Warum kennt die wissenschaftliche Diskussion in Frankreich keinen „Poststrukturalismus“? Und dies, obwohl die Vordenker dieser in den 1960er- und 1970er-Jahren entstandenen kulturwissenschaftlichen Theorierichtung, die Philosophen Louis Althusser, Michel Foucault, Jacques Derrida, der Psychoanalytiker Jacques Lacan und der Essayist Philippe Sollers international oft unter dem Rubrum der „French Theory“ gehandelt werden. Diese Frage nimmt der Magdeburger Soziologe Johannes Angermüller zum Ausgangspunkt seiner Dissertation, die in überarbeiteter Fassung im Bielefelder Transcript-Verlag erschienen ist. Um diesem „internationalen Missverständnis“ (S. 9) nachzuspüren, untersucht er sowohl die sozio-historischen Kontexte der Theoriebildung in Frankreich als auch den poststrukturalistischen Theoriediskurs selbst. Dabei stützt er sich auf Bourdieus Theorie sozialer Felder, deren analytischer Wert auch für die Wissenschaftsgeschichte diskutiert wird. 1
Neben dieser inhaltlichen Fragestellung lässt sich Angermüller auch durch ein methodisches Erkenntnisinteresse leiten. Mittels sprachwissenschaftlicher Ansätze der neueren französischen Diskursanalyse (von Michel Pêcheux bis Dominique Maingueneau) analysiert er, auf welche Weise gerade auch Theorietexte das Wissen ihrer Leser über soziale und historische Kontexte aufrufen. In ihrer Konzentration auf die sprachliche Form der Äußerung grenzt sich diese der Äußerungslinguistik nahestehende Form der Diskursanalyse von den stärker interpretativ-hermeneutischen Methoden der Wissenssoziologie ab, die – wie etwa der Sozialkonstruktivismus à la Berger/Luckmann – mittlerweile auch in der Geschichtswissenschaft rezipiert werden.
Das doppelte Erkenntnisinteresse spiegelt sich im Aufbau von Angermüllers Arbeit wider. Im ersten Teil rekonstruiert er die teilweise vom französischen Standardmodell abweichenden Karrierewege, die disziplinäre Prägung, die institutionelle Verortung, die Verlagsbeziehungen, die Netzwerke und die politische Ausrichtung der Leitautoren des großen Theoriebooms der 1960er-Jahre. Unter Rückgriff auf den Intellektuellenhistoriker Jean-François Sirinelli und ganz aus französischer Perspektive charakterisiert sie Angermüller als „intellektuelle Generation des Strukturalismus“ (S. 80). Er betont die Heterogenität ihrer theoretischen Projekte, sieht aber Anknüpfungspunkte in gemeinsamer Bezugnahme auf Vordenker (Marx, Nietzsche, Freud, Saussure), historische Ereignisse (wie die Pariser Mai-Bewegung von 1968) und Beziehungen der „Soziabilität“ zwischen ihnen. Der feldtheoretische Ansatz ermöglicht es, durch die Positionierung der Theoretiker im akademischen Feld und durch ihre in wechselnden Allianzen ausgefochtenen Konflikte, weitere Gemeinsamkeiten auszumachen. Institutionell nicht an der zentralen, traditionell geprägten Sorbonne, sondern an den mit hohem symbolischem Kapital ausgestatteten Forschungsinstitutionen der akademischen Peripherie (Collège de France, École des Hautes Études en Sciences Sociales) verortet, bot sich den strukturalistischen Denkern mehr Möglichkeit zur öffentlichkeitswirksamen Entwicklung ambitionierter Theorieprodukte als zur akademischen Schulbildung. Gleichzeitig prädisponierte sie ihre periphere Position an innovativen, aber für die Elitenreproduktion marginalen Instituten zu einer Strategie und Rhetorik der oppositionellen Avantgarde. Angermüller zeichnet nach, wie sich diese spannungsreiche Konfiguration in der Strukturalismusdebatte der 1960er-Jahre, dem Konflikt zwischen den aufstrebenden Sozial- und Kulturwissenschaften der sciences humaines und dem traditionellen Fächerkanon der humanités (Geisteswissenschaften) und ihrer Bastion, der Sorbonne, entlud. Auf Ebene des Theoriediskurses manifestierte sich dieser generationelle und institutionelle Antagonismus in der Auseinandersetzung über Humanismus und Antihumanismus, der Frage nach dem Verhältnis von Subjekt und Struktur und dem Stellenwert der Figur des „Menschen“ für die Geschichte der Wissenschaften. Diese Kontroverse ermöglichte anhand eines diskursiven Kristallisationspunkts die Selbst- und Fremdzuordnung von „Strukturalisten und Ex-, Nicht- und Anti-Strukturalisten“ (S. 46), löste also „paradigmatische Effekte“ (S. 42) im intellektuellen Feld aus, die nicht mit einer homogenen Theorieschule verwechselt werden dürfen. Aus Perspektive eines Historikers fällt auf, dass Angermüller bei seinem Bemühen um Kontextualisierung zwangsweise statischen, feldtheoretisch beschreibbaren Konfigurationen den Vorzug gegenüber flüchtigen historischen Ereignissen geben muss. So bleiben zentrale historische Bezugspunkte der „intellektuellen Generation“ wie der 'Mai 68' 2 weitgehend schwach ausgeleuchtet. Dies ist hinsichtlich der erklärten Zielsetzungen der Arbeit kein Manko, jedoch verweist es auf die Notwendigkeit einer umfassenderen Historisierung der poststrukturalistischen Theoriebildung.
Im nächsten Schritt erweitert Angermüller seine Untersuchungsperspektive und stellt die Veränderungen dar, die das intellektuelle Feld in Frankreich als ganzes von der Jahrhundertwende bis zu den 1980er-Jahren geformt haben. Er konstatiert eine zunehmende Bedeutung der akademischen Intelligenz gegenüber den institutionell nicht gebundenen Intellektuellen, mit verursacht durch deren institutionelle Absorption im Zuge des Bildungsbooms der 1960er-Jahre. Die Hochphase des Strukturalismus um 1966 fällt zentral in diese Periode, in der Quereinsteiger ohne formale Bildungstitel sich an der akademischen Peripherie als Stars etablieren konnten und eine Mittlerfunktion zwischen Fachwissenschaften und intellektueller Öffentlichkeit ausübten. Das öffentliche Interesse am „‘szientifischen‘ Strukturalismus“ (S. 78) verlor sich jedoch nach der Erschütterung von 1968 und wurde von zeitkonformen „Philosophien des ‚Verlangens‘“ abgelöst, die teils von denselben Autoren vertreten wurden und international oft als maßgebliches Element der poststrukturalistischen Theorien gelten. An diesem Punkt versäumt es Angermüller, konsequent die Suche nach dem in Frankreich nicht vorhandenen „Poststrukturalismus“ aufzunehmen und nach den historischen Kontexten zu fragen, die zu dieser Verschiebung führten. Stattdessen wendet er sich unverzüglich der „neoliberalen Wende der 1980er Jahre“ (S. 85) zu, in denen nicht zuletzt als Folge eines politischen Klimawandels „Medienintellektuelle“ (S. 92) vom Schlag der nouveaux philosophes die traditionelle Figur des engagierten Intellektuellen, wie sie trotz ihrer Abgrenzung von Sartre noch von den Strukturalisten verkörpert worden war, verdrängten und die Konjunktur visionärer Theorieprojekte abflaute.
Der zweite Teil der Arbeit verschiebt den Fokus auf methodische Aspekte. Nach einem Überblick über die Geschichte der Diskursanalyse in Frankreich führt sie differenziert und kenntnisreich in die diskurspragmatisch orientierte Aussagenanalyse ein. Diese untersucht anhand der formalen Spuren, die Äußerungen in der sprachlichen Form des Gesagten hinterlassen, wie Texte „ihre Leser auf die Suche nach den Kontexten“ (S. 140) ihrer Äußerung schicken. Zunehmend voraussetzungsreich erläutert Angermüller ein methodisches Instrumentarium, das von deiktischen Markierungen über Polyphonie bis zu Vorkonstrukten reicht und vor einem gewissen Grad an Formalisierung nicht halt macht. An fünf Schlüsseltexten der Strukturalismusdebatte aus den Jahren um 1966, die auf verschiedene Weise die Gegenüberstellung von theoretischem Humanismus und Antihumanismus thematisieren, demonstriert er den analytischen Nutzwert dieses methodischen Apparats. Bereits in der formalen Struktur der Texte werden Positionen, Frontstellungen und Antagonismen markiert, die der Leser mit seinem Wissen über die Kontexte des intellektuellen Felds auffüllen kann.
Über diese methodischen Überlegungen, die dem Leser und seinem kontextuellen Wissen eine hohe Bedeutung einräumen, kommt Angermüller auf die Frage des „französischen Poststrukturalismus“ zurück. Durch die Ungleichzeitigkeiten der Rezeption und unterschiedliches kontextuelles Hintergrundwissen werden die gleichen Texte international verschieden rezipiert und dadurch unterschiedlichen Paradigmen zugeordnet. Die Verknüpfung der „Poststrukturalisten“ mit den Debatten und Positionen der 1960er-Jahre in Frankreich ermöglicht dort ihre Zuordnung zur „strukturalistischen Generation“, wohingegen in den USA und anderen europäischen Ländern unterschiedliche Rezeptionskontexte eine andere, „poststrukturalistische“ Paradigmenbildung auslösen.
Angermüllers anspruchsvolle und reflektierte Kombination von feldtheoretischer Intellektuellensoziologie und Diskursanalyse ist für Historiker nur bedingt anschlussfähig. Seine Übersicht über die Entwicklung des intellektuellen Felds in Frankreich ist für eine noch ausstehende ideengeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Poststrukturalismus als Zeitströmung instruktiv, sie bezieht jedoch, getreu ihren methodischen Prämissen, entscheidende historische Kontexte nur am Rande ein. Die methodischen Vorschläge zur aussagetheoretisch informierten Diskursanalyse wirken anregend, da sie komplexe Interaktionsvorgänge zwischen Texten und ihren Lesern modellieren. Auf Grund ihrer hohen Voraussetzungshaftigkeit sind sie jedoch in die geschichtswissenschaftliche Forschungspraxis nur schwer zu integrieren.
Anmerkungen:
1 Blaschke, Olaf; Raphael, Lutz, Im Kampf um Positionen. Änderungen im Feld der französischen und deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, in: Eckel, Jan; Etzemüller, Thomas (Hrsg.), Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007, S. 69-109.
2 Vgl.: Starr, Peter, Logics of Failed Revolt. French Theory After May '68, Stanford 1995.