Cover
Titel
Das System Putin. Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Russland


Autor(en)
Mommsen, Margareta; Nußberger, Angelika
Reihe
beck'sche reihe
Erschienen
München 2007: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
216 S.
Preis
€ 12,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Petra Stykow, Ludwig-Maximilians-Universität München

Russland gibt Rätsel auf. Seine polternde Rückkehr in die Weltpolitik, die anscheinende Selbstverständlichkeit, mit der seine Bürger sich in resignativer Affirmation einrichten und die Inszenierungen seiner „neuen Reichen“ im Ausland – das alles irritiert die öffentliche Wahrnehmung in Deutschland. Ein Buch, das Aufklärung über das „System Putin“ verspricht, kann daher auf allgemeines Interesse hoffen. Die zentrale Botschaft von Margareta Mommsen, die bis zu ihrer Pensionierung eine Professur für Politikwissenschaft an der LMU München innehatte, und Angelika Nußberger, die am Institut für Ostrecht der Universität zu Köln lehrt, lautet: Die alte Sowjetunion ist 1991 untergegangen, aber auch das vergleichsweise offene „neue Russland“ der Jelzin-Ära hat nicht überlebt. An seine Stelle trat mit Putin ein „zweites neues Russland“. Es ist unter einer formaldemokratischen Fassade zum Autoritarismus regrediert, indem es sich an Werten und Organisationsformen der Vergangenheit orientiert, die politische Macht rezentralisiert und den Bürger in die patriarchalische Entmündigung zurückgezwungen hat.

Im ersten Kapitel werden die Traditionen skizziert, die Russland nach Auffassung der Autorinnen bis heute prägen. Dazu gehört der Rechtsnihilismus der Bevölkerung, auf die der Staat spätestens seit Peter I. mit ebenfalls rechtsnihilistischer „harter Hand“ reagiert. Zweitens zählt der Scheinkonstitutionalismus dazu, bei dem der Herrschaftsanspruch des Staates eher verfassungsrechtlich als faktisch eingehegt wird, drittens eine obrigkeitsstaatliche und kollektivistisch-nationalistische politische Kultur. Darstellungslogisch wird auch Putins Gesellschaftsbild als „démocratie à la russe“ diesen Traditionen zugeschlagen, obwohl es angemessener gewesen wäre, es als politisches (und rhetorisches) Projekt zu analysieren, das diese für seine Legitimation nutzt – analog etwa der Vision einer „europäischen Demokratie“, die sich ebenfalls auf Werte und Traditionen beruft.

Das zweite Kapitel behandelt die Entwicklung der „gelenkten Demokratie“ seit dem Jahr 2000. Dazu gehören die Stärkung der so genannten „Machtvertikale“, also die Konzentration der politischen Kompetenzen bei der zentralstaatlichen Exekutive durch die Schwächung von Legislative und Föderalismus sowie mithilfe des massiven Rückgriffs auf hierarchische Steuerungsinstrumente, die Beschränkung der Medienfreiheit und die Kontrolle über den intermediären Bereich bis hin zur Neuordnung des Parteiensystems und der Zivilgesellschaft durch die Präsidialadministration. Abschließend werden Auseinandersetzungen zwischen Personen und informellen Netzwerken im Umkreis des Präsidenten diskutiert.

Im dritten Kapitel wird das Justizsystem unter die Lupe genommen. Mommsen und Nußberger präsentieren eine direkte Traditionslinie, die vom vorpetrinischen Russland bis zur „gelenkten Justiz“ in Putins Russland mit ihren Richtern als „Bütteln der Macht“ (S. 83) reicht. Die Einrichtung des Verfassungsgerichts und seine Aktivitäten in den Jahren 1992/93 werden als Bruch mit der bisherigen Rechtstradition und unbeabsichtigte Schaffung eines eigensinnigen, ambivalent agierenden politischen Akteurs rekonstruiert. Mit dem Rückgriff auf „russische Traditionen und Werte“ in der Putin-Ära habe das Verfassungsgericht seine Bedeutung jedoch wieder eingebüßt. Das vierte Kapitel enthält sieben informative Skizzen über spektakuläre Gerichtsprozesse, die als Nachweis einer politisch instrumentalisierten und selektiv vorgehenden Justiz dienen.

Das letzte Kapitel des Buches widmet sich einer Betrachtung der Beziehungen zwischen Russland und der EU und anderen europäischen Institutionen, darunter dem Europäischen Gerichtshof. Abschließend befasst es sich mit dem aktuellen Zustand von zivilgesellschaftlichen und oppositionellen Akteuren. Die substanzielle Aussage des Kapitels bleibt vage: Die Chancen, effektiv auf eine Demokratisierung des „Systems Putin“ einzuwirken, seien im Falle des internationalen Drucks „offen“ (S. 177) und im Falle des Drucks von unten „gering“, wenngleich beide „zweifellos (…) aussichtsreiche Auswege aus der gelenkten Demokratie“ böten (S. 178). Abschließend wird der Gewissheit Ausdruck verliehen, dass eine Öffnung des politischen Systems diesem selbst entspringen werde, nicht aber der „gelenkten“ Gesellschaft. Als „extrem personalistisches und plebiszitäres Regime“ sei es nicht über die Amtszeit Putins hinaus zu stabilisieren. Überdies würden die Imperative der politischen Stabilität sowie der effektiven Modernisierung eine verantwortliche Regierung und eine unabhängige Justiz früher oder später erzwingen.

Das rezensierte Buch ist detailfreudig und informativ. Es stellt einen ambitionierten Versuch dar, sowohl eine umfassende und schlüssige Interpretation der politischen Dynamik Russlands im Allgemeinen als auch des Justizsystems im Besonderen zu entwerfen. Was dabei entsteht, ist ein durchaus „exotisches“ Russlandbild, das der oben angesprochenen öffentlichen Wahrnehmung entgegenkommt. Dies mag der tatsächlichen Spezifik des Landes entsprechen, ist aber vor allem dem konzeptionellen Herangehen der beiden Autorinnen geschuldet. Sie greifen nur wenig auf systematische Fachtermini zurück und konzipieren ihre Beobachtungen der russischen Politik generell als abweichend von (unhinterfragten) westlichen Standards. Das ist nicht immer fruchtbar. So gilt es beispielsweise mittlerweile als politikwissenschaftlicher Gemeinplatz, dass politische Institutionen in gesellschaftlichen Kontexten verwurzelt sein müssen, um gut funktionieren zu können – wenn also ein russischer Präsident die Notwendigkeit ihrer Kontextpassung betont, erwächst allein daraus noch kein legitimer Grund, ihm ein defizitäres Demokratieverständnis zuzuschreiben (S. 27). Auch mit seiner Behauptung, Demokratie könne nur in einem Land mit gesicherter „territorialer Integrität“ funktionieren, ist Putin zunächst einer einflussreichen Strömung in der Demokratisierungsforschung näher als einem „restriktiven Verständnis der freiheitlichen Grundwerte“ (S. 26).

Bei der Erklärung ihrer Beobachtungen gehen die Autorinnen zunächst angenehm zurückhaltend vor. Zwar ist die Wirkungsmächtigkeit von Traditionen ein zentrales Element ihrer Argumentation, sie räumen aber ein, dass diese „eben nur Spurrillen und keine Schienen [sind], von denen nicht abgewichen werden könne“ (S. 15). Traditionen erklärten also im strengen Sinne nichts, könnten aber die Aufmerksamkeit des Beobachters lenken. In der praktischen Umsetzung wird dieser Zugang jedoch durch eine zweite zentrale Argumentationsfigur konterkariert, welche die Ursache von politischen Entwicklungen in den Handlungen und Vorstellungen des jeweiligen russischen Staatsoberhauptes sieht. Eine einzelne Person erscheint also als imstande, die Dynamik des gesamten politischen Systems zu lenken und verantwortet daher auch seine „Fehlentwicklungen“. Um im Bild zu bleiben: Charakter und Weltsicht des Präsidenten verwandeln Spurrillen auf irgendeinem Weg in Schienen, auf denen eine ganze Gesellschaft leider in die falsche Richtung fährt. So heißt es beispielsweise, dass „bereits unter Boris Jelzin“ autoritäre Tendenzen erkennbar gewesen seien, aber „eklatante Versuche, offen gegen die Verfassung zu verstoßen“ „noch fehlten“ (S. 33). Jelzin und Putin hätten aber beide die Verfassung von 1993 unter Berufung auf die Tradition des „übermäßig zentralisierten und personalisierten“ russischen Gemeinwesens „verfehlt“ ausgelegt, nämlich als „präsidentielles Ordnungssystem“ (S. 34). Putin, der „von Jelzin und dem informellen Herrschaftsklan der ‚Familie’ listenreich in das Präsidentenamt gehievt worden“ war (S. 36), bediente sich dann darüber hinaus noch „kraftstrotzender Parolen“, vollzog die „Einebnung aller gewaltenteiligen Elemente“ und installierte „geklonte, entmachtete Doubles der ursprünglichen Gremien“ als „institutionelle Surrogate“ (S. 35-36).

Was an diesem Argumentationsbeispiel auf Widerspruch stößt, durchzieht große Teile des Buches: Erstens birgt es konzeptionelle Widersprüche. Die „Macht der gesellschaftlichen Tradition“ kollidiert als Erklärungsfaktor mit der „Macht der Person“, die ihrerseits durch die „Macht des Informellen“ gebrochen wird. Diese äußert sich in Überschreitungen konstitutionell gesetzter Machtbeschränkungen, in weitverzweigten Elitenetzwerken und deren intransparenter Konkurrenz. Dies aber bedeutet zumindest auch, dass der Präsident doch nicht über die absolute Handlungsfreiheit verfügt – wie insbesondere anhand der Frage des Amtsnachfolgers für Putin tatsächlich auch behauptet (S. 75-81), in seinen konzeptionellen Folgen aber ignoriert wird. Zweitens ist gegen die Darstellung einzuwenden, dass sie regelmäßig Analyse und Bewertung vermischt. Drittens ist zu kritisieren, dass dies oft unter Rückgriff auf – durchaus „süffige“ – Ausdrücke geschieht, die als Stilmittel nicht nur in einem Fachbuch im engeren Sinne fehl am Platze wären, sondern es auch in einem Sachbuch für einen breiteren Adressatenkreis sind, wenn es von Wissenschaftlern geschrieben wurde.

Mit ihrer etwas flach gehaltenen normativen Position verschenken die Autorinnen eine Chance, die aus der Interpretation gerade der russischen Politik erwachsen könnte: Tatsächlich sehen sich moderne Gesellschaften einer Vielfalt von Herausforderungen gegenüber, denen Arrangements der liberalen Demokratie möglicherweise nicht gewachsen sind. Die Diskussion darüber wird in der Demokratieforschung inzwischen offen geführt. Warum wird aber die Untersuchung moderner Autokratien – wie sie das aktuelle Russland darstellt – so wenig von einem sachlichen Interesse daran geleitet, wie, mit welcher Effektivität und welchen politischen und sozialen Kosten dort versucht wird, solchen Herausforderungen zu begegnen?

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Thema
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension