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Titel
The Ambivalence of Gay Liberation. Male Homosexual Politics in 1970s West Germany


Autor(en)
Griffiths, Craig
Erschienen
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 82,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Zinn, Fritz Bauer Institut, Goethe-Universität Frankfurt am Main

„Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ – mit Rosa von Praunheims Anfang 1973 von der ARD (mit Ausnahme Bayerns) ausgestrahltem Film begann die Geschichte der neuen deutschen Schwulenbewegung. Innerhalb weniger Monate gründeten sich mehr als 30 zumeist studentische Schwulengruppen, die mit phantasievollen Aktionen dafür sorgten, dass Verfolgung, Unterdrückung und Scham überwunden und das große Projekt der Befreiung auf den Weg gebracht wurde. Das zumindest ist der Mythos, der von einigen Akteuren dieser Bewegung, die nicht selten zu Historikern ihrer eigenen Lebensgeschichte wurden, gepflegt wird und bis heute die öffentliche Wahrnehmung prägt.

Die Historisierung der Schwulenbewegung der 1970er-Jahre hat gerade erst begonnen.1 Eine bemerkenswerte Studie, die das eindimensionale öffentliche Bild zurechtrückt, hat nun der britische Historiker Craig Griffiths vorgelegt. Die mit 238 Seiten kompakte Untersuchung besticht durch eine äußerst differenzierte Analyse, die viele der Bewegungsmythen kontextualisiert, infrage stellt und zum Teil auch widerlegt. Das beginnt schon mit der wichtigen Einordnung, dass die studentische Schwulenbewegung erst durch die Liberalisierung des Homosexuellenparagrafen 175 im Jahr 1969 ermöglicht wurde, zu der ihre Akteure nichts beigetragen hatten. Dass hinderte sie jedoch nicht daran, die vielen Einzelkämpfer in Parteien, Wissenschaft, Kirchen und Homophilengruppen, die die Strafrechtsreform mühsam erstritten hatten, als „Agenten des Systems“ zu schmähen (S. 79).

Griffiths wirbt dafür, sich von der bisherigen Überhöhung der Schwulenbewegung zu lösen. Andererseits sei es aber auch falsch, diese Phase kleinzureden, wie Julian Jackson es in seiner Studie „Living in Arcadia“ versuche.2 Die neue Schwulenbewegung sei nicht nur ein „Zwischenspiel“ gewesen, sondern durchaus ein Aufbruch. Von Jackson übernimmt Griffiths aber den Ansatz, nicht nur eine Bewegungsgeschichte schreiben zu wollen, sondern die Perspektive zu erweitern auf das Denken, Fühlen und Sprechen über Homosexualität. Um dies zu gewährleisten, arbeitet er nicht nur mit Dokumenten der verschiedenen Homosexuellenorganisationen, sondern bezieht auch Presseberichte, Fernsehdokumentationen, Leserbriefe und Interviews mit einzelnen Akteuren der Schwulengruppen ein.

Griffiths grundlegende These ist, dass sich der Konflikt zwischen den neuen studentischen Schwulengruppen und der vermeintlich alten Homophilenbewegung nicht auf die immer wieder propagierte Formel „Revolutionäre“ gegen „Integrationisten“ bringen lasse. Vielmehr habe es in beiden Lagern sowohl Rufe nach einer radikalen Umgestaltung der Gesellschaft wie auch reformorientierte Ansätze gegeben. Die Situation sei also insgesamt von Ambivalenz geprägt gewesen, wie es schon im Titel der Studie heißt. Griffiths identifiziert dabei verschiedene „Axen der Ambivalenz“, die er zur analytischen Grundlage seiner Untersuchung macht. Der Mythos, dank der Schwulenbewegung sei Scham zu Stolz geworden, Angst zu Hoffnung und Unterdrückung zu Freiheit, sei zu einfach. So fänden sich auch in vielen Dokumenten der studentischen Schwulengruppen Hinweise auf Scham, Angst und Selbsthass, das Narrativ vom heldenhaften Befreiungskampf sei zwar nicht vollkommen falsch, aber unvollständig.

Griffiths begreift diese Ambivalenz als „historically productive tension“, als „the heart of gay liberation“ (S. 30). Er spürt ihr in fünf Kapiteln nach, die die schwule Welt nach der Strafrechtsreform von 1969, die Entstehung der studentischen Schwulengruppen seit 1973, deren Verhältnis zur alternativen Linken, die politische Aneignung des Rosa Winkels und den Tuntenstreit näher beleuchten. Was bei dieser thematischen Ordnung auffällt, erweist sich als eine Schwäche der Untersuchung: Dem eigenen Anspruch, „Gay Liberation“ als ein breiteres gesellschaftliches Feld zu betrachten, bei dem es um das Denken, Fühlen und Sprechen über Homosexualität geht, wird sie nur bedingt gerecht. Vielmehr fokussiert sich Griffiths auf die studentischen Schwulengruppen.

Ohne Frage ist das auch ein Quellenproblem, denn die studentischen Gruppen produzierten mit ihren theoretischen Debatten viele Dokumente, die von später entstandenen Geschichtsinitiativen wie dem Berliner Schwulen Museum sorgsam archiviert wurden. Schon schlechter bestellt ist es um die Überlieferung der eher „bürgerlichen“ Fraktion der Homophilengruppen, die mit der Selbstauflösung der „Internationalen Homophilen Welt-Organisation“ (IHWO) im Jahr 1974 an Einfluss und Bedeutung verlor. Zur schwulen Szene, also dem Lebensraum aus Kneipen, Discotheken, Saunen und anderen Cruisingplätzen, der die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse nicht nur gespiegelt, sondern seinerseits forciert haben dürfte, ist hingegen nur wenig aussagekräftiges Material überliefert. Noch schwieriger ist der Zugang zu der Frage, wie sich das Stigma-Management, also das Denken, Fühlen und Sprechen des „gewöhnlichen“ Homosexuellen wandelte.

Folgerichtig bleibt Griffiths kurzes Kapitel über die „Gay Scene“, in dem er sich weitgehend auf Beschreibungen schwuler Reiseführer beschränkt, blass. Das ist auch deswegen bedauerlich, weil die studentischen Schwulengruppen die „kommerzielle“ Szene – neben den „konformistischen“ Homophilen – zu ihrem zweiten Hauptfeind erklärt hatten. So brandmarkte Praunheim Szenegänger in seinem Film als angepasste „Parkficker“ und „Pissbudenschwule“, die „so spießig und kitschig leben“ wollten „wie der Durchschnittsbürger“. Auch der Soziologe Martin Dannecker und die von ihm maßgeblich geprägte Frankfurter Gruppe „Rotzschwul“ sahen die homosexuelle Subkultur als ein Instrument des Konformismus „of the worst kind“ (S. 52).

Letztlich waren die studentischen Schwulengruppen aber nur eine kleine, wenn auch lautstarke Minderheit in der homosexuellen Welt. Griffiths arbeitet das gut heraus, indem er auf die geringe Größe der Gruppen verweist, die in der Regel nur zehn bis dreißig Mitglieder hatten. Weniger überzeugend erscheint aber seine These, die schwulen Studenten seien vergleichsweise repräsentativ gewesen für die „homosexual population“ (S. 86). Diese Annahme stützt er darauf, dass sich unter den von Dannecker und Reiche für ihre Studie „Der gewöhnliche Homosexuelle“ befragten Männern überproportional viele Abiturienten befanden – ein Umstand, der aber eher die spezifische Auswahl der Befragten als die tatsächliche Sozialstruktur der homosexuellen Bevölkerung gespiegelt haben dürfte.3

An dieser Stelle zeigt sich auch ein Problem von Grifftihs eigentlich bestechendem Ansatz, auf die Ambivalenzen der unterschiedlichen Strömungen der homosexuellen Welt zu fokussieren: Durch die Betonung der Ambivalenzen gerät er immer wieder in Versuchung, die massiven Konflikte zwischen Homophilen und studentischen Schwulengruppen zu verwischen. Zwar treffen seine psychologischen Analysen durchaus einen wunden Punkt, so etwa die, die Angriffe der linken Aktivisten auf „Parkficker“ und „Pissbudenschwule“ seien auch ein Instrument gewesen, „to gain relief from their shame“ (S. 92). Doch der Konflikt zwischen Studenten, Homophilen und Szenegängern hatte noch andere Dimensionen. So handelte es sich nicht nur um einen Generationenkonflikt, wie Grifftihs zurecht bemerkt, sondern wohl auch um einen sozialen. Die intellektuellen Debatten der sozial privilegierten Studenten über „Entfremdung“ und „repressive Toleranz“ dürften „gewöhnlichen“ Homosexuellen aus Arbeiterschaft und Kleinbürgertum jedenfalls ebenso fremd geblieben sein wie die neuen Lebensstile, die diese erprobten.

Ein Glanzlicht der Studie sind Griffiths Analysen der Aktionsformen und Debatten innerhalb der studentisch geprägten Schwulengruppen – so etwa der Aneignung des Rosa Winkels als Symbol der NS-Verfolgung. Hier sieht Griffiths verschiedene Motive ineinandergreifen: Zunächst den Versuch, über das Tragen entsprechender Anstecker Sichtbarkeit herzustellen und damit die erhoffte „Konfrontation“ mit der Gesellschaft zu provozieren – in der Praxis fungierte der Rosa Winkel dann allerdings eher als diskretes Erkennungszeichen unter Schwulen. Größere Bedeutung hatte in den Augen von Griffiths aber das Motiv, sich mittels des Rosa Winkels gegenüber anderen linken Gruppen als „Opfer des Faschismus“ und damit als ebenbürtige Kombattanten zu legitimieren. Dass bei der Selbstinszenierung als „would-be descendants“ der Rosa-Winkel-Häftlinge strategische Motive eine bedeutende Rolle spielten, ergibt sich laut Griffiths auch daraus, dass sich die studentischen Aktivisten nur wenig für die Geschichte der älteren Homosexuellen interessierten, die die Verfolgung noch miterlebt hatten (S. 148). Wichtiger erschien ihnen die gegenwärtige Bedrohung, sah man die Behandlung Homosexueller in der Bundesrepublik doch von „faschistischem Denken“ geprägt, das jederzeit in eine neue Verfolgung umschlagen könne (S. 139f.).

Trotz einzelner Kritikpunkte bleibt festzuhalten, dass Craig Grifftihs' Bewegungsgeschichte eine bahnbrechende Studie ist, die ein äußerst differenziertes Bild insbesondere der studentisch geprägten Schwulengruppen, ihrer Debatten und Aktionsformen liefert und dabei einige Mythen, die das öffentliche Bild dieser Bewegung bislang bestimmten, entzaubert.

Anmerkungen:
1 Bislang gibt es nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema. Zu erwähnen ist insbesondere die Studie von Patrick Henze, Schwule Emanzipation und ihre Konflikte. Zur westdeutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre, Berlin 2019.
2 Julian Jackson, Living in Arcadia. Homosexuality, Politics, and Morality in France from the Liberation to AIDS, Chicago (Illinois) 2009.
3 Martin Dannecker / Reimut Reiche, Der gewöhnliche Homosexuelle. Eine soziologische Untersuchung über männliche Homosexuelle in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1974.

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