Cover
Titel
Kleine Geschichte Afrikas.


Autor(en)
Speitkamp, Winfried
Erschienen
Stuttgart 2007: Reclam
Anzahl Seiten
516 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Keese, Universität Bern und Centro de Estudos Africanos, Universidade do Porto

Die Abfassung von Gesamtüberblicken zur Geschichte des subsaharischen Afrikas stellt jeden Autor prinzipiell vor erhebliche Probleme. Einen Kontinent, der aus etlichen stark voneinander verschiedenen Regionen besteht, und dessen Bevölkerungen erst durch die Begegnung mit europäischen Eroberern und Verwaltungssystemen ab 1880 eine einigermaßen ähnliche Erfahrungswelt durchlaufen haben, in einem einheitlichen Werk zu beschreiben, ist äußerst schwierig. Um es vorwegzunehmen: Winfried Speitkamp stellt sich dieser Herausforderung in weitgehend sehr gelungener Weise. Dass die versuchte Vereinheitlichung von afrikanischen Erfahrungsverläufen es notwendig macht, bisweilen zwischen verschiedenen Zonen des geographisch gewaltigen Kontinentes in einer Weise hin- und herzuspringen, die dem Leser das Leben erschwert, liegt dabei in der Natur der Sache. Dass Kenia und Tansania besondere Interessengebiete des Autors darstellen, ist vor allem in der zweiten Hälfte des Werkes erkennbar – man hätte diese Interessengebiete sogar noch offensiver in der Struktur des Buches vertreten können.

Speitkamp wählt nicht die ebenfalls denkbare exemplarische Beschreibung anhand einer geographischen Zone, von welcher auf andere Regionen vergleichend eingegangen wird. Die Fallbeispiele werden, bisweilen etwas sprunghaft, aus verschiedensten Regionen des subsaharischen Afrika gewählt. Der Autor nutzt in seiner Betrachtung eine in vier zeitliche Perioden aufgeteilte, sehr dichte Schilderung. Er leitet dabei seine Beobachtungen mit Erwägungen zur historiographischen Situation zum afrikanischen Kontinent ein, wobei hier die Abhandlung der spezifischen Probleme von oralen und schriftlichen Quellentypen noch breiter hätte ausfallen können (S. 17ff.).

Die Beschreibung der afrikanischen Geschichte vor dem 18. Jahrhundert beginnt mit anschaulichen Abhandlungen über Gruppentypen, sowie mit einer sinnvollen Charakterisierung existierender vorkolonialer Staatswesen als „Siedlungsinseln“ (S. 60). Im Hinblick auf kulturell-religiöse Belange arbeitet Speitkamp Religion als grundsätzlich gruppenbezogen heraus: vor allem die gemeinsamen Rituale sind aus seiner Sicht in der Religionsausübung wichtig; Religionen werden als offen, polytheistisch, multifunktional und alltagsrelevant analysiert. In der Perspektive auf den Atlantischen Sklavenhandel diskutiert er die Position von Sklaven auf dem afrikanischen Kontinent, deren Statut er als von demjenigen der Freien oftmals nicht wesentlich verschieden beschreibt (S. 105). Der Verbindung von Sklavenhandel in die Amerikas und Wandel in afrikanischen Organisationsstrukturen vor 1800 wird ebenfalls breiter Raum gelassen (S. 112).

In Bezug auf die Entwicklung des subsaharischen Afrikas im 19. Jahrhundert, das heißt im Vorfeld der kolonialen Eroberung, folgt Speitkamp einer Reihe von Konzepten. Er geht von einer Art „Sattelzeit“ auch für den afrikanischen Raum aus. Hier etablierten sich demnach im 19. Jahrhundert zunächst einmal autoritäre Führungspersönlichkeiten und „Militärdiktaturen“. Tiefe Verunsicherung sowohl auf Seiten der afrikanischen Bevölkerungen, als auch im „Hereinrücken oder zum Teil auch Hereinziehen der Europäer“, führte zu abrupten Bewegungen innerhalb von afrikanischen Bevölkerungsgruppen – wie die Jihads in Westafrika oder die mfecane im südlichen Afrika zeigten. Letztlich ordnet der Autor auch die koloniale Expansion in dieses Schema ein (S. 126ff.).

Sehr anschaulich ist Speitkamps Abriss über die Aktivität von Mittlern, die in den Situationen politischer Verunsicherung und der Auflösung von Strukturen Machtpositionen erlangen können. Anhand des Beispiels von Hamed bin Mohamed al Murjebi, dem berühmten „Tippu Tip“, verdeutlicht der Autor diese Problematik (S. 164f.). Er verknüpft dies mit einer ausführlichen Darstellung zunehmenden europäischen Informationsgewinnes. Dieser ging den eigentlichen Eroberungen voraus und stützte sich maßgeblich auf den Einsatz der entsprechenden afrikanischen Mittelsleute. Religiöse Antworten auf die Verunsicherung lassen sich nach Speitkamps Argumentation durchaus als parallele Bewegungen gegenüberstellen; dazu gehören die Adaptierung christlich-missionarischer Einflüsse, auch schon in Form von unabhängigen Kirchengründungen, und die Radikalisierung des Islams. Der Übergang von der Phase der Verunsicherung zur Phase der Expansion spielte sich dann als ein komplexes Geflecht aus Globalisierungsprozessen, wirtschaftlichen Schlussfolgerungen und kulturell-zivilisatorischem Sendungsbewusstsein ab. Die men on the spot waren dabei entscheidend, das Bewusstsein, auch reell in das Innere des afrikanischen Kontinentes ausgreifen zu wollen, entwickelte sich nur graduell (S. 202f.). Die heftigen Aufstände einheimischer Bevölkerungen ab den 1890er-Jahren begründet Speitkamp vor allem aus ungeklärten Machtstrukturen. Anhand des Maji-Maji-Krieges im heutigen Tansania und des Kriegs der deutschen „Schutztruppen“ gegen die Herero- und Nama im heutigen Namibia zeigt er die Brutalisierung der Kriegsverläufe und geht auf kultische Einbettung und konkrete sozio-ökonomische Motive des Widerstandes ein, ohne allerdings die vor allem von Jürgen Zimmerer initiierte Genoziddebatte in den Zusammenhang einzuführen.

Zur Struktur des Kolonialstaates positioniert sich Speitkamp in seinem dritten Teil im Hinblick auf das Funktionieren politischer Prozesse unter kolonialer Herrschaft recht eindeutig und sinnvoll. Er identifiziert die Situation auf der Ebene der europäischen Verwaltung als abhängig von Geschick und Charisma der Beamten, die ihr „Augenmerk denn auch oft eher nach unten“ (S. 246) richteten. In der Inkorporation von „Häuptlingschaften“ sieht er ein zweites Merkmal der Kolonialregimes. In offensichtlich guter Kenntnis neuer Forschungsergebnisse zu „traditioneller Herrschaft“ unter kolonialen Vorzeichen weist Speitkamp auf die Komplexitäten in den entsprechenden Gruppenbeziehungen hin (es wäre freilich wünschenswert gewesen, zum Thema chieftaincy auch die wichtigen neuen Werke etwa von Richard Rathbone oder Ruth Watson zu berücksichtigen). Er zeigt, dass chiefs in vielen Fällen in lokale Netzwerke eingebunden waren. Weshalb das hochkomplizierte und in seinen regionalen Spielarten vielfältige System der Einbindung „traditioneller Machthaber“ als „bereits in den späten 1920er Jahren […] vielen als gescheitert [galt]“ – und aus wessen Sicht eigentlich? – bleibt allerdings in diesem Zusammenhang nebulös (S. 248). Im Hinblick auf die mit indirekten Herrschaftstechniken verbundenen kolonialen Rechtsordnungen arbeitet Speitkamp im Übrigen anschaulich heraus, dass das scheinbar Duale dieser juristischen Systeme in Wirklichkeit stark pluralistisch war.

Der Wandel von Wirtschaftsformen unter kolonialer Herrschaft wird breit geschildert, wobei der Aspekt der (vor allem außerhalb von Zonen britischer Herrschaft, wie es Speitkamp richtig bemerkt, sehr bedeutenden) Zwangsarbeit etwas kurz kommt. Bemerkenswert ist der anschauliche Abriss über die Folgen des Wandels in Bezug auf Lebensformen. Dies gilt vor allem für die Formation kolonialer Städte und das Wechselspiel ungesteuerter Siedlungsbildung und kolonialen Eingreifens. Auf dem Land verzeichnet die Untersuchung Speitkamps einen Pluralisierungs- und Individualisierungsprozess, der im religiösen Bereich in der ambitioniert formulierten Betrachtung von synkretistischen Lösungen und Freikirchen um charismatische Führer herum als Antwort auf die spirituelle Krise seine Entsprechung finde.

Speitkamp stellt sich in seiner Darstellung politisch orientierter Bewegungen der Zwischenkriegszeit auf den Standpunkt, es handele sich weder um nationalistisches Engagement, noch um „Parteien und Gewerkschaften im modernen Sinn“, und ohne „nationalstaatliche Entwürfe für ein nachkoloniales Afrika“ (S. 344). Den eigentlichen Entkolonialisierungsprozess kennzeichnet er am Beginn seines vierten und abschließenden Teiles durchaus differenziert, was ihn wohltuend von älteren Gesamtdarstellungen abhebt. Er betont, dass nationalistische Bewegungen nicht immer eindeutig gegen die Kolonialmacht gerichtet waren, sondern auch sich in „binnenkolonialen Auseinandersetzungen“ engagierten (S. 362). Speitkamp bietet dem Leser zwar keine Lösung auf die Frage, weshalb sich die Führer nationalistischer Parteien an der „Praxis europäischer autoritärer Parteien“ orientierten – er legt die Antwort aber mit seiner nüchternen und vermutlich weitgehend belegbaren Vermutung nahe, dass für die meisten Führungspolitiker vor Ort der „Weg zur Macht“ (S. 369) weitaus wichtiger war als die Umsetzung großer befreiungsideologischer Ziele.

Insgesamt kann man feststellen, dass in Speitkamps Betrachtung französische Entkolonialisierung etwas nebulöser bleibt als die britische Variante, die der Autor zudem für „viel dynamischer“ hält (S. 363). Die spezifische Art der Einbindung einer afrikanischen Elite in noch französisch dominierte Institutionen, Prozesse von Personalisierung und Schaffung afro-französischer Klientelnetzwerke, die die Unabhängigkeit von Frankreichs ehemaligen Kolonien überdauern und deshalb auf lange Sicht wichtig sind, fehlen in Speitkamps Bild weitgehend (trotz einer kurzen Thematisierung, vgl. S. 382). Auch die in ihrem Wechselspiel zwischen afrikanischen Rebellen, afrikanischen Verbündeten der Kolonialmacht, Kolonialbeamten und Siedlern oftmals komplexen Unabhängigkeitskriege in den ehemaligen portugiesischen Kolonien Angola und Mosambik, in Südrhodesien, und in der Südafrikanischen Union und ihrem Orbit finden wenig Beachtung.

Sehr überzeugend und innovativ sind die Passagen zur nachkolonialen Erinnerungskultur und Symbolfindung. Vor allem erneut zu Kenia, aber auch zu anderen unabhängigen Staaten, gelingt es Speitkamp, die Herausforderung der Schaffung einer tragfähigen „nationalen“ Gedenkenspraxis zu beleuchten. Er zeigt, wie in postkolonialen afrikanischen Gesellschaften „Vergangenheit beständig neu verhandelt“ werden muss (S. 469). Seinem Anspruch, afrikanische Geschichte vor allem auch als Geschichte von kollektiver Erinnerung betrachten zu wollen, wird Speitkamp damit im letzten Viertel des Überblicks geradezu großartig gerecht.

Ob freilich eines der wichtigen abschließenden Urteile des Autors, afrikanische Staaten hätten in den vergangenen zwanzig Jahren „Vielfalt als Stärke“ (S. 469) erkannt, gehalten werden kann, ist zweifelhaft. Den Beleg für diese Annahme bleibt Speitkamp schuldig. In den Staaten der Großen Seen war das Eingeständnis der Vielfalt wohl eher eine Notlösung, zumal bedroht, wie von Filip Reyntjens gezeigt, von diktatorischen Tendenzen etwa der ruandischen Regierung von Paul Kagame nach 1994. Zu Kenia muss man sich fragen, ob die Thematisierung des Mau-Mau-Aufstandes durch Präsident Mwai Kibaki nach fast fünfzigjährigem Erinnerungsverbot nicht eher der Auftakt zur Instrumentalisierung einer gruppenbezogenen Kikuyu-Vergangenheit war, welche die ethnische Mobilisierungsbasis für den Fall eines Machtverlustes des Regimes war. Diese Situation ist inzwischen eingetreten, mit allen gravierenden Folgen von Solidarisierung unter ethnischen Gesichtspunkten.

Selbst wenn man Speitkamps Urteil in diesem Punkte nicht folgt, und unter Ansicht vorhandener Schwächen in einzelnen Details – die bei einem Projekt dieser Größe verständlich sind –, ist sein Überblick insgesamt sehr brauchbar. Gerade als Einführung in die Auseinandersetzung mit Problemen des afrikanischen Kontinentes bietet das Werk eine Fülle von Aspekten, zumeist auf dem neuesten Forschungsstand. Besonders in einer Verbindung mit dem stärker an Einzelproblemen als am dichten Aufriss orientierten neuen Handbuch von Robert O. Collins und James M. Burns 1 wird Speitkamps Werk als Einführungsliteratur zum Studium der afrikanischen Geschichte im deutschsprachigen Raum fortan zum Standardrepertoire gehören.

Anmerkung:
1 Collins, Robert O.; James M. Burns, A History of Sub-Saharan Africa, Cambridge 2007.

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