An einem markanten historischen Beispiel analysierte und spezifizierte Darius Staliūnas den so vagen wie politisch belasteten Begriff der „Russifizierung“. Er befasste sich mit der Integrationspolitik des Russischen Reiches im nordwestlichen Grenzgebiet nach dem Januaraufstand der Polen 1863, betrachtete sie im Fokus der Nationsbildung und widerlegte die Auffassung, Russifizierung sei als eine einheitliche und gleichförmige Politik gegenüber sämtlichen ethno-konfessionellen Gruppen abzuhandeln. Daraus ergibt sich ein differenziertes Bild. Im Zentrum steht die Geschichte der Litauer aus einer neuen Perspektive betrachtet, denn bisher hat sich die litauische Forschung mehr mit den einzelnen Maßnahmen der Integrationspolitik befasst und ist dabei stark vom polnisch-russischen Antagonismus geprägt, während der hegemoniale russische Diskurs seit jeher ein beliebtes Thema russischer und westlicher Historiker ist. Erst nach 1989 wandten sich letztere der Geschichte der nicht-dominanten Gruppen zu.
Staliūnas geht davon aus, dass es im Russischen Reich weder vor noch nach 1863 einheitliche Zielvorstellungen von der Integrationspolitik im nordwestlichen Grenzgebiet gab und dass erst nach dem Januaraufstand nationale Bewegungen (Phase B der Nationsbildung nach Miroslaw Hroch) unter den ethno-konfessionellen Gruppen der Region entstanden. Zunächst waren die litauischen und belorussischen Bauern durch eine regionale Identität verbunden. Was die Strategien der Integrationspolitik betrifft, so unterscheidet Staliūnas zwischen lokalen und zentralen Autoritäten. Erstere konnten über Fragen, die nur für das nordwestliche Grenzgebiet galten, entscheiden und gingen dabei oftmals radikaler vor als die Zentralregierung. Bereits vor 1863 wurden die Bauern der Region als Russen bezeichnet und deshalb privilegiert, Frondienste aufgehoben, Preisnachlässe für Land gewährt. Obgleich das Prinzip des Habsburgerreiches „Teile und herrsche“ für das russische Imperium in der Regel nicht galt, folgte Generalgouverneur Nasimow dem Konzept für eine bestimmte Zeit, indem er vorschlug, Schulen mit Litauisch und Russisch als Unterrichtssprache, dazu Schulbücher und eine Übersetzung des Neuen Testaments in den Regionalsprachen einzuführen. Auch seine Politik gegenüber den Juden, die Zusammenarbeit mit den jüdischen Aufklärern in der Bildungsreform, folgte dieser Maxime. Dabei agierte er nicht allein, sondern – wie die Diskussion seines Memorandums von 1862 zeigt – in einem Netzwerk von Regierungsreformern. Zur gleichen Zeit entstand das slawophile Konzept der westlichen Rus, das von einer ursprünglichen ethnischen und konfessionellen Einheit der Region mit Russland ausging, die es wiederherzustellen galt. Seit den frühen 1860er-Jahren nahmen russisch-nationale Prinzipien und Forderungen in der Verwaltung des nordwestlichen Grenzgebiets zu. Ein einheitliches Konzept wurde jedoch nicht erarbeitet.
Untersucht wurden offizielle und gesellschaftliche Diskurse. Für Letztere steht die slawophile Presse und Öffentlichkeit. Nach dem Aufstand von 1863 erhielt der Begriff „obrussenie“ [Russifizieren] eine zentrale politische, normative Bedeutung, aber er bezog sich nicht auf alle ethno-konfessionellen Gruppen gleichermaßen. Russifizieren hieß in erster Linie Depolonisieren, wobei verschiedene Auffassungen vom Attribut „Russisch“ kursierten. Für die Slawophilen, als deren Protagonist Isaak Aksakow gelten kann, bestimmte die Religion, wer Russe war, für andere wie den Publizisten Katkow war es die Sprache. Jedenfalls wurde, so Staliūnas, die Integrationspolitik zunehmend durch ethno-politische Motive determiniert. Je größer die ethno-konfessionelle Nähe zu den Russen war, desto weniger kulturelle Autonomie wurde einer Gruppe zugebilligt. Die Politik der Russifizierung forderte für die Belorussen, die offiziell als Teil Russlands betrachtet wurden, Assimilation, für die Juden Akkulturation. Die Polen sollten politisch integriert und langfristig assimiliert werden. Die Litauer wurden kaum erwähnt.
Wie die nationalen Kategorien in der politischen Praxis funktionierten, macht Staliūnas an den verschiedenen, gegen Polen gerichteten Maßnahmen deutlich: dem Verbot für den Adel, Landbesitz zu erwerben, der Zehnprozentsteuer für Grundbesitzer, der Versetzung von Verwaltungsbeamten und Lehrern, der Einführung des Numerus clausus. Für alle Bereiche weist er mithilfe zahlreicher Fallbeispiele Unklarheiten und Uneinigkeit über die ethno-politischen Identifizierungen nach. In vielen Fällen wurde die Konfession als Unterscheidungsmerkmal benutzt, in anderen Fällen waren Sprache oder sozialer Stand ausschlaggebend. Polnischer Herkunft galten in der Regel Adel und Stadtbewohner. Die Schwierigkeiten der Zuordnung spiegelten sich auch in der Statistik, die ebenfalls als politisches Instrument eingesetzt wurde und nach 1863 dazu diente, die Zahl der Polen möglichst klein zu halten. Ein besonderes Problem bestand in der Identifizierung der Juden, die durch Konfession, Sprachen, sozialen Stand und rechtliche Bestimmungen zwar deutlich von den beiden anderen Gruppen unterschieden waren, sich aber aus Furcht vor Repressionen (doppelter Steuer, Militärrekrutierungen) Volkszählungen entzogen. Seit Alexander II. und vor allem nach 1863 war die Regierung für die Frage der ethnischen Zugehörigkeit sensibilisiert und um die Integration der bäuerlichen Unterschichten sowie der Gebildeten aus den nicht-dominanten Gruppen bemüht.
Die beiden Schwerpunkte der Integration bildeten die Religions- und die Sprachpolitik. Einige Generalgouverneure (Murawjow, Kaufmann, Baranow) betrieben direkte Konversionen und Schließungen von katholischen Kirchen. Bekanntes Beispiel ist die Massenkonversion katholischer belorussischer Bauern, die offiziell als Rückkehr zur russisch-orthodoxen Kirche dargestellt wurde. Die Kirche blieb indes passiv. Es ging dabei weniger um Religiosität als um politische Loyalität, nationale Zugehörigkeit und materielle Interessen. Nach 1868 begann man, die russische Sprache im katholischen Gottesdienst einzuführen. Schließlich wurde von katholischer Seite das Projekt der Kirchenunion entworfen, aber nicht ausgeführt. Weder der polnisch sprechende Adel noch die Stadtbevölkerung waren Zielgruppen für die Konversionspolitik. Konvertierter Adel wurde sogar mit Misstrauen betrachtet. Grund für die Änderung der Religionspolitik war die Furcht, die Konversion werde die religiöse Indifferenz der Bevölkerung, damit deren Anfälligkeit für neue Soziallehren und das Widerstandspotential gegen die Regierung stärken. Man fürchtete die Opposition der Bauern und der katholischen Kirche. Konversionen waren außerdem kostspielig. Dazu kam die Konkurrenz der Integrationskonzepte.
Effektiver erwies sich die Sprachenpolitik, aber auch sie war nicht einheitlich. Es ging um die Aufwertung des Russischen als Hegemonial- und Nationalsprache. Die ethno-konfessionellen Gruppen boten dafür unterschiedliche Ausgangssituationen. Polnisch hatte die stärkste, Belorussisch die schwächste Position. Um den Gebrauch des Polnischen einzuschränken, begann man die Schulen zu depolonisieren, aber es bedurfte auch hier anderer konstruktiver Maßnahmen, um erfolgreich zu sein. Man veränderte die Schrift, ersetzte die lateinische durch die kyrillische, und führte die Bevölkerung so an die russische Sprache heran. Dabei konzentrierte man sich auf die russische Bildung der Bauern und der Juden.
Was die Akkulturation der Juden betrifft, so brachte sie diesen keine Nachteile. Sie wurde nicht nur von der Regierung, sondern maßgeblich von aufgeklärten Juden selbst betrieben. Außerdem folgte sie besonderen Kriterien. Im Unterschied zu den Litauern hatten die Juden als erfahrene Diaspora und städtische Bevölkerung in der Regel Kenntnisse der Staats- und Verwaltungssprache. Es gab zwar Versuche, ihre Sprachen Jiddisch und Hebräisch zurückzudrängen, aber die Einflussnahme auf das religiöse Leben war geringer als bei den christlichen Gruppen. Seit Mitte der 1860er-Jahre wurde die Akkulturationspolitik gegenüber den Juden zugunsten der Bildung der Russen unter dem Vorzeichen der Stärkung der Hegemonialnation allmählich zurückgenommen.
Die Einführung der kyrillischen Schrift ins Litauische hatte je nach Region unterschiedliche Funktionen. Im Königreich Polen wurde die Bauernsprache durch den Schriftwechsel gefördert. Im nordwestlichen Grenzgebiet führte man die Litauer damit offensiv an das Russische heran. Bereits in der Grundschule mussten die Kinder Russisch lernen. Das Litauische wurde aus der Öffentlichkeit verdrängt und damit die Basis für die Assimilation der Litauer gelegt. In dieser Frage gab es relativ große Einhelligkeit in der Regierung.
Anfang der 1860er-Jahre war das Belorussische, um das Polnische zu schwächen, noch gefördert worden, doch nach 1863 änderte sich die Einstellung zur zweiten Bauernsprache im nordwestlichen Grenzgebiet. Sie wurde nur noch als regionaler Dialekt akzeptiert, das Beharren auf ihrer Eigenart als Sabotage des dreiteiligen Russlands geahndet.
Im Ansatz innovativ, bleibt die Untersuchung durch die perspektivische Beschränkung auf die Regierungspolitik doch einseitig. Dazu erscheint die Fixierung auf den nationalen Diskurs als Engführung, denn sie lässt andere Deutungshorizonte, wie den der Modernisierung, weitgehend außer Acht. Auch hat der Vergleich der drei ethno-konfessionellen Gruppen nur begrenzte Aussagekraft, denn die Juden waren eine Sondergruppe und ihre Integration verlief nach eigenen Kriterien. Im nordwestlichen Grenzgebiet ging es nach 1863 in erster Linie um den Gewinn loyaler Untertanen und um Modernisierung. Darüber entschieden nicht allein ethno-konfessionelle Zugehörigkeit, sondern auch soziale und wirtschaftliche Aspekte.