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Titel
Die österreichische Landschulreform von den 1920er- bis zu den 1960er-Jahren. Untersuchung einer vergangenen Schulreformdebatte


Autor(en)
Göttlicher, Wilfried
Erschienen
Bad Heilbrunn 2021: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Hans-Ulrich Grunder, Universität Basel

Welche Lehren lassen sich aus der Geschichte der österreichischen Landschulreform und den sie begleitenden Diskussionen ziehen, fragt Wilfried Göttlicher am Schluss seines umfangreichen, bildungs- und schulhistorisch bemerkenswerten Bandes, einer „Untersuchung einer vergangenen Schulreformdebatte“ von den 1920- bis zu den 1960er-Jahren. Nach seinem Durchgang durch den detailreich und quellenbasiert aufgearbeiteten Verlauf mit dem Fokus auf der Diskussion um die Landschulreform fällt seine Antwort lakonisch aus: Messe man die österreichische Landschule an den ihr zugeordneten Zielen, sei sie kaum gelungen. Dies bedeute jedoch nicht, dass sie wirkungslos verpufft sei. Trotzdem zieht der Autor aus ihrer Geschichte eine ernüchternde Lehre hinsichtlich der Hoffnungen, über Interventionen im Bildungssystem eine bessere Zukunft zu schaffen.

Die vorliegende Studie ist übersichtlich und im Aufbau gut nachvollziehbar angelegt. Sie weist einen hohen Detaillierungsgrad auf. Angesichts der Materialfülle in den Sachkapiteln zur Landschulreform und zur Debatte über sie zwischen 1919 und 1964, angesichts hunderter herangezogener Quellen und nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen Kontinuitäten, die das Thema in den vier Jahrzehnten ausgeprägt hat, leidet freilich die Übersicht. Dies umso mehr, als der Autor die Debatte am Ende aus lediglich einer unmittelbar einleuchtenden Maxime rekapituliert. Ein entsprechender Hinweis, zu Beginn gegeben, würde es erlauben, die vielfältigen und detailhaltigen, also interessanten Aussagen zu den Quellen schon während der Lektüre leichter einzuordnen. Diese eine, überzeugende Leitlinie verweist auf den engen Bezug des Landschulreformdiskurses zu den wechselnden politischen Kontexten.

Die Geschichte der österreichischen Landschulreform im 20. Jahrhundert ist heute weitgehend unbekannt. Dass bislang keine umfassende Darstellung darüber vorliegt, führt Göttlicher zufolge zu einer „verzerrten schulgeschichtlichen Erinnerung“ – intensiviert durch den Umstand, dass die österreichischen Schulen noch bis in die 1960er-Jahre mehrheitlich typische Landschulen waren. Seine Quellenstudie schließt diese Lücke in der österreichischen Bildungsgeschichte. Der analysierende Blick bezieht auch die gesellschaftlichen Problemlagen ein, die, geht es um die Landschulreform und den sie begleitenden Diskurs, Prozessen gesellschaftlicher Modernisierung korrespondierten. Der Blick auf die longue durée zeigt: Stand die Landschulreform in der Zeit der Ersten Republik (1919–1934) in einem komplexen Wechselverhältnis zur heute noch bekannteren Wiener Schulreform (1922–1934), war die Erneuerung der Landschule zu Beginn der Zweiten Republik (1945 ff.) das wichtigste Reformprojekt im österreichischen Schulwesen.

Der Autor rekonstruiert die Auseinandersetzung um die Reform des ländlichen Schulwesens in Österreich zwischen den 1920er- und den 1960er-Jahren weitgehend anhand der publizierten Beiträge aus der Feder von Lehrerinnen und Lehrern. Insbesondere der Akzent auf den Akteuren erbringe Belege dafür, dass die Diskussion um die Verfasstheit, die Struktur und den Unterricht der Landschule eine Gelegenheit dargestellt habe, Forderungen zur besseren Dotierung des ländlichen Schulwesens zu platzieren.

Neben der Einleitung, den Hinweisen zur Methodik der Untersuchung und dem abschließenden Epilog besteht die Wiener Dissertation von Wilfried Göttlicher aus acht Abschnitten. Mit grundsätzlichen Bemerkungen ist die thematische Basis für die nachfolgenden Ausführungen gelegt – zum Verhältnis von Schulreformen und Schulreformdebatten, zur Position von Lehrpersonen und Schulleuten als untersuchte Akteursgruppen, zur Schulreform als Antwort auf gesellschaftliche Problemlagen, zur Frage der Modernisierung des sozialgeschichtlichen Kontexts der Landschulreformdiskussion und zur Begründung des Untersuchungszeitraums. In den Ausführungen zur diskursanalytischen Methodik beschreibt der Autor den Forschungszugang. Dann skizziert er das Design seiner Untersuchung und erläutert das herangezogene Textkorpus und die dort vorgenommenen Eingrenzungen. Er thematisiert sorgfältig die damit verbundene Auswahl und das Vorgehen bei der Textanalyse. Das untersuchte Korpus umfasst insgesamt etwa tausend Titel (!). Es sind mehrheitlich Einzelbeiträge in den damals am weitesten verbreiteten österreichischen Lehrerzeitschriften und Aufsätze in Sammelbänden, nebst Monographien.

Die sechs Hauptkapitel bilden die chronologisch verlaufende Phaseneinteilung ab, in die Göttlicher die Landschulreform unterteilt hat, nachdem die Frage der Periodisierung in der gesamten Zeitspanne geklärt ist (3. Kapitel, S. 43–58). Mit den Angaben zu den Problemfeldern, welche die Landschulen zwischen 1920 bis zur Mitte des Jahrhunderts zu bearbeiten hatten, der Bestimmung, was damals als Landschule gegolten hat und der Skizze der Struktur und Organisation der ländlichen Volksschule ist der Boden bereitet für die Darstellung der Landschulreform. Darauf (4. Kapitel, S. 59–146) bestimmt Göttlicher die Landschulreform für die Zeit der Ersten Republik (1919–1934) als Teil der allgemeinen österreichischen Schulreformbewegung. Er stellt sie in den Kontext der Glöckelschen Schulreform (Bundesebene: 1919–1920; Wien: 1922–1934) und der damals herrschenden politischen Rahmenbedingungen.

Im folgenden Teil (5. Kapitel, S. 147–164) sind die katholischen bzw. christlich-sozialen Positionen in der Landschulreformdebatte der Ersten Republik und im Autoritären Ständestaat (ca. 1923–1938) zu klären. Die damaligen Protagonisten missbilligten zwar den hohen Stellenwert der Realien sowie das Gewicht der ästhetischen und körperlichen Erziehung in den neuen Lehrplänen. Doch jenseits ihrer Skepsis bildete sich Mitte der 1920er-Jahre ein eigenständiger katholischer Entwurf einer reformpädagogischen Landschulreform heraus, der der Glöckelschen Schulreform nicht unmittelbar entgegenstand, aber anders akzentuiert war. Im nächsten Teil (6. Kapitel, S. 165–184) schildert der Autor die Landschulreform zwischen der Ersten und der Zweiten Republik, im Autoritären Ständestaat und im Nationalsozialismus (1934–1945). Bemerkenswert ist: Die Systembrüche von 1934 und 1938 wirkten sich auf die Landschulreformdebatte aus. Allerdings verursachten sie keine Zäsuren, verliefen also moderater als jene in der Politik. Anschließend (7. Kapitel, S. 185–242) befasst sich der Autor mit der österreichischen Landschulerneuerung nach dem Zweiten Weltkrieg (1946 bis ca. 1957). Er verzeichnet eine institutionalisierte Reformbewegung mit einem dezidierten Programm, das auf ministerielle Initiative zurückging. Ab Mitte der 1950er-Jahre schließlich sei zu beobachten, wie sich zugleich mit dem gesamtgesellschaftlichen Diskurs auch das pädagogische „Problemfeld Landschulreform“ gewandelt habe.

Im letzten Teil und vor den beiden Résumés (8. Kapitel, S. 243–284) verfolgt der Autor die Landschulerneuerung unter der Optik des sozioökonomischen Strukturwandels und der Bildungsexpansion (ca. 1957–1964). Er erörtert die Entwicklung des Verhältnisses der Volksschuloberstufe zur österreichischen Hauptschule. Hier wäre ein Hinweis zur terminologischen Differenz der Hauptschulbegriffe im deutschen Sprachraum angebracht gewesen.

Göttlicher beurteilt den Schluss der Landschulerneuerung (1965): Es waren andere soziale Probleme des ländlichen Raums als 1945 aufgetreten, die angemessene pädagogische Reaktionen erforderten. Infolgedessen verlor die österreichische Landschulerneuerung ihren historischen Kontext, durch den sie in der ersten Phase konstituiert worden war – in schulpolitischer, sozialräumlicher und diskursiver Hinsicht. Darum schien es fortan zwecklos, über eine Landschulerneuerung einen pädagogischen Neubeginn zu initiieren. In der Diskussion über die Landschulerneuerung kam damals das Thema „Bildungsgerechtigkeit für das Landkind“ auf. In Schule und Unterricht war die traditionelle „Kindorientierung“ der „Wissenschaftsorientierung“ gewichen.

Das Buch erfordert eine konzentrierte Lektüre. Mit dem Ziel einer erhöhten Leserfreundlichkeit wäre es sinnvoll gewesen, strukturierende, übersichtliche Tabellen und Grafiken einzufügen – gerade angesichts von Periodisierungen, Phasen/Epochen und konkurrierender Terminologien. Mir fehlen neben den ausgedehnten Sachinformationen Lesehilfen bereits zu Beginn des Texts, die allenfalls als Leitlinien für die gesamte Studie hätten dienen können: Vertiefende Hinweise zum Verhältnis der Landschulreform zur Wiener Schulreform, zur Funktion der Landschule als Moderatorin von Modernisierungsprozessen, zum Aspekt der „regressiven Modernisierung“ (den der Autor mit Blick auf die Landschulreform als „selektive Modernisierung“ verwendet und damit seiner Brisanz beraubt), zu den Sachverhalten „Bildungsbeschränkung“ oder „Erwartungen an die Wirksamkeit pädagogischen Reformhandelns“.

Davon abgesehen ist die vorliegende Studie sehr sorgfältig gearbeitet. Insbesondere ist sie gut strukturiert und terminologisch konsistent gehalten. Sie profitiert außerordentlich von der intensiven Quellenarbeit des Autors. Allein das Auffinden der Quellen und ihre Aufbereitung stellen ein großes Verdienst dar, das Wilfried Göttlicher für sich beanspruchen kann. Der Bezug auf die Akteursperspektive stärkt die Aussagekraft der Ergebnisse. Er verleiht der Studie Farbe, weil sie die Argumentation der Beteiligten nachvollziehbar macht.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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