Brüche und Kontinuitäten im Musikleben nach 1945 bieten der Forschung nach wie vor ein weites Feld. Gerade im Bereich der Musik setzte die Erforschung von Ausgrenzung und Verfolgung (unter anderem die Exilmusikforschung) etwa 15 Jahre später ein als etwa in der Literaturwissenschaft. Daher ist es nicht ungewöhnlich, dass gegenwärtig – allerdings ebenfalls mit großer Verspätung – eine verstärkte Hinwendung zu den „Täter“-Eliten in der Musik erfolgt. Toby Thacker hat für seine Untersuchung „Music after Hitler“ die ersten zehn Jahre des deutschen Musiklebens nach Kriegsende herausgegriffen. Im ersten Teil des Buches versucht er, die Handhabung der „Entnazifizierung“ von Musik und MusikerInnen sowie deren „Re-education“ in den vier Besatzungszonen zu vergleichen (1945–1949). Der zweite Teil fokussiert auf den innerdeutschen Beitrag zu einem Wiedererstehen der Musikkultur in den Jahren der „Semi-sovereignty“ 1949 bis 1955.
Der Titel weckt große Erwartungen, vor allem dahingehend, dass ein „Missing link“ der deutschen – und auch österreichischen – Musikgeschichte in der unmittelbaren Nachkriegszeit geschaffen würde. Thacker hat eine Fülle von Akten eingesehen. Der Vergleich, der in Bezug auf bürokratische Strukturen der Besatzungsmächte an sich spannend zu lesen ist, muss allerdings als gescheitert betrachtet werden. Während Thacker eingehend versucht hat, die Kulturpolitik der Briten, der Amerikaner und am Rande auch jene der Franzosen zu beleuchten, stützt er sich für die Darstellung der Haltung der sowjetischen Besatzungsmacht lediglich auf deutschsprachige Akten und lässt die Akten der Sowjetischen Militärregierung in Deutschland außer Acht.1
Um solch umfassende Vergleiche im Bereich der Musikpolitik tätigen zu können, fehlen zurzeit oftmals noch lokale, mikrohistorische sowie eingehendere biografische, von „verherrlichenden Künstlerbiografien“ abweichende Untersuchungen. Dies erwähnt Thacker auch selbst (S. 12). Dass darüber hinaus weder der (musik)wissenschaftliche Diskurs zum Thema noch einschlägige Publikationen hinreichend rezipiert wurden, ist unverständlich. So manches Werk vor allem der neuesten deutschsprachigen Forschungsliteratur hat Thacker außen vor gelassen.2 Über weite Strecken gewinnt man den Eindruck, dieses oder jenes auch schon woanders gelesen zu haben – etwa in den autobiografischen Darstellungen eines Alexander Abusch oder eines Hans Pischner3 –, ohne dass Thacker explizit darauf verweist. Ein Blick auf die österreichische Forschungslandschaft zur Kulturpolitik in den Besatzungszonen (besonders zum Taktieren um Auftrittsgenehmigungen NS-belasteter MusikerInnen) hätte ebenfalls nicht geschadet.
Ein besonderes Beispiel ist etwa der Verweis, dass der Dirigent Eugen Jochum gemeinsam mit Jack Bornoff, dem ersten britischen „Music Controller“ des Nordwestdeutschen Rundfunks in Hamburg, im Sommer 1945 nach Linz gefahren sei, um Mitglieder des „Reichsbruckner-Orchesters“ anzuwerben. Es stimmt bedenklich, dass der ab 1940 in Linz zunächst als Musikdirektor der Stadt, später als Leiter des so genannten „Reichs-Bruckner-Orchester St. Florian des Großdeutschen Rundfunks“ tätig gewesene Bruder Georg Ludwig Jochum bei Thacker zu „Hans Jochum“ mutiert (S. 40). Zudem stammt diese Information aus einem der vier von Thacker geführten Oral-History-Interviews und wurde nicht näher überprüft. Ebenso fehlt jeglicher Gender-Bezug. Von wenigen Ausnahmen abgesehen – etwa Elly Ney und Elisabeth Schwarzkopf – behandelt Thacker die „üblichen verdächtigen“ Männer der Musikgeschichte. Leider bleibt der Vergleich somit auch in Bezug auf handelnde Personen an der Oberfläche und bietet wenig neue Erkenntnisse.
Nimmt man den zweiten Teil des Buches in Augenschein, so entsteht leider der Eindruck eines Sammelbandes, von dem Teile explizit schon vorher als Aufsätze erschienen sind.4 Es werden einzelne Themen der deutschen Nachkriegsmusikgeschichte aneinandergereiht, vom deutsch-deutschen Diskurs und Konkurrenzkampf zwischen Bundesrepublik und DDR im Bach-Jahr 1950 bis hin zu Jazz und Tanzmusik in der DDR. Während Thacker betont, dass „Musik“ als Genre in seiner Arbeit nicht eingegrenzt werde, sondern sich auf Bereiche und Personen in der Musik beziehe, „which appeared most politically charged“ (S. 5), so bleibt er – das Kapitel „Tanzmusik“ ausgenommen – doch mehr oder weniger der „ernsten Musik“ verhaftet.
Dem Buch hätte es gut getan, wenn Toby Thacker einen der beiden Teile vertieft oder eine Genre-Eingrenzung getroffen hätte. Der Anspruch, zehn Jahre deutscher Nachkriegsmusikgeschichte abzudecken – nicht zuletzt auch europäischer Musikgeschichte –, war und ist derzeit (noch) nicht zu erfüllen. „Music after Hitler“ sollte als Anreiz für weitere Forschungen gesehen werden.
Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Möller, Horst; Tschubarjan, Alexandr O. (Hrsg.), Die Politik der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD): Kultur, Wissenschaft und Bildung 1945–1949. Ziele, Methoden, Ergebnisse, Dokumente aus russischen Archiven, München 2005.
2 Es ist hier nicht der Ort, um alle Werke jüngeren und älteren Datums aufzuzählen, die hätten einbezogen werden sollen. Es fehlen sowohl Werke der englischsprachigen Forschungsliteratur wie etwa die Dissertation von Joy Haslam Calico, The Politics of Opera in the German Democratic Republic, 1945–1961, phil. Diss. Duke University 1999, als auch neueste deutschsprachige Forschungsarbeiten wie etwa von Foerster, Isolde; Hust, Christoph; Mahling, Christoph-Hellmut (Hrsg.), Musikforschung, Faschismus, Nationalsozialismus, Mainz 2001, 2. Aufl. 2004;
Grochulski, Michaela G.; Kautny, Oliver; Keden, Helmke Jan (Hrsg.), Musik in Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Mainz 2006; Tischer, Matthias (Hrsg.), Musik in der DDR. Beiträge zu den Musikverhältnissen eines verschwundenen Staates, Berlin 2005.
3 Abusch, Alexander, Mit offenem Visier. Memoiren, Berlin (Ost) 1986; Pischner, Hans, Premieren eines Lebens. Autobiographie, Berlin (Ost) 1986.
4 Siehe u.a.: Thacker, Toby, „Renovating“ Bach and Handel: New Musical Biographies in the German Democratic Republic, in: Pekacz, Jolanta (Hrsg.), Musical Biography: Towards New Paradigms, Aldershot 2006, S. 17-41; ders., The fifth column: dance music in the early German Democratic Republic, in: Major, Patrick; Osmond, Jonathan (Hrsg.), The Workers’ and Peasants’ State: Communism and Society in East Germany under Ulbricht, 1945–71, Manchester 2002, S. 227-243.