M. F. Plöger: Soziologie in totalitären Zeiten

Cover
Titel
Soziologie in totalitären Zeiten. Zu Leben und Werk von Ernst Wilhelm Eschmann (1904-1987)


Autor(en)
Plöger, M. Frederik
Reihe
Beiträge zur Geschichte der Soziologie 13
Erschienen
Münster/Berlin 2007: LIT Verlag
Anzahl Seiten
520 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wigbert Benz, Werner-von-Siemens-Schule Karlsruhe

Die vorliegende Studie wurde 2007 von der Philosophischen Fakultät der Universität Münster als Dissertation angenommen und von dem Doktorvater des Autors, dem emeritierten Münsteraner Soziologieprofessor Sven Papcke, als Band 13 in dessen Reihe „Beiträge zur Geschichte der Soziologie“ beim Lit Verlag aufgenommen. Eschmann zählt in der Soziologiegeschichtsschreibung, so Papcke in seiner Vorbemerkung, „nicht zu den bekannteren Namen“, er sei „eher randständig in den akademischen Raum eingebunden“ und „trotz seiner soziologischen Werke auch eher Literat als Sachkenner“ (S. 5) gewesen. An Plögers Studie schätzt er „die Fülle des Materials oder die breite Kenntnisse der Zeitumstände demonstrierende Typisierung der Lebensabschnitte von Eschmann“ und wünscht sich, Plöger hätte gelegentlich „den Stellenwert der Arbeiten von Eschmann fachsoziologisch genauer positionieren können“ (S. 6).

Plöger zeichnet zunächst ausführlich die akademische Nachkriegsdiskussion um die Rolle der Soziologie im Nationalsozialismus nach, ehe er seine Soziologenbiographie auf breiter archivarischer Quellengrundlage entwickelt. Dabei bezieht er auch einen ungeordneten Teilnachlass im Privatbesitz der Witwe Charlotte Eschmann ein, die vom Autor zudem interviewt wurde. Er wertet die relevante Sekundärliteratur sorgfältig aus und kann für seine Studie auch auf die biographischen Vorarbeiten von Klaus Zumbrägel zurückgreifen.1 Dessen „positiv hervorzuhebende Detailarbeit“ lobt er zwar, tadelt aber, dass in Zumbrägels Untersuchung „das moralische Apriori von Beginn an mitschwingt und der wissenschaftliche Werdegang als stete Abfolge von Radikalisierung und Faschisierung erscheint“ (S. 20). Als Beleg für diese Wertung führt Plöger an, Zumbrägel habe „bereits auf Seite 2 seiner Arbeit nach dem Anteil an der ‚Zersetzung’ Weimars gefragt“ (ebd., Anm. 41). Dass diese Frage in der Einleitung eine heuristische Funktion erfüllen kann und tatsächliche oder vermeintliche moralische Implikationen eher wenig über die wissenschaftliche Substanz einer Untersuchung aussagen, scheint er auszuschließen. Plöger konzentriert sich in seiner Biographie hauptsächlich auf das Wirken Eschmanns in der NS-Zeit und verortet diesen in den Umständen dieser „totalitären Zeiten“ – so bereits im Untertitel der Studie. Er problematisiert nicht, dass schon während der NS-Herrschaft der Totalitarismusbegriff von den militärischen Eliten im NS-Staat gegen die überfallene UdSSR als angeblichen Aggressor verwendet wurde, wenn etwa der Generalstabschef des Heeres, Franz Halder, am 11. August 1941 schrieb, die Sowjetunion habe „mit der ganzen Hemmungslosigkeit, die totalitären Staaten eigen ist“, den Krieg gegen Deutschland vorbereitet.2

Ernst Wilhelm Eschmann promovierte an der Universität Heidelberg bei dem Soziologen Alfred Weber mit einer Arbeit über den faschistischen Staat in Italien und arbeitete von 1927 bis 1932 als dessen Doktorand und Assistent. Tatsächlich hatte der Alfred-Weber-Schüler Eschmann einen relevanten Anteil an der publizistischen Diskreditierung der Weimarer Republik. Zusammen mit Giselher Wirsing, Hans Zehrer, Ferdinand Fried und anderen wirkte Eschmann in der Redaktion der „Tat“, die vor allem gegen Ende der Weimarer Republik durch antirepublikanische Agitation eine breite Leserschaft fand. Dies arbeitet Plöger ebenso dezidiert heraus wie die dem Nationalsozialismus in die Hände spielende grundsätzliche Intention der „Tat“-Redakteure als Teil der „Konservativen Revolution“, einen „klassenübergreifenden Volksbegriff“ zu entwickeln, der die Demokratie als Regierungs- und Denkform, die den deutschen Menschen sich selbst entfremde, zu überwinden trachtete. Eschmann selbst trat vor allem dadurch hervor, dass er das Kernfeindbild der Vertreter der „Konservativen Revolution“, den Liberalismus, als Ausgangspunkt aller Übel zu zeichnen versuchte.

Das Jahr 1933 bedeutete für Eschmanns Wirken eine Zäsur. Die „Tat“ verlor an Bedeutung, und seine Pläne, sich schnell zu habilitieren, konnten nach Alfred Webers Rückzug aus dem Lehramt zunächst nicht realisiert werden. Stattdessen heuerte er als Dozent und außenpolitischer Experte, vor allem für Italien- und Frankreichfragen, bei der Deutschen Hochschule für Politik (DHfP) und dem Deutschen Auslandswissenschaftlichen Institut (DAWI) an. In seinen außenpolitischen Schriften und Expertisen verbanden sich NS-konforme Propaganda, vor allem Verharmlosungen der aggressiven nationalsozialistischen Außenpolitik und sachliche Analysen, die dem NS-System nutzbare Informationen bereitstellten. Zu Recht betont Plöger, dass Eschmann „das gefährliche Spiel einer sachlichen Fundierung seines antidemokratischen Hasseffektes“ betrieb und aufgrund seiner „jungkonservativ geprägten Sachlichkeit“ von der „Neuen Rechten“ viel „unverdächtiger“ zitierbar sei „als die typischen NS-Ideologen“ (S. 393ff.). NSDAP-Mitglied wurde Eschmann erst am 1. April 1940 mit der Nummer 7617245, nachdem seinem Aufnahmeantrag 1937 aus formalen Gründen nicht entsprochen wurde, obwohl sich Giselher Wirsing, mittlerweile Schriftleiter der „Münchner Neuesten Nachrichten“, bei Heydrich für ihn verwendete und dieser Eschmanns Aufnahme „befürwortete“ (S. 260). Dass Eschmann Arbeitskontakte zum SD hatte, gilt als gesichert.

Wie Gideon Botsch, dessen Studie zur Rolle der deutschen Auslandswissenschaften für den Zweiten Weltkrieg Plöger an vielen Stellen seiner Arbeit sorgfältig auswertet, hält auch er es für plausibel, dass Eschmann ein V-Mann des SD war, „ohne dass diese Vermutung anhand des Materials bestätigt werden“ könne (S. 262).3 Chef beim DAWI war der NS-Multifunktionär Franz-Alfred Six, der Leiter der Abteilung „Gegnerforschung“ in Heydrichs Reichssicherheitshauptamt (RSHA), ab 1940 Dekan der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin, 1941 Leiter des Vorkommandos Moskau der SS-Einsatzgruppe B und ab 1943 Leiter der „Kulturpolitischen Abteilung“ des Auswärtigen Amtes.4 Obwohl Six das Arbeitstempo und die Ausfälle des oft kränkelnden Eschmann missfielen, schätzte er dessen Fähigkeiten zur sachlichen Legitimation der deutschen Auslandspolitik. In dem von Six herausgegebenen „Jahrbuch der Weltpolitik“ war Eschmann für die Frankreich-Artikel zuständig. Auch begleitete Six Eschmanns Habilitationsschrift „Die Führungsschichten Frankreichs“(1943) mit großem Interesse. Mit der Unterstützung seines Vorgesetzten schaffte Eschmann, der seit 1940 den Berliner Lehrstuhl für Volks- und Landeskunde Frankreichs vertrat, 1943 den Karrieresprung zum außerordentlichen Professor. Die Einlassungen der Witwe Charlotte Eschmann in einem Interview am 4. Juni 2005, dass Six seinerzeit ihren Mann „zum Parteieintritt genötigt habe“, hält Plöger für „unwahrscheinlich“ (S. 274). Dass es sich auf keinen Fall um ein zerrüttetes Verhältnis handelte, zeigt die Eingabe Eschmanns nach 1945, als er sich für den als Kriegsverbrecher im „Einsatzgruppenprozess“ angeklagten Six einsetzte.

Nach dem Krieg suchte Eschmann von 1946 bis 1957 im Schweizer Tessin als unpolitischer Schriftsteller sein Auskommen, schrieb seine „Tessiner Episteln“, das später aufgeführte Schauspiel „Alkestis“, wandte sich immer stärker philosophischen Fragen zu. Auch versuchte er sich an einem mit DFG-Förderung unterstützten Großprojekt „Geschichte der Utopie“, das aber keine Publikationsreife erlangte. Bei seiner Befragung durch die Bundesanwaltschaft in Locarno am 3. Oktober 1947 definierte er sich als tendenziellen Widerständler und behauptete, er sei in die NSDAP gezwungen worden bzw. seine Aufnahme sei „in die Partei verfügt“ worden (S. 351). Nicht zuletzt aus finanziellen Gründen bemühte er sich mit Unterstützung seines Verlegers Peter Diederichs, des Kunsthistorikers Werner Hager sowie des Philosophen Joachim Ritter um einen Ruf an eine deutsche Universität. Schließlich erlangte er an der philosophischen Fakultät der Universität Münster eine Professur, 1960 zunächst in Form einer Gastprofessur, 1963 dann als Extraordinarius und schließlich ab 1966 als Ordinarius des Lehrstuhls für „Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Kulturphilosophie“. Zudem arbeitete er bis in die 1980er-Jahre als Autor mit zahlreichen Print- und Rundfunkbeiträgen zu literarischen, soziologischen und philosophischen Themen.

Insgesamt betrachtet hat Plöger eine sorgfältig recherchierte und abwägend verfasste Biographie vorgelegt, die dem selbst gestellten Anspruch gerecht wird, seine Untersuchung möge „auch als Plädoyer für das aufklärerische Menschenbild und als Warnung vor der Verführbarkeit des Geistes“ verstanden werden (S. 394). Ein fast 100seitiger Anhang listet die Veröffentlichungen Eschmanns, soweit feststellbar, vollständig auf. Hilfreich wäre bei dieser umfangreichen biographischen Studie jedoch ein Personenregister gewesen.

Anmerkungen:
1 Zumbrägel, Klaus, Ernst Wilhelm Eschmann – Vorstudien zu einer politischen Biographie. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Münster 1988.
2 Halder, Franz, Kriegstagebuch. Tägliche Aufzeichnungen des Chefs des Generalstabes des Heeres 1939-1942. Band III: Der Russlandfeldzug bis zum Marsch auf Stalingrad (22.6.41-24.9.42), Stuttgart 1964, S. 170.
3 Botsch, Gideon, „Politische Wissenschaften“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Deutschen Auslandswissenschaften“ im Einsatz 1940-1945, Paderborn 2006, S. 273.
4 Vgl. hierzu Hachmeister, Lutz, Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998.

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