In der Frühneuzeitforschung zeichnen sich in den letzten Jahren erste Ergebnisse einer Selbstreflexion ab, die nicht nur längst fällig war, sondern auch fruchtbar auf die Disziplin zurückwirkt. Insbesondere die jüngsten Diskussionen um den Stellenwert der Reformation, die den eigenen historiographischen „Sehepunkt“ in den Blick nehmen, gelangen zu einer differenzierten Sichtweise, die sowohl auf der Ebene der Begrifflichkeiten (z.B. „Mythos“ der Reformation) als auch in der Betonung von Kontinuitäten und Traditionen ihren Ausdruck findet. 1 Die Rolle der neuzeitlichen protestantischen Historiographie für die Determinierung eines entsprechenden Geschichtsbildes ist bekannt. Weniger erforscht dagegen ist die Bedeutung der frühneuzeitlichen lutherischen Geschichtsschreibung für die eigene konfessionelle Selbstvergewisserung. Dieser Thematik widmet sich die Dissertation von Matthias Pohlig, die 2005 an der Philosophischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität eingereicht wurde.
Neuere Studien zur frühneuzeitlichen Historiographie, insbesondere lutherischer Provenienz, sind rar und widmen sich lediglich einzelnen Werken 2, Autoren 3 oder Aspekten 4. Die Fragestellung vorliegender Dissertation ist sehr viel komplexer und gliedert sich in zwei Teilfragen: A) Welche Ursachen, Motive und Funktionen charakterisierten die lutherische Geschichtsschreibung? B) Besaß die lutherische Geschichtsschreibung Einfluss auf die Prägung der konfessionellen Identität der Lutheraner und wenn ja, welchen? Das Ergebnis wird zeigen, dass beide Fragen einander bedingen. Um die unterstellte Vielschichtigkeit der Historiographie erfassen zu können, verwendet Matthias Pohlig einen sehr weiten Begriff von Geschichtsschreibung, der „alle Texte“ umfasst, „in denen Autoren des 16. Jahrhunderts sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen“ (S. 6). Die Einbeziehung sehr unterschiedlicher Gattungen ermöglicht die Untersuchung des Einflusses jener Gattungen auf die „Konfessionalisierbarkeit“ (S. 5) der Historiografie. Bedient werden im Wesentlichen die beiden großen Bereiche von Universal- und Kirchengeschichte, hinzu kommen die Kalenderliteratur und die Apokalypsenkommentare. Unberücksichtigt bleiben hingegen Schriften, die in konkreten und somit eingrenzbaren Kontexten historisch argumentieren. Das betrifft etwa Landeschroniken, Fürstenspiegel oder die städtische Geschichtsschreibung. Der Autor begründet dies mit der Fülle der zu bewältigenden Quellen und seinem forschungsleitenden Interesse an gelehrter Kommunikation. Mit dem Tod Martin Luthers 1546 und dem ersten Reformationsjubiläum 1617 sind zwei Eckpfeiler markiert, die den Untersuchungszeitraum schlüssig begrenzen. Wird doch in dieser Zeit eine konfessionelle Identitätsfindung – auch und gerade in Auseinandersetzung mit der Figur Martin Luthers – unumgänglich bzw. in den intra- und interkonfessionellen Konflikten der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aufs Neue gefordert.
Nach der einleitenden Diskussion von Begriffen und Methoden (Teil A) sowie grundsätzlichen Bemerkungen zur Historiographie im konfessionellen Zeitalter (B I) widmet sich der Autor der Luthermemoria (B II) innerhalb des Untersuchungszeitraumes. Dabei wird unter anderem deutlich, dass die Stilisierung des Reformators als eines charismatischen Propheten und die Einordnung seines Reformwerkes in die Heilsgeschichte durchaus dem Erzählmuster der mittelalterlichen Heiligenviten entsprach. Während die Jubiläumspublizistik dieses Bild geradezu zementierte, verweigerten sich überraschenderweise die Predigtpostillen einem solchen Erinnerungsdiskurs. An ihnen wird beispielhaft deutlich, wie stark die historiographische Gattung der Konfessionalisierbarkeit von Geschichtsbildern Grenzen zu setzen vermochte. Insofern bietet sich die vom Autor vorgeschlagene Charakterisierung der „Gattungen als Institutionen“ an (S. 153), die sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Texten steuern konnten.
Die umfangreichen Kapitel B IV und B V widmen sich mit der Universal- und der Kirchengeschichte den beiden wichtigsten Bereichen der frühneuzeitlichen Historiographie. Die Universalgeschichte basierte ebenso wie die Kirchengeschichte auf den biblischen Prophetien. Vor allem das Danielbuch mit dem 4-Monarchien-Schema blieb bis ins 18. Jahrhundert dominierend. Während aber die Kirchengeschichte sich ausschließlich der Geschichte der wahren Lehre widmete und im Gewand der Dogmengeschichte die Problematik der ecclesia visibilis umging, umfasste die Universalgeschichte sowohl die profane als auch die kirchliche Geschichte. Möglich wurde diese Inklusivität durch das Konzept der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre, das Philipp Melanchthon für das Gebiet der Historiographie fruchtbar machte und später auf die Profangeschichte reduziert wurde. Anhand der Untersuchung verschiedener Gattungen, wie den Kaiserchroniken (z.B. des Paulus Prätorius), den Universalchroniken (wie z.B. dem Chronicon Carionis oder „De quatuor summis imperiis“ des Johannes Sleidan), den Chronologien (z.B. des Johannes Funck) oder dem Heldenbuch des Heinrich Pantaleon, kommt Matthias Pohlig zu dem Ergebnis, dass sich die Universalgeschichte nur begrenzt für den lutherischen Identitätsdiskurs eignete, da sie eher auf nationale Motive oder Elemente moralischer oder unterhaltender Funktion zugriff. Die zugrunde liegende Konzeption der Zwei-Reiche-Lehre war zwar konfessioneller Provenienz, führte aber letztlich zur Begrenzung der Konfessionalisierbarkeit. Im Gegensatz dazu war der Bereich der Kirchengeschichte für eine lutherische Selbstverständigung geradezu prädestiniert. Die hier angesiedelten historiographische Gattungen, wie z.B. die Ketzer-, Zeugen- und Märtyrerliteratur, Gesamtdarstellungen (wie die Magdeburger Zenturien oder das Kompendium des Johannes Pappus) sowie kontroverspolemische Texte, bewegten sich zwischen Kontinuitäts- und Verfallsdiskursen, die nebeneinander standen oder, wie im Falle der Zenturien, miteinander verbunden werden konnten. Nicht nur bedurfte der lutherische Identitätsdiskurs der katholischen Kirche, um sich im positiven oder negativen Sinne zu ihr zu verhalten. Er führte auch dazu, dass die innerlutherischen Konflikte, die insbesondere im Nachklang des Interims ausbrachen, überdeckt und Differenzen dissimuliert wurden.
Für die gemeinhin stark rezipierten Geschichts- und Heiligenkalender (Kap. B VI) kommt der Autor hinsichtlich ihrer konfessionellen Identitätsvermittlungsrolle zu ähnlichen Ergebnissen wie für die universal- und kirchengeschichtlichen Texte. Die Kommentare zur Johannesoffenbarung (Kap. B VII) als historiographische Schriften in die Untersuchung einzubeziehen, ist angesichts der bereits durch die Zeitgenossen an diese herangetragenen Geschichts- und Zeitdiagnostik durchaus schlüssig. Matthias Pohlig konstatiert für diese Texte eher eine statische Geschichtsbetrachtung, da sich aus der Offenbarung keine klare historische Abfolge, nicht einmal ein Niedergangsprozess herauslesen lässt. Dennoch wurde von den zeitgenössischen Exegeten anhand des Textes die Heilsgeschichte gedeutet, die mit der Reformation und der Offenbarung des Antichristen ihre letzte Phase erreicht hat. Damit korrespondierten diese exegetischen Historiographien durchaus mit der Naherwartung, die die konfessionelle Verortung der Lutheraner dominant prägte.
Die lutherische Geschichtsschreibung, so kann Matthias Pohlig im Ergebnis nachweisen, war auf sehr differenzierte Weise am Prozess der innerkonfessionellen Identitätsstiftung beteiligt. Deren Funktionen als magistra vitae einerseits und „exegetische[n] Hilfswissenschaft“ andererseits (S. 497) wurden nicht nur in den Dienst des Nachweises der langen Tradition der lutherischen Kirche gestellt, sondern auch in den der Überbrückung dogmatischer wie territorialer Zersplitterungen innerhalb des Luthertums. Die Eigenlogik der historiographischen Gattungen setzte allerdings der Konfessionalisierbarkeit der Geschichtsschreibung deutliche Grenzen. Grundsätzlich kann nicht von einer engen Korrelation zwischen Konfessionalisierung und Historiographie, sondern eher von einer „losere[n] Kopplung“ (S. 507) gesprochen werden. Selbst wenn dieses Ergebnis insgesamt nicht überrascht, so steht es doch am Ende einer hervorragenden und dazu noch gut lesbaren Studie, die durch eine breite Quellenbasis fundiert ist und aufgrund der Zwischenergebnisse und einiger Exkurse zahlreiche Anregungen für die historische Forschung bietet.
Anmerkungen:
1 Schilling, Heinz, Reformation – Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps des Réformes?, in: Moeller, Bernd (Hrsg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch: wissenschaftliches Symposium des Vereins für Reformationsgeschichte 1996, Gütersloh 1998, 13-34, hier 31.
2 U.a. Beatrice, Christina; Frank, Melanie, Untersuchungen zum Catalogus testium veritatis des Matthias Flacius Illyricus, Tübingen 1990; Haye, Thomas, „Catalogus testium veritatis“ des Matthias Flacius Illyricus: zur Auswahl, Verarbeitung und kritischen Bewertung seiner Quellen, Göttingen 1990.
3 U.a. Keute, Hartwig, Reformation und Geschichte. Kaspar Hedio als Historiograph, Göttingen 1980.
4 Klempt, Adalbert, Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung. Zum Wandel des Geschichtsdenkens im 16. und 17. Jahrhundert, Göttingen 1960; sowie Seifert, Arno, Der Rückzug der biblischen Prophetie von der neueren Geschichte. Studien zur Geschichte der Reichstheologie des frühneuzeitlichen Protestantismus, Köln 1990.