Vernachlässigte „gesellschaftliche und politische Handlungsbereiche […], in denen sich eine Wahrnehmungsabwehr gegenüber dem Hitler-Regime in stetem Maße“ gezeigt habe (S. 8), stehen im Fokus dieses Sammelbandes. Gemeinsames Ziel der Vertreter verschiedener Disziplinen ist es, einen Beweis für „die politische, ideologische und mentale Verwurzelung des nationalsozialistischen Regimes“ in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft anzutreten; jene Nachwirkung sei zudem sehr viel tiefgreifender gewesen, als bisher von der Forschung erkannt (S. 9).
Der einleitende Teil und weitere 12 Aufsätze, gegliedert in fünf thematische Blöcke, widmen sich einem breiten Untersuchungsspektrum, das von personellen und ideologischen Kontinuitäten in der Jurisprudenz sowie im Naturschutz über die mediale Darstellung von nationalsozialistischen Gewalttäterinnen bis zu „ideologischen Tendenzen“ bei Götz Aly und Jörg Friedrich reicht. Dieser letzte Block mit dem Titel „Neue Tendenzen in der Geschichtsschreibung“ entspricht indes nicht der rigide postulierten Beweisführung, sondern wirkt zum Zwecke einer ideologisch motivierten Schelte hinten beigegeben.
Vorangestellt ist dem Band ein Aufsatz der Politologin Claudia Fröhlich zur Forschungskontroverse über die Verwendung des Begriffs „Restauration“ im Zusammenhang mit der Genese der Bundesrepublik. Nach einer informativen Skizze jener Auseinandersetzung über den restaurativen Charakter der jungen Republik folgen Exkurse über den prominenten Verfechter der Restaurationsthese, Eugen Kogon, und den ersten Präsidenten des Bundesgerichtshofes, Hermann Weinkauff. Letzterer dient Fröhlich aufgrund seiner exponierten Stellung im NS-Justizwesen und in dem der Bundesrepublik als Paradenachweis für die Restaurationsthese. Insbesondere hebt sie hier Denkmuster ehemaliger Interpretationseliten des NS-Systems hervor, die in der Bundesrepublik prägend weitergewirkt hätten. In ihrem Resümee rehabilitiert Fröhlich die Restaurationskritik und relativiert sie zugleich. Von einer „Ungleichzeitigkeit in der Realisierung demokratischer Ordnung“ ist nun die Rede. Die westdeutsche Nachkriegsgeschichte könne „als eine ambivalente, erfolgreich demokratische und restaurative Geschichte geschrieben werden“ (S. 46).
„Personelle Kontinuitäten“ sind auch das Leitmotiv des ersten Abschnitts. Joachim Wolschke-Bulmahn, Professor für die Geschichte der Freiraumplanung, zeigt versiert die nationalsozialistische Vorgeschichte der bundesdeutschen Naturschützer und deren erfolgreiche Verschleierungstaktiken auf. Der Sozialwissenschaftler Rainer Schuckart widmet sich dem einflussreichen Staatsrechtler Ernst Forsthoff, dessen antidemokratisches Konzept vom „totalen Staat“ nicht nur für den NS-Staat konstitutiv war, sondern auch die rechtsstaatliche Gestaltung der Bundesrepublik nachhaltig geprägt habe. Kontinuitäten dieser restaurativen „konservativen Staatsrechtslehre“, die von „Disziplinierung und Entpolitisierung gesellschaftlicher Interessen“ (S. 111) gekennzeichnet sei, verfolgt Schuckart von der Weimarer Republik über den NS-Staat bis in die Bundesrepublik.
Der zweite und umfangreichste Abschnitt „Gesellschaftlicher Umgang mit dem Nationalsozialismus“ umfasst vier Beiträge. Signifikant für den Sammelband ist die angestrengte Vermeidung des Begriffes „Vergangenheitsbewältigung“. Dessen inhaltliche Relevanz ist jedoch gerade der gemeinsame Dreh- und Angelpunkt aller Beiträge. Bei aller Problematik, die dieser Begriff birgt, wäre zumindest eine einleitende Thematisierung und Stellungnahme sinnvoll gewesen.[1]
Im Winter 1959/60 konfrontierte die so genannte „Schmierwelle“ die bundesdeutsche Öffentlichkeit auf vehemente Weise mit dem Thema Antisemitismus und der Erinnerung an die NS-Massenmorde. Die Politologin Shida Kiani schildert die Reaktionen von Politik, Justiz und Öffentlichkeit. Sie legt minutiös die Strategien des Umgangs mit Hakenkreuz-Schmierereien und antisemitischen Parolen dar, seziert den Konkurrenzkampf westdeutscher Politik um Deutungshoheit im In- und Ausland und beschreibt „die Unfähigkeit“ der Gesellschaft im Umgang mit der eigenen, nationalsozialistischen Vergangenheit. Allerdings befremdet Kianis Interpretation, „der Antisemitismus“ habe von „offizieller Seite“ eine stillschweigende Duldung und von „fast allen Parteien“ gar eine indirekte Bestätigung erhalten (S. 141). Auf eine exakte Begriffsbestimmung von „Antisemitismus“ verzichtet sie hier.[2]
Neben den Beiträgen von Volker Paulmann, der sich mit der Haltung der Studentenbewegung zur NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik beschäftigt, und Ute Herwig, die die „Dämonisierung und Sexualisierung von nationalsozialistischen Gewalttäterinnen in den Medien der Nachkriegszeit“ dechiffriert, sticht der Beitrag „Die Darstellung der Shoah im öffentlichen Raum“ von Stephan Alexander Glienke hervor. Am Beispiel der 1960 eröffneten Wanderausstellung „Die Vergangenheit mahnt“ über Verfolgung und Vernichtung der Juden dokumentiert und analysiert Glienke kritisch die große Bandbreite an Problemen, die die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der jungen Bundesrepublik mit sich brachte.
Die Literaturwissenschaftler Anja Schnabel und Klaus Wannemacher erinnern im dritten Block „Literatur und Theater“ an das mahnende Engagement des Schriftstellers Wolfgang Koeppen und des Theatermachers Erwin Piscator. Schnabel unterstreicht zu Recht die von Koeppen wahrgenommene seismographische Pflicht des gesellschaftskritischen und unbestechlichen Literaten. Wie etwa auch Wolfgang Borchert schuf Koeppen Literatur, die als moralischer Stellvertreter fungieren sollte. Die Deklarierung der literarisch überhöhten sowie von Restaurationsphobie geprägten Schilderungen in der von Schnabel erörterten Romantrilogie als „eine detailgetreue Wiedergabe der Zeitumstände“ (S. 261) überzeugt indes nicht – zumal Koeppen selbst den literarisch verdichtenden Charakter seiner Arbeit betont hat.[3] Wannemacher charakterisiert Piscator sodann als den Protagonisten des Gedächtnis- bzw. Dokumentartheaters. Er betont damit dessen Rolle als Pionier der Erinnerungskultur, der sich der institutionell forcierten Geschichtspolitik der jungen Bundesrepublik mittels der Theaterkunst entgegengestellt habe.
In der vierten Sektion „Justiz und NS-Herrschaft“ hinterfragt Axel von der Ohe kenntnisreich die Gründe für das Scheitern der strafrechtlichen Aufarbeitung nationalsozialistischer Justizverbrechen. Der Politologe verweist unter anderem auf eine personelle Restauration innerhalb der westdeutschen Justiz. Diese habe sich als „strukturelle Hypothek“ erwiesen und sich insbesondere in einer Empathie der Richter gegenüber NS-Angeklagten gezeigt (S. 314). Eine konsequente justizielle Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit seitens der „Juristengeneration des Hitler-Staates“ sei faktisch nicht möglich gewesen (S. 315). Einen ergiebigen komparativen Ansatz verfolgt der Historiker Andreas Mix. Der Vergleich zweier Strafprozesse gegen NS-Täter vor bundesdeutschen und DDR-Gerichten (jeweils gegen Exzesstäter aus dem Warschauer Ghetto) zeigt Gemeinsamkeiten, systembedingte Unterschiede und Interaktionen auf. Ferner erörtert Mix den jeweiligen Grad der politischen Instrumentalisierung von NS-Prozessen sowie die zugrunde liegenden Motive und Zielsetzungen.
Der gemeinsame Tenor der Beiträge – mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt – ist restaurationskritisch, anklagend und moralisierend. Das Augenmerk ist vornehmlich auf das Scheitern, Fehlen bzw. die unzureichende Umsetzung von „Vergangenheitsbewältigung“ in der Bundesrepublik gerichtet. Bereits das unkommentierte Buchcover, welches Soldaten mit Stahlhelm, Stiefeln und Knüppeln zeigt, suggeriert ein militaristisches und faschistoides Bild der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Die Untersuchungsansätze und Interpretationen des überwiegend jungen und zweifellos engagierten Autorenteams wirken weder innovativ noch originell. Weiterführend wäre etwa die Frage nach den Maßstäben der Bewertung bzw. Verurteilung mit Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in anderen westlichen Demokratien und nach deren jeweiligen Strategien zur „Vergangenheitsbewältigung“. Der Rezensent erkennt kein spezifisch deutsches Unvermögen in diesem Zusammenhang. Ein vergleichender Blick nach Österreich, Italien oder auch Spanien könnte die Interpretation der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der jungen Bundesrepublik anders akzentuieren.
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa Wertgen, Werner, Vergangenheitsbewältigung: Interpretation und Verantwortung. Ein ethischer Beitrag zu ihrer theoretischen Grundlegung, Paderborn 2001.
[2] Vgl. etwa Bergmann, Werner, Geschichte des Antisemitismus, München 2002.
[3] Im Vorwort einer späteren Auflage von „Tauben im Gras“ ging Koeppen auf die heftigen Reaktionen infolge der Erstveröffentlichung (von 1951) ein und verwies auf die literarische Imagination seines Romans: Koeppen, Wolfgang, Tauben im Gras, Tb.-Ausg. Frankfurt am Main 1980, S. 7.