Titel
Als Demokrat in der Paulskirche. Die Briefe und Berichte des Jenaer Abgeordneten Gottlieb Christian Schüler 1848/49


Herausgeber
Möller, Frank; Schüler, Sibylle
Reihe
Veröff. d. Hist. Kommission für Thüringen, Große Reihe 9
Erschienen
Köln 2007: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
339 S., 4 Abb.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Jansen, Institut für Geschichte und Kunstgeschichte der TU Berlin

Die Edition des Briefwechsels des demokratischen Paulskirchenabgeordneten Gottlieb Christian Schüler mit seiner in Jena gebliebenen Familie sowie weiterer Dokumente aus dessen parlamentarischer Tätigkeit hilft, einen der interessantesten und hellsichtigsten 1848er wieder zu entdecken.

Der 1798 geborene Schüler hatte eine für die radikale, bürgerlich-intellektuelle Opposition des Vormärz, aus der viele führende Demokraten in der Paulskirche kamen, typische Biographie: Er hatte am Wartburgfest teilgenommen, gehörte zum Führungszirkel der Urburschenschaft und hatte im liberalen Kleinstaat Sachsen-Meiningen eine steile Justizkarriere gemacht, die allerdings wegen seines politischen Engagements immer wieder an Grenzen stieß. Seit 1838 war Schüler Rat am gemeinsamen Oberappellationsgericht der thüringischen Staaten in Jena.

In der Deutschen Nationalversammlung gehörte der 50jährige zu den Ältesten und Erfahrensten. Denn (wie wohl in den meisten aus Umwälzungen hervor gegangenen Parlamenten) lag das Durchschnittsalter in der Paulskirche mit 43 Jahren sehr niedrig (nur 20 Prozent der Abgeordneten waren über 50). Dies galt erst recht für die politische Linke, zu der Schüler als Mitglied der demokratischen Fraktion „Deutscher Hof“ gehörte.1 Bekanntlich heißen die Fraktionen in der Nationalversammlung nach ihren Versammlungslokalen – zu den zahllosen amüsanten und erhellenden Hintergrundinformationen, die man aus der vorliegenden Edition erhält, gehört, dass der „Deutsche Hof“ bis in die Revolution hinein noch „Zum König von Preußen“ hieß. Die Umbenennung dürfte sich für den Wirt gelohnt haben.

Seine berufliche Position, langjähriges oppositionelles Engagement und seine seit dem Studium gewachsene Vernetzung im demokratisch-nationalistischen Milieu der deutschen Staaten machten Schüler zu einem der wichtigsten thüringischen Politiker. Außerdem hatte er elf Kinder – was in einer klassischen Edition der Briefe und Werke eines bedeutenden Politikers allenfalls am Rande erwähnt würde, in dieser aber neben der Politik zentral ist. Denn Schüler verließ seine große Familie 1848/49 für mehr als ein Jahr, um von der Eröffnung des Paulskirchenparlaments bis zum letzten Tag des Rumpfparlaments an der Konstituierung eines liberalen, einigen und mächtigen deutschen Nationalstaates (u.a. als Mitglied des Verfassungsausschusses) mitzuarbeiten. Dies war nur möglich vor dem Hintergrund eines bürgerlich-patriarchalischen Selbstverständnisses und dank der Energie der Luise Schüler, die das politische Engagement ihres Mannes unterstützte. Der Trennung Schülers von seiner Familie und seinem Wunsch, über die familiären Entwicklungen informiert zu sein, aber auch seinem Bedürfnis, über seine politischen Aktivitäten im fernen Frankfurt zu berichten, verdanken wir die nun edierten Dokumente. Dem Charakter des Briefes im 19. Jahrhundert entsprechend, der sowohl privat als auch politisch war, mischen sich in den 147 und erst 1988 von Sibylle Schüler im Familienbesitz gefundenen Texten des ersten Teils der Edition Briefe nach Hause und Berichte über Schülers politische Tätigkeit. Diese waren teilweise auf eingelegte Bögen geschrieben, damit Luise Schüler sie an die Presse und an den Jenaer Bürgerverein weitergab – also an die politische Basis, der gegenüber sich Schüler berichtspflichtig sah. Im zweiten Teil hat der zweite Herausgeber, der Greifswalder Geschichtsdidaktiker Frank Möller, Berichte Schülers über seine Arbeit in der Paulskirche aus anderen Provenienzen hinzugefügt sowie die Reden des Jenaer Demokraten in der Nationalversammlung. Auf diese Weise ist Schülers Leben und Wirken in der deutschen Revolution nun umfassend für die weitere wissenschaftliche Auswertung dokumentiert.

Besonders zu loben ist, dass Schüler und Möller keine monologische Edition vorlegen, in der nur ein großer Mann spricht, sondern eine dialogische, die die Gegenbriefe der Ehefrau und der Kinder einbezieht. So entsteht ein lebendiges Bild der Revolutionszeit, das auch den Alltag der Parlamentarier veranschaulicht: „Wer packt mir meinen Koffre?“ schreibt Schüler etwa an sein „Bestes Muttchen“, als die Nationalversammlung vor den preußischen Truppen nach Stuttgart flieht (S. 201). Die Schilderungen der Beratungen und des Drumherum sowie die Charakterisierungen einzelner Abgeordneter und ihres Verhaltens sind für jede(n) lohnend, der sich eingehend mit der Arbeit der Deutschen Nationalversammlung beschäftigen will. Eine weit größere Rolle als in den Darstellungen der Historiker spielen in den Briefen Konventionen und das, was man braucht, um sie zu gewährleisten, sowie die Konflikte und lächerlich anmutende Begebenheiten im Frankfurt der Revolutionszeit, die sich aus dem herrschenden männlichen Ehrbegriff, aus Eitelkeiten und menschlichen Unzulänglichkeiten ergaben. Besonders dramatisch sind die Schilderungen aus dem November 1848, als sich die Revolutionswende mit der Ermordung Robert Blums und der Tod des lungenkranken ältesten Sohnes Schülers überschnitten.

Eindrucksvoll ist die in ihren wenigen Briefen gespiegelte Politisierung der 19jährigen Mathilde Schüler, die ihren Vater als Haushälterin begleitete, aber schließlich als Schreibkraft für den Centralmärzverein arbeitete und ihrem Vater politische Ratschläge erteilte. Als der Vater zur Beerdigung des Erstgeborenen heimreiste, blieb sie allein in Frankfurt – ein großer Schritt in eine für sie wohl nur im „tollen Jahr“ mögliche Selbständigkeit, die die Mutter durch mehrere besorgte Briefe zu begrenzen suchte. Eine willkommene Ergänzung zu den bekannten Quellen ist auch die detaillierte Schilderung der Auflösung des Rumpfparlaments am 18. Juni 1849. Lesenswert sind die Briefe Schülers, weil er nie in ideologischen Politjargon, in Moralisieren und Lamentieren verfällt und seine Schilderungen immer mehrdimensional sind. Selbst am Tag, als württembergisches Militär die Nationalversammlung endgültig zerschlagen hatte, sah er eine positive Seite und verfiel in hausväterliche Güte: „Ich werde nun bald kommen. Grüße Alles im Haus recht schön, u. auch den Garten u. die Bienen.“ Der letzte Satz dieses letzten Briefes lautet dann: „Heute ist der erste schöne Tag seit acht Regentagen.“ Nicht einmal das Wetter meinte es gut mit den Revolutionären!

Einen wichtigen Quellenfund stellt auch Schülers undatierte, rückblickende Beurteilung des Scheiterns der Revolution dar (S. 321-323). Er erklärt es mit zu geringer Machtorientierung, zu viel Idealismus und Naivität der führenden Achtundvierziger: Man habe sich zu sehr mit der Verfassungsgebung beschäftigt und zu wenig mit der Machtsicherung. Dies entspricht dem Tenor anderer Selbstkritiken, beeindruckt aber wie viele politische Texte Schülers aus der Zeit der Nationalstaatsgründung in den 1860er-Jahren durch die präzise und knappe Argumentation.2 Wegen dieser Eigenschaften und ihrer Anschaulichkeit eignen sich viele Texte Schülers sehr gut für die Vermittlung des Revolutionsgeschehens an Schüler und Studierende.

Der Bedeutung der edierten Texte entspricht die Qualität der Edition nicht ganz. Dies mag der komplizierten Entstehungsgeschichte geschuldet sein: die erste Herausgeberin, eine Ururenkelin Schülers, starb 1999; Frank Möller hat das Werk dann vollendet. Der erste Teil der Einleitung ist recht konventionell, enthält floskelhafte, nichts erklärende Formeln, wie sie in der Literatur zu 1848 allerdings häufig zu finden sind. Hierzu gehört die Übernahme von antiquierten Quellenbegriffen wie „nationaler Gedanke“ (S. 5), „nationale Bemühungen“ (S. 10) usw., wo analytisch von Nationalismus und Nationsbildung die Rede sein müsste. Unklar bleibt, wie die Herausgeber „radikale“ und „gemäßigte“ Demokraten unterscheiden (S. 17 u.a.). Auch methodische Überlegungen zum Genre Brief und jeder Bezug zur neueren Briefforschung fehlen.3 Obwohl die Edition innovativ ist, indem sie auch die Briefe von Luise und Mathilde Schüler publiziert, werden zunächst (S. 5) nur die elf Kinder Schülers erwähnt. Ihre Mutter bekommt erst im deutlich besseren zweiten Teil (S. 18-29) der Einleitung einen Namen. Hier finden sich lesenswerte Ausführungen zur Bedeutung der edierten Texte für die Geschichte der Revolution und insbesondere der Deutschen Nationalversammlung, aber auch für Alltagsgeschichte des Parlamentarismus, für die Geschlechtergeschichte, für die Idengeschichte der Demokratie in Deutschland und für die Mentalitätsgeschichte des Republikanismus. Hier argumentieren die Herausgeber auf dem in der jüngeren Forschung erreichten analytischen Niveau, und man fragt sich, warum zu Beginn latent pejorative Bezeichnungen wie „radikaldemokratisch“ nicht durch das wesentlich präzisere „republikanisch“ ersetzt worden sind.

Bei der Heterogenität der Briefe, in denen Themen und Inhalte häufig von Satz zu Satz wechseln, ist es zwar verdienstvoll, dass den einzelnen Briefen jeweils knappe Regesten vorangestellt wurden. Sie können aber über das Fehlen eines Sachregisters nicht hinwegtäuschen. Die fördernden und herausgebenden Institutionen (in diesem Fall DFG und Historische Kommission für Thüringen) sollten die Erstellung der einschlägigen und für die Benutzung schlicht notwendigen Register künftig zur Voraussetzung einer Förderung bzw. Aufnahme in ihre Schriftenreihen machen!

Trotz dieser kleineren Mängel ist es sehr erfreulich, dass die wertvollen Briefe von und an Gottlieb Christian Schüler, obwohl sie nicht in öffentlichen Archiven liegen, durch diese solide Edition nun der Revolutionsforschung uneingeschränkt zur Verfügung stehen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Jansen, Christian, Einheit, Macht und Freiheit. Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche (1849-1867), 2. Aufl., Düsseldorf 2004, S. 46.
2 Vgl. zum Wirken Schülers in der nachrevolutionären Epoche Jansen, Christian, Einheit, Macht und Freiheit, insb. S. 334-345, 398-401, 449-493 und 576f; drei politische Briefe Schülers aus den Jahren 1859/60 finden sich in: Nach der Revolution 1848/49: Verfolgung – Realpolitik – Nationsbildung. Politische Briefe deutscher Liberaler und Demokraten aus den Jahren 1849-1861. Bearbeitet von Jansen, Christian, Düsseldorf 2004.
3 Vgl. etwa Baasner, Rainer (Hrsg.), Briefkultur im 19. Jahrhundert, Tübingen 1999; Herres, Jürgen; Neuhaus, Manfred (Hrsg.), Politische Netzwerke durch Briefkommunikation, Berlin 2002.