M. Cipolloni u.a. (Hrsg.): The Anthropology of the Enlightenment

Cover
Titel
The Anthropology of the Enlightenment.


Herausgeber
Cipolloni, Marco; Wolff, Larry
Erschienen
Anzahl Seiten
414 S.
Preis
€ 22,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Renner, Historisches Seminar, Abteilung für osteuropäische Geschichte, Universität zu Köln

Was die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts für die Naturwissenschaften darstellte, bedeutete die Aufklärung des 18. Jahrhunderts für die Geistes- beziehungsweise Humanwissenschaften: Einen Gründungsmythos. Philologie, Geschichtsschreibung und, wie im vorliegenden Band, auch die Anthropologie verfolgen ihre Wurzeln und methodischen Standards gern ins Zeitalter der Vernunft und systematischen Kritik zurück. Material und Impulse gab es genug: Eine neue Welle kolonialer Expansion, die „Entdeckung“ Australiens, die groß angelegten Expeditionen durch die Landmassen des Russischen Reichs, aber auch der medizinische Körperdiskurs, die Infragestellung des christlichen Menschenideals und die Formulierung neuer, etwa ökonomisch oder naturrechtlich begründeter Menschenbilder.

Damit ist die Spannbreite der thematischen Bezüge in diesem von einem Historiker und Literaturwissenschaftler herausgegebenen Band umrissen. Deren geographische Interessen – „Osteuropa“ bei Larry Wolff und „Lateinamerika“ bei Marco Cipolloni – bilden die beiden stärksten inhaltlichen Schwerpunkte. Schon die Bezeichnungen beider Regionen waren Produkte der Aufklärung und lassen wie in einem Spiegel das sich wandelnde Selbstverständnis Europas erkennen. Die Auseinandersetzung mit dem oder den Fremden, so das nicht als These zu bezeichnende Leitmotiv, ersetzte ein Europaverständnis, das von einer Gemeinschaft christlicher Monarchien ausgegangen war. Im Europa der Aufklärung ging es jedoch nicht einfach um Abgrenzung vom Exotischen oder ein eurozentrisches Sendungsbewusstsein, sondern auch, wie in den immer wieder zitierten „Persischen Briefen“ Montesquieus, um die Kritik an Defiziten in Europa und eine Agenda gewünschter Veränderungen.

Der Blick nach außen war immer auch ein versuchter Blick von außen auf sich selbst – wie besonders eingängig Michael Harbsmeier in seiner Studie über das Europaerlebnis von Grönländern und Eskimos zeigt. Zweifellos nährten solche Perspektivenspiele den Kulturrelativismus, wie ihn die spätere wissenschaftliche Disziplin der Anthropologie zum Prinzip erhob und wie ihn der ansatzweise Wandel des Anthropologiebegriffs bereits im 18. Jahrhundert andeutet. Diese Kontinuitätslinien überraschen allerdings nicht1, und sie werfen im Rückblick auch kein neues Licht auf die Aufklärung. Sie lässt sich in ihrer Gesamtheit gerade als anthropologisches Projekt verstehen, das Alexander Pope auf die berühmte Formel brachte: „The proper study of mankind is man.“

Aus der protoanthropologischen Sicht der Herausgeber folgt ein Übergewicht von Beiträgen zu Reiseberichten und ethnographischen Studien sowie zu prominenten, wissenschaftsrelevanten Vordenkern. Doch sind die Aufsätze nach drei unterschiedlichen Perspektiven gegliedert. Im ersten, ausführlichsten Teil geht es um grundsätzliche Überlegungen und Deutungskonzepte. Im Vordergrund steht die Neulektüre einzelner Autoren. Die Südseephantasien von Denis Diderot stehen neben William Robertsons Präsentation der Peruaner und Mexikaner als geschichtslose Völker und Johann Gottfried Herders Entdeckung des Morgenlands als Tugendspiegel.

Besonders aufschlussreich ist Christian Maroubys Analyse von Adam Smith. Schematische Vorstellungen über die Entwicklungsstadien der Menschheit prägten die Vorstellungen dieses schottischen Moralphilosophen über die wirtschaftliche Prosperität von Völkern stärker als die empirischen Informationen, die ihm nachweislich aus zahlreichen Studien vorlagen. Diesen ersten Teil des Sammelbandes leiten zwei Beiträge der Altmeister J. G. A. Pocock (über Gibbon) und Anthony Pagden (über Orientalismus und Okzidentalismus) ein. Beide Aufsätze sind mehr als nur Fallstudien. Sie thematisieren den Barbarendiskurs der Aufklärung und die – mit Blick auf China – ambivalente Wahrnehmung der gesteigerten europäischen Expansionsfähigkeit. Vor allem zeigen sie, dass es einen einheitlichen Begriff von Anthropologie in der Aufklärung nicht gab.

Der zweite Teil behandelt im engeren Sinn ethnographische Studien des 18. Jahrhunderts. Anthropologie erscheint hier mal als Vorstufe der heutigen Wissenschaft, mal als „the intellectual arm of colonial administration“ (S. 211). Neben dem erwähnten Aufsatz von Harbsmeier untersuchen drei weitere Beiträge die wechselnden Zuschreibungen von Rasseeigenschaften auf Haiti, die akademischen Expeditionen im Zarenreich, sowie, aus der Feder des Australiers John Gascoigne, die Mitwirkung deutscher Naturforscher an der britischen Erkundigung des Pazifiks. Gascoigne zeichnet anhand der Doppelbiographie von Johann Reinhold Forster und Georg Forster nicht nur den Anteil deutscher akademischer Migranten an der Vermessung der Welt nach. Auch für das Menschenbild der deutschen Aufklärung, die nicht unmittelbar im Dienst eines Kolonialreichs stand, war die Auseinandersetzung mit dem Exotischen zentral.

Einmal mehr bestätigt sich die These von Wolff und Cipolloni von der Bedeutung des Reiseberichts, sei es als tatsächliches Reiseerlebnis oder, wie etwa bei Kant, als gelehrte, protoanthropologische Reflexion. Eine besondere Bedeutung kam offenbar dem Pazifik zu, als – im Vergleich mit den amerikanischen Kolonien – neue Bühne europäischer Ideen von Wilden und Zivilisierten.2 Bei Wolff und Cipolloni ist der ferne Ozean aber auch der Ort, an dem die beiden Länder ihrer Forschungsinteressen, Russland und Spanien, als Zivilisatoren auf einander treffen und unerwartet in ein Konkurrenzverhältnis treten. Diese imperiale Dimension verbindet die beiden ersten Teile des Buchs.

Der dritte Teil fällt dagegen etwas erratischer aus. Er enthält deutlich kürzere Artikel zu Einzelaspekten der menschlichen Natur aus aufklärerischer Sicht, die allerdings neue Akzente in den Sammelband bringen. Es sind mehr oder weniger klassische Themen wie das Naturrecht in der Nachfolge Pufendorfs, die wissenschaftliche Entdeckung von Geisteskrankheiten oder das in Neusiedlungen ausgedrückte utopische Sendungsbewusstsein von Kolonisten. Marie Baine Campbell betont in ihrem Beitrag, wie Träumen in der Aufklärung eine niedere epistemologische Qualität zugeschrieben wurde. Campbells Quellen sind einmal keine gelehrten Abhandlungen oder literarischen Repräsentationen, sondern jesuitische Traumdeutungen aus Nordamerika, in mehrfacher Hinsicht exotische Selbstzeugnisse.

Zusammen betrachtet entwerfen die Beiträge, um mit Edmund Burke ein Bild der Aufklärung zu borgen, „a great map of mankind“ (S. 23). Es ist eine Collage aus Momentaufnahmen, nicht die Geschichte einer Entzauberung, wie sie bereits vor einigen Jahren Jürgen Osterhammel vorgelegt hat3 oder der Eroberung der außereuropäischen Welt. Doch diese Karte ist alles andere als statisch, weil sie wechselnde Perspektiven auf das Eigene und das Fremde zeigt. Und sie ist ein Entwurf. Ein Gutteil der Beiträge sind work in progress. Zu sehen, wie neue Themen erarbeitet werden, ist nie langweilig. Langweilig ist meist erst das fertige Produkt.

Anmerkungen:
1 Han F. Vermeulen / Arturo Alverez Roldan (Hrsg.), Fieldwork and Footnotes. Studies in the History of European Anthropology, London 1995.
2 Harry Liebersohn, The Travelers’ World. Europe to the Pacific, Cambridge / MA. 2006.
3 Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998.

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