R. Casale u.a. (Hrsg.): Kulturen der Lehrerbildung in der Sekundarstufe in Italien und Deutschland

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Titel
Kulturen der Lehrerbildung in der Sekundarstufe in Italien und Deutschland. Nationale Formate und ,cross culture‘


Herausgeber
Casale, Rita; Windheuser, Jeannette; Ferrari, Monica; Morandi, Matteo
Erschienen
Bad Heilbrunn 2021: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
278 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Andrea De Vincenti, Zentrum für Schulgeschichte, Pädagogische Hochschule Zürich

In seinem Text «Translating Knowledge, Translating Culture» schlägt Peter Burke vor, Prozesse der De- und Rekontextualisierung zur Domestizierung und Lokalisierung eines Kulturgutes mit dem Konzept der «cultural translations» zu bearbeiten. Im Zentrum des Konzepts steht die Vorstellung einer «kulturellen Übersetzung», die bewusste oder unbewusste Änderungen der rezipierten Kultur mit sich bringe und so die Rezeption erst ermögliche.1

Auf «Transfers» und «Übersetzungen» im Sinne von Umdeutungen und «Transformationen» kultureller Modelle zielt auch das Erkenntnisinteresse des hier zu rezensierenden Bandes (S. 8). Pädagogische Ideen und Praktiken, etwa die scuola normale, école normale oder Normalschule, können als kulturelle Modelle den nationalen Rahmen überschreiten und sich in neuen (wiederum national gedachten) Kontexten etablieren, weshalb sie von den Herausgeber:innen mit dem Begriff der «cross culture» gefasst werden. Das kulturelle Modell wird dabei als «Deutungsmuster verstanden, das von der Organisation eines spezifischen Bildungssystems seine Bedeutung erhält» (S. 8f.). Schule und Unterricht werden dabei über ihre formal-strukturelle, organisationale und schulpolitische Bestimmtheit hinaus als gesellschaftliches Unterfangen mit «politischen, pädagogischen und kulturellen Implikationen» begriffen (S. 7). Die im Fokus des Bandes stehende Geschichte der Lehrer:innenbildung auf Sekundarstufe wird in der «longue durée» betrachtet, d.h. im Verständnis der Herausgeber:innen vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis heute, und mit Blick auf die «Zukunft der folgenden Generationen und des professionellen Selbstverständnisses des Lehrberufs analysiert» (ebd.).

Der parallel in Italien und Deutschland publizierte Band geht zurück auf eine Tagung in Pavia im Jahr 2017, wo bereits ein breites transnationales, später durch weitere Beiträge angereichertes Diskussionsfeld aufgespannt wurde. Anhand des «Vergleichs» der zwei «Fälle» Deutschland und Italien soll der «Zusammenhang von kulturellen Modellen, ihren Wechselwirkungen und den darin enthaltenen Vorstellungen von Schule und Gesellschaft theoretisch und historisch» erschlossen werden (S. 8).

Entlang der beiden nationalen «Fälle» ist der Band dann auch gegliedert: Der erste Beitrag von Simonetta Polenghi betont bei der Betrachtung der Implementation habsburgischer und napoleonischer Gesetzgebung in der Lombardei und in Venetien im 18. und 19. Jahrhundert die damit einhergehenden gesellschaftlich-kulturellen Transformationen. Um den Transfer des französischen Modells der école normale im Zusammenhang mit der napoleonischen Gründung der Scuola Normale Superiore di Pisa und deren Verhältnis zur Universität von Pisa geht es in dem Beitrag von Paola Carlucci und Mauro Moretti, während Matteo Morandi und Mara Donato di Paola den Blick auf weitere kulturelle Modelle weiten. Morandi wählt dabei u.a. den Ansatz des «reflective teacher» des US-Philosophen Donald Schön, Donato di Paola untersucht sehr in Übereinstimmung mit dem Thema des Sammelbandes den italienischen Blick auf das belgische Schulmodell, welches sie zwischen dem deutschen Seminar- und dem französischen Institutsmodell situiert. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte Praxis von Beobachtung und Vergleich mit dem Ausland oszillierte zwischen Anlehnung und Übernahme von Modellen bei gleichzeitig konkurrierender Abgrenzung von anderen Staaten. Die daraus resultierende Dezentralisierung eines ausschließlich nationalen Blicks lege es nahe, die angeblich nationalen Schulsysteme als Produkt einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit ausländischen Modellen zu deuten. Tiziana Pironi fokussiert den Zugang für Frauen zu Lehrstellen auf der Sekundarstufe am Beispiel der 1882 gegründeten höheren Lehrerinnenbildungsinstitute in Pisa und Rom, während Giuseppe Zagos Beitrag die Umorientierung vom Idealismus zum Positivismus mit ihren Folgen für die Lehrer:innenbildung, die Pädagogik und die pädagogischen Lehrbücher analysiert. Weitere Beiträge sind aktuellen Fragen der Lehrpersonenbildung gewidmet. Monica Ferrari fokussiert auf die permanenten Reformen der Lehrer:innenbildung, die sie ohne Steuerung und Evaluation als prekär einstuft, Giuditta Matucci plädiert im Kontext der integrativen Schule für eine bessere Bildung der Lehrpersonen, um das Postulat der Bildung für alle umzusetzen, während Anna Bondioli, Maurizio Piseri und Donatella Savio die Rolle der Pädagogik in der Lehrer:innenbildung aus drei verschiedenen Perspektiven diskutieren.

Der zweite, den deutschen «Fall» beinhaltende Teil des Bandes wird durch den Beitrag von Sabine Reh und Joachim Scholz eröffnet. Sie zeigen, wie sich mit der Praxis des Seminars (im Sinne einer Praxis der Ausbildung an Seminaren, Universitäten und Schulen) eine neue, auf Selbsttätigkeit und diskursiven Umgang mit Texten gründende Lehr- und Lernpraxis etablierte. Als Beispiel für eine staatsnahe Professionalisierung diskutiert Margret Kraul anschließend die Herausbildung des Gymnasiallehrerstandes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gymnasiallehrer hätten sich als soziale Aufsteiger mit ihrem Selbstverständnis an Universität und Wissenschaft orientiert und von der Lehrerschaft an niederen Schulen abgegrenzt. Eva Matthes untersucht in ihrem Beitrag Postulate Sprangers, Nohls und Wenigers bezüglich höherer Lehrerbildung. Diese sahen letztere institutionell getrennt von der Ausbildung der Volksschullehrer dezidiert als universitäre Ausbildung, in der die pädagogische Wissenschaft im Sinne einer Kulturpädagogik eine zentrale Rolle spielen und nicht Rezepte und Handwerk vermittelt, sondern Reflexions- und Kritikfähigkeit gefördert werden sollten. Elke Kleinau weist für das 19. und frühe 20. Jahrhundert einen pejorativen Feminisierungsbegriff zurück, indem sie aufzeigt, dass durch die späte Integration der Frauen in Verstaatlichungsprozesse weibliche Arbeitsfelder an Privatschulen von Regulierungen weitgehend unberührt blieben und sich dort deshalb eigene, innovative pädagogische Konzepte, z.B. in der an Knabenschulen wenig etablierten Fremdsprachendidaktik, entwickelt konnten. Charlotte Röhner blickt zehn Jahre nach der Implementierung auf die Schools of Education und bilanziert, diesen gelinge es kaum, die «Zerfaserung und Zufälligkeit der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung zu bekämpfen» (S. 208). Rita Casale adressiert in ihrem Beitrag noch expliziter den «Einfluss» der OECD auf Lehrpersonenbildung und Wissenschaft. Mit der Implementierung eines «transnationalen Curriculums» stellt sie standardisierende Effekte (z.B. kognitive Psychologie als Bezugsdisziplin), damit auch die «Überwindung des nationalen Charakters der Lehrerbildung» fest (S. 212f.) und plädiert für eine Ergänzung der Curricula durch Bildungsgeschichte und Erziehungs- und Bildungstheorie. Indem Studierende weniger in Probleme des Berufs und mehr in die Systematik eines Faches eingeführt würden, könne der Entpädagogisierung des Lehrberufs Einhalt geboten werden. Ähnlich kommen auch Imke Kollmer, Hannes König, Thomas Wenzl und Andreas Wernet in ihrer Interaktionsanalyse zum Schluss, dass wissenschaftliche Bildung nicht von einer Ausrichtung des Studiums auf die konkrete Unterrichtspraxis oder von «pädagogischem Naivismus» im Sinne einer Verweigerung universitärer Kommunikation profitiere (S. 241). Für eine Curriculumreform unter Berücksichtigung generationaler und geschlechtlicher Bedingungen von Schule plädieren Julia Kerstin Maria Simoneit und Jeannette Windheuser mit Blick auf die sexuelle Bildung, die sie als integralen Bestandteil von Schule und Lehrberuf betrachten. Jürgen Oelkers skizziert für eine gelingende «Lehrerbildung» ein Studium, das dem Erwerb professioneller und in der Schule anwendbarer Kompetenz Rechnung trägt, zugleich aber eine theoretische Bearbeitung von für angehende Lehrpersonen unverzichtbaren Kernthemen (Bildung und Demokratie, Digitalisierung, Ökonomisierung, Bildungspolitik und Geschichte der Profession) ermögliche.

Der verkürzende Parforceritt durch die Beiträge des Bandes lässt den enormen Reichtum an den hierin präsentierten Themen erahnen, für die man sich als Leserin zur Orientierung manchmal eine explizitere Bezugnahme auf das Rahmenthema des Bandes gewünscht hätte. Für eine noch stärkere Verbindung der Beiträge zum übergeordneten Thema und den vorgestellten Konzepten hätte sich allenfalls eine zusammenfassende Diskussion der Befunde und der Forschungsliteratur in der Einleitung oder in einem zusätzlichen Schlussabschnitt angeboten.

In dem fast gleichnamigen Sammelband «Kulturen der Lehrerbildung» aus dem Jahr 2012 plädiert etwa die Frühneuzeit-Historikerin Helga Schnabel-Schüle dafür, zum Substrat der Lehrerbildungskultur geronnene Normen, Werte und Vorstellungen zu untersuchen, denn solche «kulturelle[n] Muster» seien sehr nachhaltig.2 Schnabel-Schüle schlägt fünf Elemente vor, um die Kultur der Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen in Deutschland zu beschreiben und zu analysieren, u.a. die Ausdifferenzierung nach Schularten. So kann sie auch in diachroner Perspektive konkrete Deutungen anbieten und sieht beispielsweise in der Tradition einer universitären Gymnasiallehrpersonenausbildung mit starkem Fokus auf Fachlichkeit sowie einer stark auf das Pädagogische fokussierten Volksschullehrpersonenbildung einen Grund für eine nur teilweise gelungene Zusammenführung der verschiedenen Lehrämter – trotz der durch steigende Übergangsquoten und zunehmend heterogene Schülerschaft dekonstruierten Vorstellung einer Besonderheit des Gymnasiums.

Die einzelnen Beiträge des Bandes bieten über die zwei «Fälle» hinweg an, nach solchen Mustern oder Elementen der Kultur zu fragen – angesichts der föderalen Strukturen auch nach subnationalen Organisationsebenen und ihren jeweiligen Kulturen oder nach Figuren wie derjenigen der ungenügend ausgebildeten Lehrerin, die Elke Kleinau in ihrem Beitrag als bildungspolitisch motivierten Topos entlarvt und die in männlicher Form in weiteren Beiträgen des Bandes aufscheint. Mit der Denkfigur des kulturellen Modells und anknüpfend an Schnabel-Schüle könnte man also generell Spannungsverhältnisse zwischen einer ereignisgeschichtlich-politischen und einer damit eng verwobenen aber nicht deckungsgleichen kulturellen Ebene bei der Entwicklung der Lehrer:innenbildung transnational und transkulturell diskutieren. Der vorliegende Band bietet dazu einen anregenden und bedeutsamen Anlass, an den die historische Bildungsforschung hoffentlich mit weiteren Untersuchungen anknüpfen wird.

Anmerkungen:
1 Peter Burke, Translating Knowledge, Translating Culture, in: Michael North (Hrsg.), Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln 2009, S. 69–77, hier S. 70.
2 Helga Schnabel-Schüle, Kultur der Lehrerbildung in Deutschland, in: Christian Kraler u.a. (Hrsg.), Kulturen der Lehrerbildung. Professionalisierung eines Berufsstands im Wandel, Münster 2012, S. 19–40, hier S. 19.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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