G. Wimböck u.a. (Hrsg.): Reichweiten visueller Wahrnehmung

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Title
Evidentia. Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit


Editor(s)
Wimböck, Gabriele; Leonhard, Karin; Friedrich, Markus
Published
Berlin 2007: LIT Verlag
Extent
536 S.
Price
€ 49,90
Reviewed for H-Soz-Kult by
Angela Fischel, Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik, Humboldt-Universität zu Berlin

Wie visuelle Wahrnehmungen zur Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis werden konnten und wie ausgerechnet Bilder, diese durch und durch kulturell geprägten Repräsentationen, in den Stand gesetzt wurden, dieses Wissen zu vermitteln, war bereits Gegenstand zahlreicher Studien. Die Publikationen zum Problemkreis Bild und Wissenschaft konzentrierten sich dabei oft auf den scheinbaren Widerspruch zwischen dem konstruierten Charakter von Bildern und ihrer Wissenschaftsfähigkeit.

Auch die Aufsatzsammlung „Evidentia. Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit“ zielt auf dieses Themenfeld. Der Band geht auf eine gleichnamige Tagung zurück, die im Februar 2005 an der Universität München veranstaltet wurde. Visuelle Evidenz wird hier jedoch nicht als ausschließlich wissenschaftshistorische Frage behandelt; den Herausgebern liegt an einer Horizonterweiterung, die den Blick auch für Fragen der Pädagogik, der Rechtsgeschichte, der Religionsgeschichte sowie der Historiografie öffnet. Mit der Frühen Neuzeit wird zudem ein Zeitraum behandelt, dem eine Schlüsselrolle in der Entwicklung der modernen Visualität zukommt und in dem Bilder im religiösen wie auch im wissenschaftlichen Kontext höchst kontrovers diskutiert wurden. Ausdrückliches Ziel der Herausgeber ist es, die für diese Zeit charakteristische „wandelhafte Rolle der Opsis“ (S. 14) weniger durch die Konzentration auf ein Thema als vielmehr durch eine Auffächerung des Problems in Bezug auf die unterschiedlichen Bedürfnisse, Ansprüche und Reichweiten von Wahrheit angemessen darzustellen.

Dementsprechend vielseitig ist der Eindruck, den die einundzwanzig in diesem Band versammelten Autorinnen und Autoren vermitteln. Die Beiträge sind fünf Kapiteln zugeordnet, die entgegen dem Titel eher das Sehen als die Evidenz in den Mittelpunkt stellen. Unterschieden werden „Sehen und Evidenz“, „Sehen und Erfahrung“, „Sehen und Wissenschaft“, „Sehen und Glauben“ und „Geschichten des Sehens“. Besonders die Beiträge des ersten Kapitels widmen sich dabei dem Zusammenhang von Evidenz und Bildlichkeit um 1600, wobei mehrfach auf die antiken Wurzeln des Begriffs „Evidentia“ hingewiesen wird. In den antiken Texten zur Rhetorik wird Evidentia als Effekt des Zusammenspiels von Lebendigkeit in der Schilderung (energeia) und detaillierter Darstellung (energaia) eines Gegenstands beschrieben (Jan-Dirk Müller, S. 61). Beide Techniken der Erzeugung von Evidenz sind in der Frühen Neuzeit unmittelbar verbunden, wie Müller anhand von Sebastian Brandts „Narrenschiff“ darstellt. In den wissenschaftlichen Abbildungen, die seit Mitte des 16. Jahrhunderts in Gebrauch kommen, so Müllers These, trete jedoch die Lebendigkeit, die energaia, mehr und mehr zurück. Poetische und nicht-poetische Wahrheit treten hier auseinander, da die „energetisch“ hergestellte Evidenz nur sekundär auf Erkenntnis ziele und primär auf affektive Reaktionen (S. 76). Sie sei daher für die naturwissenschaftliche Erkenntnis nicht mehr das geeignete Mittel.

Mit dem Auseinandertreten künstlerischer und wissenschaftlicher Evidenz ist eine der spannendsten Fragen der Bildgeschichte der Frühen Neuzeit angesprochen, die auch die Studie von Markus Völkel aufgreift. Anhand der argumentativen Verschränkung von Karte und Text in der Historiografie des 17. Jahrhunderts zeigt er, wie empirische und rhetorische Evidenz in eine neuartige Konstellation zueinander treten. Dabei wird hier zusätzlich die in diesem Zusammenhang besonders interessante Frage aufgeworfen, wie sich denn politische Autorität und Wahrheit zueinander verhalten, inwieweit also „das Gesehene im Horizont der Autorität steht“ (S. 86).

Viele Beiträge des Bandes lassen sich unmittelbar als Reaktionen auf die diskussionswürdige Ausgangsthese lesen. Zuweilen widersprechen sie dieser These jedoch direkt. So zeigen die Zeichnungen, Kupferstiche und Radierungen mikroskopischer Beobachtungen – auch wenn sie immer tote Präparate präsentieren – deutliche Kennzeichen von beiden Aspekten der "Evidentia". Sie sind äußerst detailliert, wirken aber aufgrund ihrer Feinheit auch lebendig und geradezu suggestiv eindringlich. Nur dadurch geraten sie „zu Zeichen tatsächlicher Evidenz“ (Karin Leonhard, S. 245). Auch Horst Bredekamps Analyse der unterschiedlichen Bildrhetoriken, deren sich Christoph Scheiner und Galileo Galilei bei der Darstellung von Sonnenflecken bedienten, kann als Widerlegung der Eingangsthese gelesen werden.

Inwieweit die Lebendigkeit der Darstellung einen Evidenzeffekt darstellt, der in der Frühen Neuzeit an Geltung verliert, ließe sich auch anhand der Ausführungen Klaus Krügers über die Medienrhetorik von Andachtsbildern überdenken. Authentisierungs- und Fiktionalisierungsstrategien werden auf diesen Bildern, so Krüger, in ein „kontradiktorisches Ineins“ (S. 416) gesetzt, was zugleich für eine ausgesprochen bildreflexive Auffassung im Kontext des christlichen Andachtsbildes spricht. Evidenz ist mithin keine Eigenschaft, die Bildern per se gegeben ist, sondern ein Effekt klarer Bildstrategien und -rhetoriken. Zudem wird sie kontextuell, durch Autorisierung, Bildargumentationen und -diskussionen verankert. Auch der von Hartmut Böhme beobachtete „Einzug der Dinge in die Welt der Bilder“ (S. 354) beschreibt einen grundsätzlich medienreflexiv verlaufenden Prozess und unterstreicht damit erneut, dass die Bildreflexion in der Frühen Neuzeit zu einer wichtigen Strategie der Erzeugung von Evidenz avancierte.

Diese bildreflexiven Strategien drängen geradezu auf einen Vergleich mit den wahrnehmungsreflexiven Erkenntnistheorien des 17. und 18. Jahrhunderts, die in den folgenden Beiträgen geschildert werden. Dies kommt besonders in Catherine Wilsons Darstellung von John Lockes radikalem Skeptizismus zum Tragen, der anzweifelte, dass unsere zufälligen und ungenauen Wahrnehmungen von Erscheinungen zur Erkenntnis der Natur reifen können. Dem steht Pierre Gassendis verhaltener Optimismus, seine differenzierte und kritische Lektüre mikroskopischer Bilder, gegenüber. Dabei geht es längst nicht mehr um singuläre Bilder, vielmehr werden die in ihnen verhandelten Themen stets in ein ganzes Gefüge von Texten, Bildern und Experimenten gestellt; eine Aussage, die weit über die wissenschaftliche Praxis hinaus gilt. Werner Buschs Analyse von Techniken und Gestaltungen von Reproduktionsgrafiken in der Kunst, besonders des Hell-Dunkel der Aquatinta-Technik, verdeutlicht, wie sehr sich künstlerische Techniken den wissenschaftlichen Vorstellungen von Wahrnehmung anpassten. Dieses Beispiel veranschaulicht zudem auch die Eigendynamik von Reproduktionen, auch wenn sie als Reproduktionsgrafik mit dem Anspruch angefertigt werden, ein authentisches wie sachdienliches Nachbild eines Vorbildes zu vermitteln.

Damit ist eine Logik beschrieben, die unterschwellig die gesamte Diskussion um die Wirkungsweise von Bildern und ihrer Evidenz berührt und die nur selten, so im Beitrag von Peter Bexte zur Visualisierung von nicht-sichtbaren, magnetischen Kräfte in Diagrammen, durchbrochen wird.
Die Überzeugung, dass Bilder Nachahmungen seien, gehört einerseits zu den zentralen Authentisierungsstrategien bildlicher Argumentation, sie spricht Bildern andererseits Konstruktivität und Eigendynamik ab. Viele Artikel unterlaufen erfolgreich diese reduktionistische Bildtheorie. Die in ihr vorformulierte Idee von der Nachträglichkeit der Bilder prägt jedoch nicht nur Bildtheorien, sie wurde in der Folge auch zum Paradigma der menschlichen Wahrnehmung selbst. Mit der Beschreibung des Sehens als rein optischer Projektion von Vorbildern in Netzhautbilder wird die platonische Bildtheorie auf die Theorie der Wahrnehmung des Menschen selbst übertragen, wie Barbara Dudens Beitrag zu Ivan Illichs kulturkritischen Studien zeigt. Die Vorstellung vom Auge als passivem Empfangsorgan wird zum grundlegenden Dogma moderner Wahrnehmung; für Ivan Illich wurde es zum Drehpunkt seiner Kulturkritik.

Damit sind nur einige der zahlreichen Argumentationsstränge umrissen, die sich quer zu den Überschriften durch das Buch ziehen. Sie zu entdecken, stellt an den Leser hohe Ansprüche. Damit ist ein generell problematischer Punkt von Tagungsbänden angesprochen, der aber bei diesem hochkarätig besetzten Buch besonders auffällt. Das hier versammelte Fachwissen ist immens und hätte eine stärker pointierte Ausarbeitung verdient, als „nur“ die Dokumentation eines Arbeitstreffens. So wertvoll Momentaufnahmen von aktuellen Forschungen und die Dokumentation von Tagungen sind, die Potentiale der Beiträge dieses Buches bleiben damit unausgeschöpft. Dies liegt weder an den Herausgebern noch an den Beiträgen, sondern an den Zwängen des Forschungsbetriebs, der die Produktion durchkonzipierter Bücher fast unmöglich macht. Das merkt man auch diesem ansonsten sorgfältig edierten Buch an, aus dem ein Lektor nicht nur Tippfehler, sondern eine zuweilen fast knöcherne Sprache vielleicht eliminiert hätte. Viel wäre schon gewonnen, wenn die Autoren Bezug aufeinander genommen hätten. Doch selbst wenn ein identisches Thema verhandelt wird, wie etwa der Zusammenhang von Evidenz und Rhetorik, gibt es im Buch keinerlei Querverweise.

Doch sind dies, wie gesagt, klassische Merkmale von Tagungsbänden und kein spezielles Problem dieses Buches. Wenn nach seiner Lektüre das Bedürfnis nach Mehr entsteht, so ist dies vor allem seiner Qualität zu verdanken, in einer profunden und überaus differenzierten Analyse des Zusammenhangs von Bild und Evidenz Maßstäbe zu setzen.

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