„Die Archivarinnen und Archivare haben besonders lange gebraucht,“ so hieß es kürzlich in Bezug auf den 75. Deutschen Archivtag 2005, „um sich kritisch mit den durch ihre Vorgänger vor einem Menschenalter aufgehäuften Hypotheken auseinanderzusetzen.“ In der Tat war die Beschäftigung mit diesem Kapitel Archivgeschichte überfällig, möglicherweise waren die mentalen Hürden hier „aufgrund der besonders engen Lehrer-Schüler-Beziehungen“ tatsächlich höher als in anderen Berufsgruppen.1 Allerdings ist auch zu berücksichtigen, dass die Archivare eine eher kleine Zunft mit einem – bedingt durch die archivischen Kernaufgaben – eher großen Mangel an Gelegenheiten zur aktiven historischen Forschung verkörpern. Insofern war externer Sachverstand bereits bei vor 2005 erschienenen Arbeiten zur Vergangenheitsbewältigung im Archivwesen erforderlich und willkommen,2 und so verhielt es sich beim genannten Archivtag 2005 selbst.3
Um eine in diesem Sinne externe Arbeit handelt es sich auch bei dem hier anzuzeigenden Band, der mittlerweile mit dem Dissertationspreis der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und dem 1. Förderpreis des Generalkonsulats der Republik Polen ausgezeichnet wurde.4 Gegenstand ist eine der tatsächlich schwersten Hypotheken des deutschen Archivwesens – der „Osteinsatz“ im sogenannten Archivschutz während des Zweiten Weltkriegs. Derselbe ist dem kollektiven Gedächtnis trotz der noch nicht erfolgten gründlichen Aufarbeitung keineswegs derart entschwunden, wie der Buchtitel glauben machen will.5 Die Bearbeitung des bisher freilich vernachlässigten oder gar beschönigten Themas und die damit verbundene partielle Beseitigung eines „weißen Fleckes“ in der Geschichte des Nationalsozialismus ist das Ziel der Analyse deutscher Archivarstätigkeit im Generalgouvernement (GG) und im Reichskommissariat Ukraine (RKU). Dafür waren Recherchen in 52 Archiven und Handschriftensammlungen des In- und Auslandes erforderlich, so dass obige Aussage zum Mangel an Gelegenheiten nun möglicherweise besser nachvollziehbar ist.
Stefan Lehr gliedert seine Darstellung neben Einleitung, Zusammenfassung, Bild- und Kartenteil (im Inhaltsverzeichnis nicht ausgewiesen), Anhang sowie Personen- und Ortsregister in vier Kapitel. In den beiden ersten Kapiteln geht es um die Vorgeschichte des Osteinsatzes, nämlich das Wirken der preußischen Archivverwaltung in Polen während des Ersten Weltkriegs einerseits sowie das preußische, polnische und ukrainische Archivwesen in der Zwischenkriegszeit andererseits. Ein Schwerpunkt der Betrachtung zielt auf die Bestrebungen der im Spätsommer 1915 im Generalgouvernement Warschau errichteten deutschen Archivverwaltung, das dortige Archivgut sowohl in toto zu schützen als auch zu erfassen und in deutsche Zuständigkeiten zurückzuführen. Letzteres betraf jedoch nur Archivalien, die sich auf Süd- und Neuostpreußen in den Jahren 1793-1806 bezogen und nach dem Tilsiter Frieden 1808 an das Herzogtum Warschau abgegeben werden mussten. Die auf preußischer Seite zugrunde gelegten Maßstäbe waren nicht immer einheitlich, da sich die Argumentation je nach Interesse auf das Territorial-, Pertinenz- oder Provenienzprinzip stützte. 1918 wurden die uneindeutigen bzw. zweifelhaften deutschen Absichten für einen Archivalientausch mit Polen überdies von Vorbedingungen und Forderungen nach polnischen Vorleistungen begleitet. Von Gleichwertigkeit bzw. Gleichberechtigung konnte keine Rede sein, aber infolge der deutschen Niederlage entstand ohnehin eine neue Situation. Einen zweiten Schwerpunkt stellt die von Seiten des Generaldirektors der preußischen Archive Albert Brackmann maßgeblich forcierte „Ostforschung“ der Zwischenkriegszeit dar, in die die 13 Akteure des hier in Rede stehenden Osteinsatzes zum Teil tief involviert waren und ohne die derselbe wohl kaum zu verstehen ist.
Das dritte und bei Weitem umfangreichste Kapitel hat den eigentlichen Osteinsatz zum Gegenstand. Seine Untergliederung folgt weitgehend einer systematischen Chronologie – Aufbau der deutschen Archivverwaltung im GG unmittelbar nach Kriegsbeginn, deren Ausbau bzw. „Alltag“, der Überfall auf die Sowjetunion und das Archivwesen im RKU, dessen Ausbau und „Alltag“ sowie die letzten Kriegsmonate. Der Osteinsatz unterlag, wie die Beteiligten mehrfach betonten, in hohem Maße politischen Intentionen – auch im bewussten Widerspruch zu archivfachlichen Grundsätzen. Die Aufgabe bestand zunächst in der Feststellung deutscher Provenienzen bzw. für das „Deutschtum“ und die „Rassenforschung“ relevanter Archivalien, sodann und im Unterschied zum Ersten Weltkrieg in deren relativ rücksichtsloser Verbringung nach Deutschland. Darüber waren die Ansichten allerdings geteilt, denn während etwa die Archivare Ernst Zipfel und (zunächst) Erich Randt den Abtransport als Vollendung der Dispositionen im Ersten Weltkrieg ansahen, hielten Eilhardt Eilers, Erich Weise und (zunächst) Georg Winter eine eilige Verlagerung in großem Stil nicht für angebracht. Aufgrund der vorbereitend notwendigen Sichtung und schließlich auch Verzeichnung der Bestände profitierte von diesem Aspekt des Osteinsatzes interessanterweise die polnische Archivverwaltung der Nachkriegszeit, während für historische Recherchen kaum Zeit blieb und deshalb für die Ostforschung entgegen der ursprünglichen Absichten kaum zählbare Ergebnisse zustande kamen.
In der Verfolgung ihrer Aufgaben bzw. Interessen mussten sich die deutschen Archivverwaltungen sowohl gegen die Konkurrenz im Kulturgüterraub als auch gegenüber den Besatzungsverwaltungen behaupten. Hinzu kamen mit der Dauer des Krieges zunehmende Probleme mit den Personal- und Transportkapazitäten, die sich auf die Arbeit im RKU deutlicher als im GG niederschlugen. In der Auseinandersetzung mit nichtarchivischen Institutionen verhielten sich die deutschen Archivare fachlich durchaus korrekt, beispielsweise indem sie auf dem Verordnungswege wilde Kassationen auch polnischer Akten unterbanden. Dem einmal ihrer Verfügung unterliegenden polnischen und ukrainischen Schriftgut ließen sie allerdings nicht dieselbe Sorgfalt angedeihen – insbesondere Hans Branig trägt eine nicht unerhebliche Mitverantwortung für den Verlust bzw. die Zerstörung von mehr als 90 Prozent der Warschauer Archivalien. Noch ambivalenter als zu den Archivalien gestaltete sich das Verhältnis zu den Archivaren. Die Deutschen misstrauten den zu Hilfskräften degradierten Polen und Ukrainern, die für den letztlich demütigenden Abtransport „ihres“ Archivguts arbeiten mussten. Vom Wohlwollen Ersterer hing das Überleben Letzterer ab, umgekehrt waren die deutschen Archivverwaltungen auf die Fachkenntnisse bzw. überhaupt auf die Tätigkeit der einheimischen Archivare angewiesen. Stefan Lehr sieht in dieser Notgemeinschaft den Grund dafür, dass „die deutschen Archivare nach Möglichkeit [versuchten], die Lebensbedingungen ihrer einheimischen Kollegen zu verbessern, […] um deren Arbeits- und Leistungsfähigkeit aufrechtzuerhalten“ (S. 359). Unter Umständen greift diese Erklärung jedoch zu kurz, da dergleichen Rationalität gegenüber den jüdischen Hilfskräften – mit Ausnahme des Einsatzes von Otto Guglia bei der Gestapo zugunsten des Juden Rubin (den das Personenregister im Übrigen nicht ausweist) – fehlte.
Im sechsten Abschnitt des dritten Kapitels („Archivare im Zweiten Weltkrieg“) und im vierten Kapitel („Nach dem Zweiten Weltkrieg“) verfolgt Stefan Lehr statt des bisher eher systematisch-chronologischen Ansatzes einen mehr prosopografischen bzw. biografischen Ansatz, der auf die Schicksale der Archivare im Osteinsatz fokussiert und als logische Fortsetzung des Abschnitts zur Ostforschung anzusehen ist. Der unabhängig von der Besatzungszone zumeist reibungslose Übergang in die deutsche Nachkriegsgesellschaft stellt zwar aufgrund von Parallelen in anderen Wissenschaftszweigen keine wirkliche Überraschung dar. Dennoch erschüttert das bis zur ungebrochenen Rechtfertigung reichende Ausbleiben einer kritischen Selbstreflexion des Osteinsatzes, zumal Georg Winter als Direktor des neu geschaffenen Bundesarchivs seine belasteten Kollegen hier einstellte und dabei nicht einmal vor dem im Nachkriegs-Österreich „durchgefallenen“ Walther Latzke haltmachte. Während eine weitgehende personelle Kontinuität auch das polnische Archivwesen kennzeichnete und politisch motivierte Veränderungen in begrenztem Umfang erst Ende der 1940er-Jahre zu greifen begannen, unterlagen die unter deutscher Besatzung tätigen ukrainischen Archivare gleichsam einem Berufsverbot bzw. fielen dem Vorwurf der Kollaboration zum Opfer. Bisweilen resultierte daraus ein völliger Verlust ihrer weiteren Lebensspur.
Stefan Lehrs Studie ist eine äußerst solide Fleißarbeit mit Pioniercharakter, deren Verdienste nach Ansicht des Rezensenten vor allem im Folgenden bestehen: Erstens unterlag der „Osteinsatz“ keiner ideologiefreien und unmanipulierten Fachmethodik, wie – im Übrigen bei fachlich begründetem Widerspruch – noch auf dem 75. Deutschen Archivtag von nichtarchivischer Seite glauben gemacht werden sollte. In diesem Kontext sei zudem darauf hingewiesen, dass sich der sogenannte Archivschutz nicht auf den Osteinsatz und dieser wiederum nicht auf das GG und das RKU beschränkte, aber hier möglicherweise unproblematischer als in weiter nördlich gelegenen Gebieten oder als die Tätigkeit des Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg verlief.6 Zweitens kann das in Ansätzen erkennbare und durchaus zu honorierende Bemühen um Nationalitäten-Grenzen überwindende berufsständische Kollegialität nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Osteinsatz ein Verhältnis von Siegern und Besiegten, von Besatzern und Besetzten darstellte. In anderen Arbeiten bisweilen suggerierte, sich wesentlich unterscheidende Vorzeichen bei den archivarischen (Nord-)Westeinsätzen erscheinen daher wenig plausibel und harren insofern weiterhin einer objektiven Analyse. Drittens verdeutlicht der gesamte Band, dass nicht allein radikale Gesinnungsäußerungen oder Parteimitgliedschaften das nationalsozialistische Regime trugen und sein Funktionieren gewährleisteten. Es waren auch die alltäglichen anonymen Mitgestaltungsprozesse, in denen sogar eine zahlenmäßig kleine Gruppe wie die Archivare ihre Funktion und ihren Platz hatte, wahrnahm und ausfüllte.
Anmerkungen:
1 Vgl. die Rezension von Karl Heinz Roth zu Kretzschmar, Robert u.a. (Red.), Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 in Stuttgart, Essen 2007, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 55 (2007), 9, S. 789-791, Zitate S. 789.
2 In diesem Sinne auch Pretsch, Hans Joachim, Operation Aktenklau, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. Januar 2008, S. 8 in der Rezension von Stefan Lehrs Arbeit.
3 Siehe in der unter Anm. 1 genannten Tagungsdokumentation die Beiträge von Astrid M. Eckert, Wolfgang Ernst, Stefan Lehr, Massimiliano Livi, Esther Neblich und Heiner Schmitt, die nicht im Archivwesen tätig sind.
4 Vgl.<http://cgi.uni-muenster.de/exec/Rektorat/upm.php?nummer=09629> Stand: 29.02.2008).
5 Siehe z.B. Kißmehl, Horst, Kriegswichtige Zielobjekte – Akten, Archive, Bibliotheken, in: Brentjes, Burchard (Hrsg.), Wissenschaft unter dem NS-Regime, Berlin 1992, S. 132-155, bes. S. 146f.; Heuss, Anja, Kunst- und Kulturgutraub. Eine vergleichende Studie zur Besatzungspolitik der Nationalsozialisten in Frankreich und der Sowjetunion, Heidelberg 2000, S. 164-167, 177f. u. 182-185; Musial, Torsten, Deutsche Archivare in den besetzten Ostgebieten 1939 bis 1945, in: Archive und Herrschaft. Referate des 72. Deutschen Archivtags 2001 in Cottbus, Siegburg 2001, S. 77-87.
6 Siehe den kompakten Überblick bei Weiser, Johanna, Geschichte der Preußischen Archivverwaltung und ihrer Leiter. Von den Anfängen unter Staatskanzler von Hardenberg bis zur Auflösung im Jahre 1945, Köln u.a. 2000, S. 183-198. Siehe aber auch Lenz, Wilhelm, Die Verlagerung des Revaler Stadtarchivs im Rahmen des „Archivschutzes“ während des Zweiten Weltkrieges, in: Angermann, Norbert; Lenz, Wilhelm (Hrsg.), Reval. Handel und Wandel vom 13. bis zum 20. Jahrhundert, Lüneburg 1997, S. 397-443.