse Phänomene, Ereignisse und Gedanken zu erklären versuche. Zudem stoße die Wissenschaft an ihre Grenzen, wenn „sie Emotionen darstellen oder die Wucht des in dieser Geschichte offenbarten Idealismus transportieren“ wolle (S. 562).

Sönke Zankel, Hamburg, 31. Juli 2008

Anmerkungen:
1 Kißener, Michael (Hrsg.), Widerstand und Judenverfolgung, Konstanz 1996.
2 Ders., Willi Graf. Von der Prägung eines widerständigen Katholiken (1933–1939), in: ders.; Schäfers, Bernhard (Hrsg.), „Weitertragen“. Studien zur „Weißen Rose“. Festschrift für Anneliese Knoop-Graf zum 80. Geburtstag, Konstanz 2001, S. 11-24.


Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch