Große Editionsreihen gelten in der heutigen Zeit nicht als Wunschkinder der Wissenschaftspolitik. Von den Fachwissenschaftlern hingegen werden sie – stehen sie nach oft akribischer Transkription und aufwendigen Recherchen zur Verfügung – immer wieder unter verschiedenem Blickwinkel gelesen sowie zur Profilierung neuer Forschungsfragen und -themen herangezogen, umso mehr, wenn es sich wie in dem vorliegenden Fall, um eine zentrale Quelle für die Geschichte eines Staates handelt. Das wissenschaftliche Großprojekt zur Edition der österreichischen Ministerratsprotokolle hat mit den drei Bänden für die Zeit zwischen Dezember 1848 und September 1850 ein weiteres wichtiges Teilstück erhalten, handelt es sich doch um eine Schlüsselzeit der Habsburgermonarchie, in der entscheidende Weichen für ihre weitere Entwicklung gestellt wurden. Nach der Thronbesteigung des erst achtzehnjährigen Franz Joseph sowie nach Bildung einer neuen konservativen Regierung unter Felix Schwarzenberg sollte den Schwächen des alten, vormärzlichen Systems wie der revolutionären Bewegung des Jahres 1848 gleichermaßen begegnet werden. Der österreichische Kaiserstaat musste sich nach der Wiener Oktoberrevolution auf dem eingeschlagenen Weg des Konstitutionalismus fortbewegen, was – ähnlich wie zuvor in Preußen – zunächst mit einem Verfassungsoktroy und der Auflösung des Kremsierer Reichstags Anfang 1849 erfolgte und durch die Niederschlagung des ungarischen Aufstandes und den Friedensschluss mit Sardinien begünstigt wurde.
Der erste Band mit den Beratungsprotokollen zwischen Dezember 1848 und Januar 1850 hat demzufolge zunächst die Auseinandersetzungen des neu gebildeten Kabinetts mit dem nach Kremsier verwiesenen Parlament um die auszuarbeitende Verfassung zum Hauptinhalt. Nach Anfang März 1849 machte dies neben den durch die Revolution bedingten Themen auch wieder viel des üblichen Regierungsgeschäfts aus. Das Ministerium Schwarzenberg konnte sich von nun an und über längere Zeit auch ohne Parlament auf die Behandlung zweier Kernprobleme konzentrieren: auf die Deutsche Frage sowie auf die Reform der Habsburgermonarchie „von oben“. Dazu zählte das Bestreben, die Finanzen konsolidieren, das Verhältnis des Staates zur Nationalbank regeln und die Neugestaltung der deutschen Staatenlandschaft als österreichischer Gesamtstaat federführend mit gestalten zu wollen. Die angestrebte politische Neugewichtung Mitteleuropas mit dem Ende September 1849 erreichten Interim mit Preußen bleibt dabei Diskussionspunkt für die Regierung bis zur Überwindung der Herbstkrise und dem Vertrag von Olmütz Ende November 1850.
Während administrativ bereits im Jahre 1848 mit der Bildung einiger Ministerien (Justiz, Unterricht) die politische Verwaltung auf höchster Ebene wichtige Änderungen erfahren hatte, rückte für die erforderliche Neugestaltung des Staatswesens in der Fläche vor allem die Gemeindereform in den Mittelpunkt der Regierungsberatungen. Ihr geistiger Vater, Innenminister Franz von Stadion, war dabei von dem Kerngedanken ausgegangen, dass die Grundlage des freien Staates die freie Gemeinde sein solle. Davon blieb indes durch zahlreiche Kompetenzverlagerungen zugunsten des Staates nicht viel übrig. Das Gemeindegesetz wurde ohnehin nicht im gesamten Kaiserreich umgesetzt, sondern lediglich in Deutsch-Österreich und Böhmen. 1 Probleme des administrativ und ethnisch heterogenen Staatsgebietes standen regelmäßig auf der Tagesordnung der Ministerratssitzungen. Dies betraf insbesondere Beratungen zu den Landesverfassungen und Landtagswahlordnungen der „cisleithanischen“ Kronländer, die mit denen für das Herzogtum Bukowina und das Königreich Galizien Ende September 1850 abgeschlossen waren und auch in Kraft traten. Von den insgesamt 15 erlassenen Landesverfassungen indes wurden lediglich das Statut für Triest und das Grundgesetz für die Militärgrenze wirksam.
Die Neugestaltung von Verfassung und Verwaltung in den einzelnen Ländern sind im zweiten Editionsband enthalten, der die ersten vier Monate des Jahres 1850 und somit den Beginn der nachrevolutionären Periode erfasst. Die politische Stabilisierung innerhalb Ungarns war eines der sensibelsten Probleme. Neben der Notwendigkeit, die Verhältnisse in den ehemaligen Ländern der Stephanskrone denen der Gesamtmonarchie anzugleichen, trat auch noch ein innerhalb des Gouvernements schwelender Konflikt. Dieser wurde vor allem zwischen dem in Ungarn mit äußerster Härte agierenden Oberbefehlshaber Julius Freiherr von Haynau und dem Innenminister Alexander Freiherr von Bach ausgetragen, im Februar/März 1850 mehrfach erörtert, letztendlich aber erst in einer unter Anwesenheit des Kaisers Anfang Juli 1850 stattgefundenen Sitzung mit der Entlassung Haynaus beendet. Auch andere Konfliktfelder und komplexe Reformprojekte beanspruchten die Regierung in vollem Maße. Als ein für das revolutionserschütterte Gesamtreich äußerst schwieriger Bereich erwies sich der pekuniäre Sektor. Dieser zeigte sich mit seiner Vielfalt an Papiergeld und verschieden verzinsten Zentralkassaanweisungen äußerst unübersichtlich. Eine vom Ministerrat beschlossene freiwillige Anleihe zur Sanierung der lombardischen Währung scheiterte jedoch und endete nach seit dem Frühjahr 1850 geführten Diskussionen im Spätherbst 1850 mit der Umwandlung in eine Zwangsanleihe. Auch die angestrebte Entflechtung der österreichischen Nationalbank mit den Staatsfinanzen gelang nicht, so dass weder der ehrgeizige Sanierungsplan von Finanzminister Philipp Freiherr von Krauß, noch die angestrebte Währungsstabilisierung oder die Entlastung des Budgets erreicht werden konnten.
Ein weiterer großer Themenbereich, der sich gewissermaßen bandübergreifend vom ersten bis zum dritten Teil erstreckt, der die Regierungsberatungen von Anfang Mai bis Ende September 1850 wiedergibt, betraf das Verhältnis des römisch-katholisch geprägten Staates zu den verschiedenen Religionen und Kirchen. Nach einer langen Phase des Josephinismus musste nicht nur der Staat, sondern auch die katholische Kirche ihren Platz in dem verfassungsmäßig garantierten Recht der Religionsfreiheit finden. Der Episkopat trug in mehreren Eingaben seine Forderungen und Vorstellungen vor, die den Ministerrat in den ersten drei Monaten des Jahres 1850 besonders stark beanspruchten und in zwei im April sanktionierten Verordnungen zur Regelung der kirchlichen Angelegenheiten sowie über die Beziehung der katholischen Kirche zum öffentlichen Unterricht mündeten. Die als Aprilverordnungen bekannten Entscheidungen bildeten für die österreichische römisch-katholische Kirche sowie für den Vatikan selbst eine komfortable Ausgangslage für weitere Verhandlungen mit dem Staat. Für die „tolerierten“ Glaubensgemeinschaften der evangelischen Kirchen stellten sich die Bedingungen der verfassungsmäßig gewährten Religionsfreiheit wesentlich komplizierter dar: Das große Projekt eines Verfassungsgesetzes der protestantischen Kirche sollte trotz mehrfacher Erörterung bis Juni 1850 und trotz prominenter Fürsprache durch Erzherzogin Maria Dorothea vorerst scheitern. Im engen Kontext mit den Fragen der Behandlung der Religionsgemeinschaften standen auch die des öffentlichen Unterrichtswesens. Höhere wie auch elementare Bildung wurde zu einem für den Staat strategisch wichtiges Gut, umso mehr im multisprachlichen Staatsgebiet, so dass dementsprechende Inhalte sich durch alle drei Bände und bis in den Spätsommer 1850 durch- und hineinziehen.
Neben solchen zentralen Themen war der Ministerrat auch mit Routinefragen und Spezialproblemen befasst. Dazu zählten unter anderem die Festsetzung einzelner Pensionierungen, die Entscheidung in Gnadensachen wie Todesurteilen, oder Beschwerden wegen Verletzung des Briefgeheimnisses. Es finden sich aber auch zu ergreifende Vorsichtsmaßregeln der aus Brasilien ankommenden Schiffe, das Ausfuhrverbot für Kalbsfelle oder eine erwogene Eisenbahntrassenführung durch den Prater. Derartige Einzelthemen gehörten eben auch zur Tätigkeit und Politik des Ministerrats, dessen großes strategisches Ziel seiner Reformen „von oben“ die Eindämmung der bürgerlichen Emanzipationsbestrebungen und die weitgehende Sicherung der monarchischen Machtausübung war.
Gleich ob politisch brisant oder als so genannte „Außenseiter“ im schwergewichtigen Themenkanon – die Editoren der Ministerratsprotokolle widmeten sich allen Tagesordnungspunkten mit gleicher Akribie und wissenschaftlichem Interesse gemäß dem Grundkonzept der Gesamtedition. 2 Die sorgfältig vollständig edierten Protokolltexte reicherten sie spürbar durch einen textkritischen Apparat und vor allem durch einen wissenschaftlichen Kommentar an. Die Bände sind darüber hinaus mit einem kombinierten Personen-, Orts- und Sachregister, einer Dokumentenliste sowie einer Bibliographie ausgestattet. Instruktive Einleitungen führen in die Themenschwerpunkte des Editionszeitraumes ein und bieten zugleich eine kompakte Inhalts- wie Ergebnisübersicht der wichtigsten Beratungsthemen über die Jahre 1849/50. Der interessierte Leser würde sich gerade hier noch mehr Hintergrundinformationen zu Beratungsabläufen und Entscheidungsabläufen oder zu den Hauptakteuren – den Ministern – wünschen, jedoch folgen die Bearbeiter hier aus nahe liegenden Gründen strikt dem Konzept der eng an den Sachverhalten orientierten Einführung zum edierten Quellenkorpus.
Die in den drei Bänden insgesamt 405 edierten Protokolle bieten eine unermessliche Fülle an innen- wie außenpolitischen Problemen der Donaumonarchie, die oftmals den Ausgangspunkt für langjährige Entwicklungen, richtungweisende Entscheidungen, aber ebenso alltägliche Regierungsgeschäfte und administrative Abläufe bildeten. Für die wissenschaftliche Beschäftigung hiermit wie mit den zentralen Prozessen von Staat und Gesellschaft der Donaumonarchie sind die Protokolle eine unverzichtbare Quelle, aber kein Resümee. Dieses für die einzelnen politischen oder verwaltungsmäßigen Teilbereiche festzustellen oder als Gesamtbilanz der Regierungsleistung in Kenntnis der nunmehr edierten Quelle mit dem bisherigen Forschungsstand zu erbringen bzw. abzugleichen, bleibt der weiteren Forschung vorbehalten. Mit den Editionsbänden indes wurde ihr ein denkbar vielseitiger wie valider Grundstock zur Verfügung gestellt.
Anmerkungen:
1 Vgl. hierzu als jüngste Studie: Hildebrandt, Gunther, Franz von Stadion und die Reform der österreichischen Gemeinden, in: Bleiber, Helmut; Küttler, Wolfgang (Hrsg.), Revolution und Reform in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundertband: Ereignisse und Prozesse, Berlin 2005, S. 67-76.
2 Für die Gesamtedition geltend vgl. hierzu: Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1818–1867. Einleitungsband. Ministerrat und Ministerratsprotokolle 1848–1867. Behördengeschichtliche und aktenkundliche Analyse von Helmut Rumpler, Wien 1970.