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Titel
Fackel in der Finsternis. Der Historiker Carl Erdmann und das »Dritte Reich«. Die Biographie. Briefe 1933–1945


Autor(en)
Reichert, Folker
Erschienen
Anzahl Seiten
880 S.
Preis
€ 150,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Schöttler, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Seit etwa 25 Jahren, nämlich dem einigen Wirbel verursachenden Frankfurter Historikertag, hat sich das Bild, das wir von der deutschen Historikerzunft zwischen 1933 und 1945 haben, grundlegend geändert. Früher vorhandene Scheuklappen, die zu Verheimlichungen oder Vertuschungen führten, sind weitgehend überwunden. Zahlreiche Untersuchungen und Biographien wurden vorgelegt, sogar mehrere Handbücher, die eine fast flächendeckende Betrachtung dieser sehr speziellen historiographischen Landschaft möglich machen. Nach einigen groben Klötzen, die am Anfang wohl nötig waren, um das Eis zu brechen, sind wir jetzt in der Lage, stärker auf die Nuancen zu schauen. Es gab zum Beispiel NS-Anhänger, die keine Parteimitglieder waren, und Parteimitglieder, die Kompromisse eingingen, aber trotzdem keine „Täter“ im mittlerweile üblichen Wortsinn wurden, sondern eher schon „innere Emigranten“. Dazwischen gab es allerdings viele, sogar sehr viele, die von der neuen Lage profitierten. Indem sie die Stellen besetzten, die unter dem NS-Regime „freiwurden“, oder Themen bearbeiteten, die bei den Nazis beliebt waren, oder sogar an „Einsätzen“ teilnahmen, die vom Regime veranstaltet wurden. Nur wenige trauten sich Nein zu sagen, allzu viele sagten sogar begeistert Ja und versuchten später, dieses Ja in ein halbes Nein zurück zu verwandeln.

Trotzdem gab und gibt es immer noch weiße Flecken der Forschung.1 Auch weil manchmal zu wenige Dokumente erhalten sind oder die Erschließung der Quellen nicht nur viel Spürsinn, sondern auch viel Arbeit erfordert. Die Zeit der großen, spektakulären Entdeckungen scheint jedenfalls vorbei. Und doch, Folker Reichert hat eine solche mühsame Entdeckungsreise auf sich genommen, indem er das Schicksal des noch immer wenig bekannten Mittelalterhistorikers Carl Erdmann (1898–1945) erforscht hat. Wer sich also darüber gewundert hat, dass der Verband Deutscher Historiker und Historikerinnen 2011 seinen Preis für die beste Habilitationsschrift nach diesem Erdmann (nicht seinem Namensvetter Karl Dietrich!) benannt hat, wird jetzt umfassend informiert: durch eine Biographie und einen Band mit ausgewählten Briefen, die einerseits als Belege dienen und gleichzeitig einen Einblick in Erdmanns Denk-, Arbeits- und Schreibweise bieten können.

Carl Erdmann wurde 1898 in Dorpat, dem heutigen Tartu, in einer kinderreichen Professorenfamilie geboren. Inwiefern diese baltendeutsche Herkunft für ihn eine Rolle spielte, ist allerdings unklar, denn sein Vater starb schon kurz vor seiner Geburt, und die Mutter zog drei Jahre später mit den Kindern nach Deutschland. Erdmanns Heimat wurde daher der Kurort Blankenburg im Harz. Während zwei seiner Brüder im Weltkrieg fielen, entschloss sich Carl, der groß und schlank, aber militärisch untauglich war, nach Kriegsende Theologie zu studieren, zunächst in Berlin, später in Jena und München, wobei sich sein Interesse bald in Richtung Geschichte verschob. Um Geld für sich und seine Familie zu verdienen, verließ er 1921 das krisengeschüttelte Deutschland, indem er sich als Hauslehrer bei einer deutsch-jüdischen Fabrikantenfamilie in Lissabon verdingte. Die Jahre in Portugal erschlossen ihm die wenig bekannte mittelalterliche Geschichte des Landes und reichten dann für eine – allerdings nie veröffentlichte – Doktorarbeit über den „Kreuzzugsgedanken in Portugal“, die er 1925 in Würzburg einreichte. Sein Doktorvater war Anton Chroust, ein am Wiener Institut für Österreichische Geschichtsforschung ausgebildeter Paläograph, von dem Erdmann anschließend als „Hilfsarbeiter“ viel lernte.

Wie Reichert berichtet, war Erdmann, der genau genommen nur vier Semester Geschichte studiert hatte, in vieler Hinsicht Autodidakt, hatte aber das Glück, nach seiner Stelle in Würzburg an den damals mächtigsten deutschen Historiker zu geraten, Paul Fridolin Kehr. Dieser war gleichzeitig Chef der Monumenta Germaniae Historica (MGH), des Preußischen Historischen Instituts in Rom, des Kaiser-Wilhelm-Instituts für deutsche Geschichte und Generaldirektor der Preußischen Archive. Kehr war aber nicht nur Autokrat, sondern auch ein Workaholic, dessen ganze Leidenschaft der Publikation mediävistischer Quellen galt. Der junge Erdmann, der sich bereits als Editor portugiesischer Papsturkunden profiliert hatte und ebenfalls ein Workaholic war, den kaum etwas außerhalb seiner wissenschaftlichen Arbeit interessierte, passte daher genau in Kehrs „Beuteschema“ – und wurde von diesem prompt als „Hilfsarbeiter“ für das römische Institut rekrutiert. Wie Erdmann später betonte, wäre er auch am liebsten für immer in Italien geblieben – trotz Faschismus –, hätte Kehr, der nur zweimal im Jahr in Rom nach dem Rechten sah, nicht die Idee entwickelt, seinem Schützling in Berlin zur Habilitation zu verhelfen. Also wechselte Erdmann zur MGH, Abteilung „Epistolae“, und 1935 erschien sein wichtigstes Buch, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, dessen Genese und fachinterne Bedeutung Reichert ausführlich darstellt.

Besonders ungewöhnlich, folgenreich und auch gefährlich war Erdmanns eigensinnige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Ohne die Ideologie oder die Vertreter des Regimes frontal anzugreifen – es kam sogar, wie er in einem Brief berichtet, zu einer erfreulich niveauvollen Diskussion mit Walter Frank, dem die Regierung 1935 ein eigenes „Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschlands“ (mit Schwerpunkt „Judenforschung“) spendierte –, stellte er sich mehrfach mit seiner historischen Fachkenntnis quer. Als auf dem Hintergrund von Alfred Rosenbergs „Mythus des XX. Jahrhunderts“ die alte nationalistische Legende von Karl dem Großen als „Sachsenschlächter“ wiederaufkam, ergriff er die Gelegenheit, die billige Geschichtsklitterung der NS-Propaganda zu widerlegen. Herauskam ein kleines, bemerkenswertes Buch mit dem Titel Karl der Große oder Charlemagne? Acht Antworten deutscher Geschichtsforscher. Ein Herausgeber wurde nicht genannt, aber de facto hatte Erdmann das Projekt initiiert und sieben prominente Kollegen dafür gewonnen, darunter Karl Hampe, Hermann Aubin und Friedrich Baethgen, die sich allesamt gegen eine unhistorische, auf antifranzösische Ressentiments bauende Charlemagne-Kritik und Widukind-Verehrung aussprachen.

Eine andere, noch gefährlichere Intervention betraf eine mit viel Propaganda verbundene Ausgrabung im Dom zu Quedlinburg. Himmler wollte unbedingt, dass sich dort das Grab und die Gebeine Heinrichs I. befanden, den er – mit manchen Mediävisten – als ersten „König der Deutschen“ betrachtete. Angeblich ließ er sich auch gerne selbst als „König Heinrich“ titulieren. Jedenfalls unterstand die Krypta fortan der SS, und zu mitternächtlicher Stunde ließ sich Himmler das Grab öffnen. Erdmann, der Quedlinburg gut kannte, ließ sich davon aber nicht beeindrucken, sondern wandte sich als Fachwissenschaftler in einem Vortrag und mehreren Leserbriefen, schließlich auch in einem Aufsatz in der Zeitschrift der MGH gegen die Sichtweise der SS. An der fraglichen Stelle könne es sich gar nicht um ein Königsgrab handeln, sondern nur um ein Heiligengrab. (Übrigens erwiesen sich nach dem Krieg auch die Königsgebeine als plumpe Fälschung der SS.)

Aus heutiger Sicht ist Erdmanns Verhalten beeindruckend und irritierend zugleich. Bei fast jedem Konflikt erweist er sich als unbestechlicher Wissenschaftler, und doch konstatiert Reichert manchmal eine „merkwürdig loyale Beziehung zu seinem weltanschaulichen Gegner“ (I, S. 229). Bei aller Kritik am NS-Geschichtsbild kommt es nie zum unwiderruflichen Bruch. Erdmann war gewiss ein „echter Humanist“ (II, S. 396), aber kein Anhänger der parlamentarischen Demokratie, vielmehr ein Nationalist und Konservativer, der den Duce bewunderte und für den eine Emigration in den liberalen Westen nie infrage kam (II, S. 37). Wenn er also im Unterschied zu seinem engen Freund Gerd Tellenbach, der auch kein NSDAP-Mitglied war, nie eine Professur erhielt, lag dies vielleicht eher an seiner querköpfigen Persona und seinem „gelehrten Habitus“ (II, S. 373), der gelegentlich als schroff und arrogant empfunden wurde, sogar seinen Chefs gegenüber. Auch dass die Lehre ihm kein großes Bedürfnis war, wird berichtet. Eigentlich brillierte Erdmann nur als Gelehrter, als Editor und graue Eminenz zunächst des römischen Instituts, später der MGH. Ob seine offensichtliche Homosexualität, die Reichert nie direkt thematisiert (I, S. 348), eine gewisse Rolle spielte, ist schwer zu sagen. Während manche seiner Freunde, wie etwa Baethgen, trotzdem Karriere machten, wurden andere verhaftet und entlassen (II, S. 136).2 Ob man Erdmann am Ende wirklich als einsame „Fackel in der Finsternis“ bezeichnen kann oder diese Formulierung eher einer trotzigen Selbststilisierung entsprach (II, S. 196), bleibt wohl besser offen.3 Doch dank der vorbildlich differenzierten Darstellung und minutiösen Dokumentation durch Folker Reichert lernen wir einen manchmal etwas schrulligen, aber letztlich sympathischen Außenseiter kennen, der sich im ideologischen Dickicht des „Dritten Reiches“ durchzuschlagen wusste und am Ende als einfacher Dolmetscher an der albanischen Front „besserer Laune“ war als im megalomanen Berlin (II, S. 399).

Anmerkungen:
1 Biographien von Hermann Heimpel und Otto Brunner sind offenbar in Arbeit. Aber wann wagt sich jemand an eine Studie über Günter Franz? Oder über die „Ranke-Gesellschaft“?
2 Da auch die vielgelobte Baethgen-Biographie von Joseph Lemberg (Der Historiker ohne Eigenschaften. Eine Problemgeschichte des Mediävisten Friedrich Baethgen, Frankfurt am Main 2015) einen großen Bogen um dieses Thema macht, ohne dass dies kritisiert wurde, sei hier ausdrücklich vermerkt, dass dieser männliche Genderaspekt nicht länger tabuisiert und unterschätzt werden sollte.
3 Jedenfalls könnte man noch eine Reihe anderer „Fackeln“ anführen: Außenseiter wie Felix Hartlaub oder engagierte Sozialdemokraten und Kommunisten wie Georg Sacke oder Walter Markov.

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