Erschüttert über das despektierliche Verhalten und die Aufmüpfigkeit von Teilen der jungen Generation berichtete die „Deutsche Tagespost“ 1956: „Die Halbstarken von heute, das ist die HJ des Wirtschaftswunderlandes. [...] Sie terrorisieren uns, weil wir nicht mehr so viel Mark in den Knochen haben, dass wir dem moralischen Nihilismus ein Gran Autorität und eine feste Hand zu zeigen wagen.“ (bei Kurme, S. 260) Ähnliche Töne der moralischen und politischen Entrüstung waren in den 1950er-Jahren auch auf der anderen Seite des Atlantiks zu hören. Ein US-amerikanischer Psychotherapeut etwa verglich 1957 das Bedrohungspotenzial von Rock’n’Roll, der musikalischen Inspiration der rebellierenden Jugend, mit dem italienischen Faschismus: „Why are the rhythmical sounds and motions so especially contagious? A rhythmical call to the crowd easily foments mass ecstasy: ‚Duce! Duce! Duce!’“ (ebd., S. 164)
Mit dem Voranschreiten der Archivsperrfristen und nach dem jüngsten Jubiläumsjahr von „1968“ nähert sich die deutsche Zeitgeschichtsforschung nun zunehmend den Entwicklungen der 1970er- und 1980er-Jahre. Dass jedoch auch die gemeinhin als bearbeitet geltenden 1950er-Jahre noch durchaus neue historiographische Impulse freisetzen und Leerstellen der Forschung aufzeigen, beweisen die Dissertation von Sebastian Kurme und ein Sammelband von Detlef Briesen und Klaus Weinhauer zum Thema jugendlicher Dissens, Delinquenz und gesellschaftlicher Wandel.
In seiner Studie zu den „Halbstarken“ untersucht Kurme vergleichend den Jugendprotest der 1950er-Jahre in der Bundesrepublik und den USA. Seine Arbeit bietet einen hervorragenden Einstieg in die kulturellen, sozialen und politischen Implikationen dieses Phänomens auf beiden Seiten des Atlantiks. Kurme versteht den Diskurs über den Zustand der Jugend generell, und insbesondere in den 1950er-Jahren, als kollektive Selbstvergewisserung über Wertvorstellungen, Hoffnungen und Zukunft einer Gesellschaft. Das Verhalten der Jugend sowie die öffentliche Diskussion darüber sei Ausdruck und Gradmesser gesamtgesellschaftlicher Transformationsprozesse.
Aus wechselnden Perspektiven skizziert Kurme die Gesellschaft der 1950er-Jahre in den USA und der Bundesrepublik, die Situation der Jugend, die Gruppe der „Halbstarken“ und „Juvenile Delinquents“, die Reaktionen der Öffentlichkeit sowie die Entstehung einer Teenager-Kultur. Er ist bestrebt, jegliche Nostalgie und Eindimensionalität im Hinblick auf die 1950er-Jahre zu überwinden, und zeichnet ein vielschichtiges Bild dieses Jahrzehnts, das geprägt war von Suburbanisierung, Rassentrennung und „domestic containment“ (Elaine Tyler May) auf der einen sowie von Wiederaufbau, Westorientierung und restaurativen Wertvorstellungen auf der anderen Seite. Neben dem allgegenwärtigen Einfluss antikommunistischer Ideologie auf beiden Seiten des Atlantiks beschreibt Kurme die strukturellen Rahmenbedingungen für die Entstehung jugendlichen Konfliktverhaltens: einen nachhaltigen wirtschaftlichen Boom; eine Konsum-/Kulturindustrie, die die junge Generation zunehmend als Zielgruppe entdeckte; die Anziehungskraft von Filmen wie „The Wild One“ (1953) und „Rebels Without a Cause“ (1955) mit ihren Ikonen Marlon Brando und James Dean; den musikalischen Aufstieg von Rock’n’Roll und seinen jugendlichen Symbolfiguren wie Bill Haley und Elvis Presley.
Wie andere vor ihm betont Kurme das ambivalente Verhältnis zwischen jugendlicher Rebellion und Kommerzialisierung.1 Ob Elvis-Tolle, Blue Jeans, Lederjacke, T-Shirt oder Hot Rod – die „Halbstarken“ könnten, so Kurme, keinesfalls als „passive und manipulierte Objekte einer profitorientierten Jugendindustrie“ gelten (S. 277). Vielmehr nutzten sie die Angebote des Marktes offensiv zur eigenen Stilbildung und zur Herausforderung gesellschaftlicher Autoritäten. Obwohl Kurme hierbei eine gewisse „Abschleifung des Protestcharakters“ konstatiert (S. 268), wendet er sich gegen die These einer industriellen Domestizierung der „Halbstarken“ und ihrer Überführung in eine gebändigte, harmlose Teenager-Kultur. Letztere sieht er vielmehr als Ausdruck einer Diffusion von nonkonformistischen Stilformen in breitere gesellschaftliche Trägergruppen.
Das Verdienst des Buches liegt nicht nur in der detaillierten Nachzeichnung von jugendlichem Dissens auf lokaler Ebene und in komparativer Perspektive sowie der reichen empirischen Grundlage, die Kurme aus gewissenhafter Auswertung von deutschen und amerikanischen Tageszeitungen, Bundestagsreden, Polizei und Justizakten (wenn auch hier vornehmlich von deutscher Seite) und den Anhörungen vor dem „Senate Subcommittee to Investigate Juvenile Delinquency“ des US-Kongresses herstellt. Kurme gelingt es auch aufzuzeigen, wie die gesamtgesellschaftliche Reaktion auf die „Halbstarken“ den Diskurs über das Phänomen prägte, steuerte und zum Politikum machte. Neben dem Verdacht kommunistischer Steuerung und der pauschalen Kategorisierung als Jugendkriminalität sind die eingangs zitierten, weit zirkulierenden Erklärungsmodelle, die jugendliches Protestverhalten in die Nähe faschistischer Bewegungen rückten, hierbei besonders aufschlussreich. Der Überblickscharakter der Arbeit hindert Kurme leider oftmals daran, diesen und ähnlichen Diskursen sowie ihren potenziell transnationalen Implikationen weiter nachzugehen. Ein stärker thematisch orientierter Aufbau hätte unter Umständen eine größere Tiefenschärfe ermöglicht und zur Vermeidung von Wiederholungen im Text geführt.
Kurme setzt sich insofern von früheren Arbeiten ab, als er sich mittels des historischen Vergleichs aus einer engen, nationalgeschichtlichen Perspektive löst, die „Halbstarken“ als generationsspezifisches Phänomen und nicht als rein subkulturelle Erscheinung betrachtet, die Reaktion des „Establishments“ prominent beleuchtet und sich der traditionellen Unterscheidung zwischen instrumentellen Proteststrategien und expressiven Formen von Dissens verweigert. Um die Frage nach der politischen Dimension des Phänomens zu beantworten, interpretiert Kurme das Verhalten der „Halbstarken“ als Form des sozialen Protests (nach Werner Giesselmann), nämlich als ein „Widerspruch und Widerstand artikulierendes, manifestes Konfliktverhalten [...], das durch sozialbedingte Ursachen und Motive hervorgebracht wird und die gesellschaftlichen Normen verletzt“ (S. 26). Unter Bezugnahme auf Rainer Paris’ Definition vom „schwachen Dissens“ sieht er das Verhalten eines Teils der westdeutschen und amerikanischen Jugend so als symbolisch-expressive Kritik an der Gesellschaft der 1950er-Jahre, die sich in einem eigenen Stil und Habitus zeigte – zum Beispiel im Hinblick auf äußere Erscheinung oder Sprache. Kurme betont insbesondere den Selbstinszenierungscharakter des jugendlichen Protests, welcher die Öffentlichkeit herausgefordert habe. Seiner Ansicht nach war es gerade die explizite argumentative Indifferenz der „Halbstarken“, die auf die Gesellschaft bedrohlich wirkte, sie in den Augen der Öffentlichkeit in den Bereich der Kriminalität rückte und auch von Altergenossen eine zum Teil scharfe Gegenreaktion provozierte.
Der von Detlef Briesen und Klaus Weinhauer herausgegebene Sammelband vertieft die Analyse insbesondere des Diskurses über Jugendkriminalität nach 1945 in transatlantischer Perspektive. Die Herausgeber beschreiben die defizitäre und in verschiedene Disziplinen aufgesplitterte Forschung zu diesem Thema und plädieren für eine transnational-vergleichende und transdisziplinäre Perspektive, mit deren Hilfe eine Vielzahl von Forschungslücken geschlossen werden könnte – in Bereichen wie der Arbeitswelt von Jugendlichen, Geschlechterkodierungen, sozio-kulturellen Räumen, Interaktionen mit gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen, Gewaltpraktiken, Körperlichkeit und Emotionen sowie medialen Inszenierungen.
Eine dieser Leerstellen beginnt der Beitrag von Ralf Stremmel zu füllen, der die Reaktion von Lehrlingen und jungen Arbeitnehmern auf die „Halbstarken“ und die 68er-Bewegung schildert. Stremmel stellt dar, wie sich Lehrlinge bei Krupp (zugegebenermaßen unter den Augen der Unternehmensleitung) in der Werkszeitschrift von den „Halbstarken“ abgrenzten. Die Lehrlinge suchten, so Stremmel, einen „’Dritten Weg’ zwischen Provokation und Konformität“ (S. 31), indem sie die Vorteile der Konsum- und Freizeitindustrie in ihren Lebensentwurf integrierten, sich jedoch gleichzeitig gegen die Kultur der Erwachsenen und Ausbilder abgrenzten. Auch von „1968“ ließ sich die Mehrheit der Lehrlinge nur bedingt politisch mobilisieren, und ihre vereinzelten Proteste wurden oftmals vom Entgegenkommen der Betriebsleitung ausgehebelt.2
Detlef Briesen befasst sich mit der zu Beginn der 1970er-Jahre in der Bundesrepublik einsetzenden „Drogenwelle“. Das Konsumverhalten seit 1945 nachzeichnend, untersucht der Autor anhand von Fallstudien zu Köln und Bayern die Entwicklung von der Haschischwelle der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre zur Junkieszene im folgenden Jahrzehnt. Dabei sieht Briesen eine im Zuge von „1968“ einsetzende gesellschaftskritische Dimension des (oftmals von sozial bessergestellten Schichten öffentlich zelebrierten) Drogenkonsums bis etwa 1972 über den Gebrauch harter Drogen allmählich in eine Fixerszene umschlagen. In dieser Phase veränderte sich nicht nur das Alter der Konsumenten stark (der Gebrauch von Haschisch verbreitete sich 1970–1975 nun mehrheitlich bei den damals unter 20-Jährigen), sondern dehnte sich auch in sozial schwächere Schichten aus. Dies führte zu einer breiten gesellschaftspolitischen Reaktion und staatlichen Initiativen, die Betäubungsmittelkonsum fortan weniger als rein kriminelles Problem, sondern vielmehr als soziales und gesundheitliches Thema verstanden. Briesen zufolge muss man trotz scheinbarer kultureller Überlappungen der beiden Szenen den Gebrauch harter Drogen von der Cannabisszene trennen. Ungeachtet der medialen Überhöhung des Drogenkonsums im Zuge von „1968“ sei die in den frühen 1970er-Jahren einsetzende Drogenwelle von sozial, kulturell und altersmäßig anders zusammengesetzten Gruppen getragen worden (S. 67).
Klaus Weinhauer beschreibt jugendliche „Gruppenkriminalität“ in den 1950er-Jahren, die Beatkrawalle und Subkulturen der 1960er-Jahre sowie delinquente Jugendliche in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren – stets in der Wahrnehmung der Hamburger Polizei. Weinhauer legt dar, wie sich die Polizei seit Mitte der 1960er-Jahre der kontinuierlichen Erfassung und Beobachtung von potenziell straffälligen Jugendlichen widmete und im Laufe des folgenden Jahrzehnts zunehmend präventiv zu wirken versuchte. Dies wurde jedoch verkompliziert durch die Entstehung eines subkulturellen „Underground“, durch den Kriminalität nicht nur räumlich, sondern auch sozial stark entgrenzt wurde. Eine dezentralisierte, in die Gesellschaft zurückgezogene Drogenszene erschwerte klare Zuordnungen krimineller Aktivitäten. Die Polizei war laut Weinhauer daher weder analytisch noch administrativ in der Lage, der Wandlung der Kriminalität in ein gesellschaftliches Alltagsphänomen gerecht zu werden.
Die Jugendunruhen in Frankreich aus dem Jahr 2005 zum Anlass nehmend, untersuchen Dirk Hahn, Martina Sauer und Faruk Şen in ihrem „Werkstattbericht“ die aktuelle Integration junger türkischstämmiger Migranten in Nordrhein-Westfalen. Die von ihnen angeführten Daten widerlegen weitestgehend die These einer sozialen Isolation von Migranten bzw. die Entwicklung einer Parallelgesellschaft. Sie zeigen jedoch deutlich, und das ist alarmierend, eine „erschreckend hohe Diskriminierungswahrnehmung“ auf Seiten der Migranten (2004 zum Beispiel von 78,3 Prozent). Auch wenn dieser Beitrag nicht historisch orientiert ist und aus dem Sammelband etwas herausfällt, ist zu hoffen, dass er weitere Forschungen über die Wahrnehmung, Interaktion und Wandlung von ethnisch geprägten Jugendkulturen seit 1945 anregt.
Ethnische Zugehörigkeit spielt auch in Eric C. Schneiders Beitrag über US-amerikanische Jugendgangs nach dem Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle. Schneider sieht den Rahmen für die Entstehung dieser Gangs in den sozialen Spannungen, resultierend aus der Migration von Afro-Amerikanern in die Städte des Nordens, infrastrukturellen Versäumnissen der Städteplaner, einer Suburbanisierung der Mittelklasse sowie einer Veränderung der städtischen Arbeitsmarktstruktur. Die Jugendgangs seien ein urbanes Phänomen der sozial schwächeren Schichten; sie seien gekennzeichnet durch ein starkes Territorialbewusstsein, gesellschaftliche Entfremdung, strikte Hierarchisierung, Ritualisierung und maskulines Rollen-/Konfliktverhalten. Die von ihnen ausgehende Kriminalität sei eher expressiver Natur gewesen, konnte jedoch zum Teil tödliche Auswirkungen haben. Schneider besteht zu Recht darauf, die kriminellen Dimensionen der Jugendgangs von ihren populären Repräsentationen und der kommerzialisierten Teenager-Kultur zu trennen. Auch in seinem Beitrag wird die Notwendigkeit deutlich, jugendliches Verhalten in der Forschung stärker als bisher aufgrund der sozialen Hintergründe zu differenzieren.
Detlef Briesen weist in einem zweiten Beitrag über jugendliche Drogenkonsumenten im New York der 1940er- und 1950er-Jahre darauf hin, dass die Wurzeln der oftmals mit den 1960er-Jahren assoziierten Zunahme im jugendlichen Drogenkonsum in den USA in den vorangegangenen Jahrzehnten und in den sozial schwächeren Schichten zu suchen sind. Seit 1947/48 avancierte der Drogenkonsum in New York zu einem stark von afro-amerikanischen oder hispanischen Jugendlichen geprägten Phänomen. Mit kritischem Bezug auf die Ergebnisse zeitgenössischer sozialwissenschaftlicher Studien betont Briesen vor allem die Auswirkungen dieses Phänomens auf die US-Drogenpolitik der darauffolgenden Jahrzehnte, die Abhängigkeit und Missbrauch weniger als moralisches Versagen denn als Resultat sozialer Benachteiligung und Krankheit einzuschätzen lernte.
In einem letzten, leider sehr deskriptiven Beitrag befasst sich Petula Iu schließlich mit der Repräsentation von Frauen in US-amerikanischen „Delinquency Films“. Iu zeigt, wie diese Filme das Ideal der US-amerikanischen Kernfamilie als Leitmotiv für ihre Protagonistinnen aufbauten, die durch ihr nonkonformes Verhalten, ihre Sexualität oder kriminelles Handeln auf Abwegen geraten waren. Dysfunktionale Familienstrukturen erscheinen hier als eine der Hauptursachen für jugendliches Fehlverhalten. Solche Filme formulierten laut Iu daher den Appell, die traditionelle Familie zu bewahren – zur Vorbeugung und zum Schutz gegen ein Abrutschen in jugendliche Delinquenz.
Briesen und Weinhauer haben einen Band zusammengestellt, der in vielfältiger Hinsicht wissenschaftliche Inspiration bietet. Da sich der Diskurs über Jugendkriminalität, Delinquenz und Devianz in Abhängigkeit veränderlicher Definitionen von Jugend, gesellschaftlichen Normen und juristischen Rahmenbedingungen konstituiert, erlaubt der Blick auf die in den einzelnen Beiträgen behandelten Themen nicht nur eine größere Differenzierung sozialer Trägergruppen von Protest- und Konfliktverhalten nach 1945, sondern legt auch neue historische Kontinuitäten frei.
Beide Publikationen demonstrieren darüber hinaus den substantiellen Gewinn, den komparative sowie transnationale Perspektiven für die Erklärung nationaler Vorgänge bieten. Eine weitere Gemeinsamkeit ist das Bemühen, die 1950er- und 1960er-Jahre in längerfristige gesellschaftliche Wandlungsprozesse einzubetten. So werden nicht zuletzt populäre Repräsentationen der "68er" entkräftet und deren historische Rolle klarer kontextualisiert.
Anmerkungen:
1 Siehe hier insbesondere Kaspar Maase, BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg 1992; Uta Poiger, Jazz, Rock, and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley 2000; Detlef Siegfried, Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006; Axel Schildt / Detlef Siegfried (Hrsg.), Between Marx and Coca-Cola. Youth Cultures in Changing European Societies, 1960–1980, New York 2006.
2 Auch hier fehlen leider noch weitergehende Studien. Ausnahmen bilden Marica Tolomelli, Repressiv getrennt oder organisch verbündet: Studenten und Arbeiter 1968 in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien, Opladen 2001; Bernd Gehrke / Gerd-Rainer Horn (Hrsg.), 1968 und die Arbeiter. Studien zum „proletarischen Mai“ in Europa, Hamburg 2007.