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Titel
Zielgruppe Ärzteschaft. Ärzte als inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR


Autor(en)
Weil, Francesca
Reihe
Berichte und Studien 54
Erschienen
Göttingen 2008: V&R unipress
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Melanie Arndt, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

„Ich werde die mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod des Patienten hinaus wahren“, heißt es in einer bis heute gültigen Abwandlung des klassischen Hippokratischen Eides in der Genfer Deklaration des Weltärztebundes von 1948.1 Das Gelöbnis stellte auch die Grundlage der ärztlichen Ethik in der DDR dar. Wie oft und weshalb Ärzte in der DDR es dennoch brachen, zeigt Francesca Weil in ihrer Studie „Zielgruppe Ärzteschaft“. Darin untermauert sie anhand von Ergebnissen einer empirischen Studie zur inoffiziellen Kooperation von Ärzten mit dem Ministerium für Staatssicherheit den bereits von Müller-Enbergs2 ermittelten Anteil der Ärzte an den inoffiziellen Mitarbeitern (IM) des MfS. Er lag mit drei bis fünf Prozent wesentlich höher als der Prozentsatz von IM in der DDR-Bevölkerung (S. 20).3 Einen breiten Raum nimmt in der Studie die Untersuchung von Schweigepflichtsverletzungen dieser Ärzte ein. 28 Prozent der von Weil untersuchten 493 IM-Ärzte gaben intime Informationen über Patienten preis. Der Feststellung, dass angesichts dieser Ergebnisse nicht mehr von Einzelfällen gesprochen werden kann (S. 186), ist vorbehaltlos zuzustimmen.

Zwar war das Gebot der Schweigepflicht ähnlich wie in der Bundesrepublik durch Paragraphen des Strafgesetzbuches eingeschränkt, die eine Anzeigepflicht durch den Arzt bei geplanten Straftaten vorsahen. Darunter fielen im Gegensatz zu Westdeutschland in der DDR auch politische Delikte wie „staatsfeindlicher Menschenhandel“, schwere Fälle von „staatsfeindlicher Hetze“ sowie die planmäßige Vorbereitung „ungesetzlicher Grenzübertritte“. Eine Verletzung der Schweigepflicht im Rahmen einer Spitzeltätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit rechtfertigten die Paragraphen indes nicht. Damit wurde das geltende Recht unterlaufen, insbesondere dann, wenn es sich um Informationen über Diagnose, Therapie, Persönlichkeitsstruktur, soziale oder andere Probleme handelte (S. 186). Weil belegt in ihrer Studie anhand von detaillierten Fallbeispielen eindrucksvoll diesen Vertrauensbruch (Kapitel 8).

Vor der Untersuchung der Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht führt Weil in das Thema ein (Kapitel 1 und 2) und rollt die unterschiedlichen Kategorien von inoffiziellen Mitarbeitern auf (Kapitel 3). Die meisten Ärzte kategorisierte das MfS demzufolge – wie in allen anderen Berufsgruppen auch – als „geheime Informatoren“ (GI) bzw. später als „inoffizielle Mitarbeiter, die mit der Sicherung gesellschaftlicher Bereiche und Objekte beauftragt waren“ (IMS). Auffällig ist jedoch der Anteil der „inoffiziellen Mitarbeiter der Abwehr mit Feindverbindung bzw. zur unmittelbaren Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehenden Personen“ (IMV/IMF/IMB) unter den Medizinern (1988: 19 Prozent), der mehr als sechsmal höher war als der durchschnittliche Anteil der IMV/IMF/IMB am gesamten IM-Bestand (1988: 3 Prozent) (S. 56). Weil erklärt den hohen Bedarf gerade in diesem Bereich vor allem mit dem noch „unvermindert anhaltenden Flucht- und Ausreisewillen“ von Ärzten. Interessant wäre hier auch die Frage, inwieweit ein so hoher Einsatz von IM „mit Feindberührung“ notwendig war, um an wissenschaftliche oder medizintechnische Errungenschaften des Westens zu gelangen.

Im vierten Kapitel analysiert Weil die Werbestrategien des MfS sowie die Reaktionen der IM-Kandidaten auf diese Maßnahmen. Dabei wird deutlich, dass die weitaus häufigste Strategie, Ärzte für eine konspirative Tätigkeit zu werben, das Heraufbeschwören eines Bedrohungsszenarios war, in dem der Westen fachkompetente Mediziner aus der DDR zielgerichtet abwarb und ausschleuste. Neueste Untersuchungen zeigen, dass sich das MfS schon seit den 1950er-Jahren darüber bewusst war, dass eine solche gezielte Abwerbung von Medizinern aus der DDR eher die Ausnahme als die Regel darstellte.4 Dennoch hielt es in ihrer Argumentation – und offenbar insbesondere in ihrer Werbestrategie – daran fest. Um Mediziner für die Spitzeldienste zu gewinnen, gebrauchte das MfS neben dem allgemeinen Bedrohungsszenario auch andere „Legenden“, wie Weil aufzeigt, etwa indem es fingierte Schreiben in Umlauf brachte, die einzelne Ärzte diskreditierten und unter Druck setzten. Dabei nutzte das Ministerium konkrete persönliche sowie berufliche Situationen der Mediziner aus. Die Mehrheit der Mediziner verpflichtete sich indes ohne langes Zögern zu einer inoffiziellen Zusammenarbeit (S. 89).

Weil widmet sich im fünften Kapitel den Motiven der Ärzte, die zu einer Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst führten. Das vom MfS am häufigsten registrierte Motiv der „politischen Überzeugung“ belichtet Weil zurecht kritisch, denn nicht selten unterlagen die Führungsoffiziere angenommenen oder tatsächlichen politischen Prämissen und Dienstvorschriften, die eine Anwerbung auf der Basis politischer Überzeugung präferierten. Daneben waren es vor allem „Wiedergutmachung“ echter oder vermeintlicher Verfehlungen und „persönliche Interessen“, also vor allem die Aussicht auf persönliche Vorteile, die Anerkennung durch den MfS-Offizier, das Gefühl, an der Macht teilzuhaben, aber auch konkrete Hilfe im unmittelbaren beruflichen Umfeld, die eine Entscheidung zur konspirativen Kooperation beeinflussten (S. 94). Insbesondere im Falle der so genannten „Wiedergutmachung“ spielte Erpressung in den Werbegesprächen eine entscheidende Rolle, allerdings wäre es falsch, davon auszugehen, dass die Mehrheit der IM-Ärzte genötigt worden wäre.

Als „Sondergruppen“ unter den IM-Ärzten behandelt Weil minderjährig Geworbene, IM-Ärzte unter Häftlingen, im Strafvollzug, Haftkrankenhaus, im Auslandseinsatz und mit nationalsozialistischer Vergangenheit im sechsten Kapitel. Die unterschiedlichen Berichtsformen Personen-, Stimmungs-, Reise- und Sachberichte analysiert die Autorin im darauf folgenden Kapitel. Das Ergebnis der Aktenanalyse, dass personenbezogene Berichte deutlich überwogen, widerlegt Aussagen des Ministeriums, denen zufolge sich viele IM-Ärzte personenbezogener Informationen entzogen. In Weils Stichprobe machten sie lediglich eine kleine Gruppe aus (S. 150f.). Hauptsächlich berichteten die Ärzte über Kollegen, darauf folgten Ausländer und an dritter Stelle Patienten (S. 153). Zudem geht Weil auch kurz auf die Folgen für bespitzelte Personen sowie ausführlicher auf die persönlichen Vorteile für die inoffiziellen Mitarbeiter ein. Beendigung oder Ablehnung der Zusammenarbeit erläutert sie im neunten Kapitel.

Neben der Akteneinsicht führte Weil 21 Zeitzeugengespräche mit ehemaligen IM-Ärzten. Die Ergebnisse dieser Interviews und des Abgleichs mit der Aktenlage präsentiert sie im zehnten Kapitel der Studie. Neben der wenig überraschenden Bestätigung der These, dass „politische Überzeugung“ allein kaum als Motivation zur Zusammenarbeit genügte, ist der Vergleich aus erinnerungshistorischer Perspektive sehr interessant. Gleichzeitig gilt es jedoch nicht außer acht zu lassen, dass MfS-Akten als Folie nur bedingt taugen. Diese Quellenkritik kommt in der Gegenüberstellung jedoch teilweise zu kurz.

Im abschließenden Kapitel der Analyse befasst sich Weil mit den Ärzten unter den Abgeordneten der letzten Volkskammer der DDR. Sie deckt auf, dass von den 33 teilhabenden Medizinern mindestens acht als inoffizielle Mitarbeiter oder IM-Kandidaten tätig waren. In einem Resümee werden die wichtigsten Erkenntnisse der Arbeit zusammenfassend dargestellt.

Weil ist insgesamt eine sehr wertvolle Studie gelungen, in der sie einen umfassenden und ausgewogenen Einblick nicht nur in die quantitative Verstrickung der Mediziner in konspirative Tätigkeiten enthüllt, sondern auch einen differenzierten Einblick in Motivationen und Interessenlagen sowohl von Seiten des Staatssicherheitsdienstes als auch der Ärzteschaft gibt. Sie ergänzt damit sowohl die bereits vorhandenen Forschungen zum Staatssicherheitsdienst 5, als auch zum Gesundheitswesen und hierbei im speziellen der Ärzteschaft in der DDR.6 Darüber hinaus bietet sie erste Anhaltspunkte für einen Vergleich politischen Verhaltens von Medizinern in diktatorischen Regimen. Eine interessante Erweiterung wäre eine Untersuchung der frühen Jahre. Weil setzt ihren Schwerpunkt auf die 1970er- und 1980er-Jahre. Doch nicht erst in 1970er-Jahren, wie Weil angibt (S. 16), verstand die Partei- und Staatsführung der DDR den „sozialistischen Arzt“ als Persönlichkeit mit großer gesellschaftlicher Bedeutung. Diese Wahrnehmung setzte schon sehr viel früher ein. Das Konzept des Arztes als Erzieher entwickelte die Partei- und Staatsführung bereits Anfang der 1950er-Jahre. Spätestens seit diesem Zeitpunkt galt den Medizinern ein besonderes Augenmerk – auch des Staatssicherheitsdienstes. Auch die Probleme, die Weil als Schwierigkeiten des ostdeutschen Gesundheitswesen der 1970er- und 1980er-Jahre anführt, die stete Überbelastung aufgrund des Ärztemangels sowie die unzureichende materielle und technische Ausstattung der Krankeneinrichtungen, waren von Beginn an ein Knackpunkt des ostdeutschen Gesundheitswesens.

Neben den inhaltlichen Kritikpunkten sind vor allem noch ein paar formale Bemerkungen zu machen. So wäre die Studie sicher leserfreundlicher ausgefallen, wenn Definitionen der verwendeten Abkürzungen und Spezialbegriffe bei der Erstnennung eingeführt worden wären. Zudem wäre es wünschenswert, wenn bei strukturellen Aspekten sorgfältiger vorgegangen wäre, etwa bei der Übereinstimmung von Text und Tabelleninhalten. Doch trotz dieser Schwächen bleibt aufgrund der Fülle an neuen Erkenntnissen und interessanten Details ein positiver Gesamteindruck.

Anmerkungen:
1 Vgl. <http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/Genf.pdf>, (Stand 13.8.2008).
2 Müller-Enbergs, Helmut, Zur Kunst der Verweigerung – Warum Bürger nicht mit dem Ministerium für Staatssicherheit kooperieren wollten, in: Kerz-Rühling, Ingrid; Plänkers, Thomas (Hrsg.), Sozialistische Diktatur und psychische Folgen. Psychoanalytisch-psychologische Untersuchungen in Ostdeutschland und Tschechien, Tübingen 2000, S. 165-195.
3 Auf die Gesamtbevölkerung bezogen lag er 1988/89 bei etwa 1,3 Prozent. Ebd.
4 Arndt, Melanie, Gesundheitspolitik im geteilten Berlin in der Systemkonkurrenz 1948-1961, Diss. phil. HU Berlin 2008.
5 Grundlegend: Müller-Enbergs, Helmut (Hrsg.), Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, Richtlinien und Durchführungsbestimmungen, Berlin 1996; Gieseke, Jens, Mielke-Konzern. Die Geschichte der Stasi 1945-1990, München 2001.
6 Exemplarisch: Ernst, Anna-Sabine, „Die beste Prophylaxe ist der Sozialismus“. Ärzte und medizinische Hochschullehrer in der SBZ/DDR 1945-1961, Münster u.a. 1997; Süß, Sonja, Politisch missbraucht? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 1998.

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