S. Marburg: König Johann von Sachsen

Titel
Europäischer Hochadel. König Johann von Sachsen (1801-1873) und die Binnenkommunikation einer Sozialformation


Autor(en)
Marburg, Silke
Erschienen
Berlin 2008: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
353 S.
Preis
€ 48,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Stickler, Institut für Geschichte, Universität Würzburg

Die Adelsgeschichte hat nach einer Phase auffälliger Zurückhaltung des Mainstreams der historischen Forschung seit etwa 10 Jahren wieder Konjunktur.1 Die Gründe für die jahrelange Abstinenz sind vielfältig und vor allem wissenschaftspolitischen Paradigmenwechseln geschuldet: erstens die seit dem Aufkommen der sozialanthropologisch-kulturgeschichtlichen „New History“ am Ende der 1980er-Jahre zu beobachtende Verlagerung des historischen Interesses auf die „kleinen Leute“, zweitens die behauptete Wahlverwandtschaft der Fürsten- und Dynastiegeschichte mit überholten Erkenntnisinteressen und Untersuchungsmethoden (Heinz Schilling: „Flucht in den Hafen des Neopositivismus“), drittens die Dominanz eines auf dem Konzept westlich-industriegesellschaftlicher Modernisierung fußenden historischen Bewertungsmaßstabs, vor dessen Hintergrund die monarchische Staatsform bestenfalls ein fremdartiges historisches Relikt aus einer überwundenen Epoche darstellt.2 Innerhalb der aufblühenden Adelsforschung fand indes ein wichtiger Zweig des europäischen Hochadels bisher auffällig wenig Beachtung, die (ehemals) regierenden Häuser.3 Die Studie von Silke Marburg, eine 2004 an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden verteidigte, bei Winfried Müller entstandene Dissertation, leistet einen wichtigen Beitrag zu diesem Forschungsfeld. Die Autorin ist bereits durch mehrere Arbeiten zur sächsischen Adelsgeschichte als Kennerin der Materie ausgewiesen.4

Es handelt sich bei dem vorliegenden Band, trotz der ausdrücklichen Bezugnahme auf König Johann von Sachsen (1801-1873, reg. 1854-1873), nicht um eine Biographie, wenngleich jene natürlich mannigfaltige Aspekte für eine solche, die immer noch ein Desiderat der Forschung darstellt, behandelt. König Johann und seine Familie dienen Marburg vielmehr als typische Repräsentanten einer traditionalen, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch sehr lebendigen Sozialformation, die über ein eigenständiges, exklusives Selbstverständnis verfügte und, den egalitären und demokratischen Tendenzen des industriellen Zeitalters zum Trotz, an diesem unverbrüchlich festhielt. Eine gruppenspezifische Binnenkommunikation, an der die „nicht standesgemäße“ Außenwelt keinen Anteil hatte, ermöglichte es dem Haus Wettin, gleichsam als Erinnerungsgruppe fortzubestehen. Insofern relativiert Marburg verbreitete sozialgeschichtliche Interpretationen, die vor dem Hintergrund des Modernisierungsparadigmas die Geschichte des hohen Adels im langen 19. Jahrhundert vor allem als Niedergangs- bzw. Verfallsgeschichte beschreiben.

Basisquelle der Untersuchung sind die über 1000 Briefe umfassende Korrespondenz König Johanns von Sachsen mit seiner Tochter Elisabeth, verheiratete Herzogin von Genua (1830-1912), aus den Jahren 1850 bis 1873, die im Archivio Arcivesovile di Torino nahezu lückenlos erhalten geblieben sind. Hinzu kommen Briefwechsel der Herzogin mit ihrer Mutter Königin Amalie Auguste (1801-1877), ihrem Bruder König Georg von Sachsen (1832-1904, reg. 1902-1904) sowie ihren Schwestern Prinzessin Sidonie von Sachsen (1834-1862), Anna, verheiratete Erbgroßherzogin der Toskana (1836-1859), Margarethe, verheiratete Erzherzogin von Österreich (1840-1858) und Sophie, verheiratete Herzogin in Bayern (1845-1867). Obgleich diese Fülle an Briefen nur einen kleinen Ausschnitt aus der Familienkorrespondenz des Hauses Wettin darstellt, so erlauben sie dennoch aufgrund der Dichte der Überlieferung hinreichend valide und insbesondere verallgemeinerungsfähige Aussagen im Sinne der Fragestellung der Arbeit. Zu Recht weist Marburg einleitend (S. 12) darauf hin, dass gerade die Textgattung Familienkorrespondenz tiefe Einblicke in die internen Diskurse über standesgemäße Lebensführung bzw. deviantes Verhalten, über Handlungsoptionen und Standesmaximen ermöglicht, da sie soziale Sinnproduktion innerhalb einer von sozialer Exklusivität und weitgehendem inneren Konsens gekennzeichneten Gruppe erschließt. Legitimationsbedürfnisse etwa gegenüber einer sozial anders strukturierten bzw. abweichend denkenden Leserschaft, auf die Rücksicht hätte genommen werden müssen, spielten in diesem Kontext praktisch keine Rolle. Insofern begegnen dem heutigen Leser die Aussagen der Briefeschreiber weitgehend unverstellt. Intensiv benutzt hat Marburg ferner die einschlägigen Bestände des Sächsischen Hauptstaatsarchivs Dresden sowie, in kleinerem Umfang, ausgewählte Dokumente aus dem Archivio di Stato di Torino, dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, dem Landesarchiv Schleswig-Holstein, dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien und dem Sächsischen Landesamt für Denkmalpflege Dresden.

Nach einer gelungenen Einleitung, in der der aktuelle Forschungsstand aufgezeigt und die Fragestellung entwickelt wird, widmet sich das zweite Kapitel der Analyse der Quellengattung „serielle Privatbriefe“, deren Bedeutung für die Binnenkommunikation des Hauses Wettin ausführlich dargelegt wird. Im dritten Kapitel werden unter dem Titel „Differenz und Distinktion“ anhand von Briefquellen König Johanns Verständnis von „Hochadel“ und dessen Position innerhalb der Gesellschaft rekonstruiert: Pflicht und Gewissen als Handlungsorientierungen, Gottesgnade und Menschenpflicht als wichtige Legitimationsbasis sowie die Konzepte der Binnenkommunikation („öffentliche Stellung und private Existenz“, „geniren“, „Verwandtschaftlichkeit und Verwandtschaft“, „Freundschaft und Freundschaft“) werden hierbei besonders herausgearbeitet. Das vierte Kapitel behandelt Gesellschaft und Geselligkeit im „Kräftefeld der Residenz“ (Hochadelsfamilien im Exil, Bedeutung von einschlägigen Bildungseinrichtungen für die Binnenkommunikation, soziale Kontakte bei der Durchreise, außerhöfische Geselligkeit), Rangverhältnisse bei Hofe (Tendenzen der Zeremonialentwicklung, Albertiner unter sich, Standesherren, Souveräne und Hausangehörige) sowie das sehr aufschlussreiche Feld der offiziellen Besuche und der damit verknüpften symbolischen Praktiken. Das fünfte Kapitel hat schließlich das für hochadeliges Selbstverständnis in besonderer Weise konstitutive Thema der dynastischen Eheschließungen zum Gegenstand: Untersucht werden hierbei das Konzept der Ebenbürtigkeit, die konkreten Mechanismen der Eheanbahnung sowie das Heiratskalkül Johanns für seine Kinder (hier insbesondere die Kriterien Stand, Konfession, Ressourcen und Staatsinteresse). Marburg kommt zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass die sich im 19. Jahrhundert rasant verändernden Rahmenbedingungen für die Binnenkommunikation sozialer Formationen allgemein gerade für den Hochadel erhebliche Konsequenzen hatten, weil sich die Erfahrungsmöglichkeiten der sozialen Identität dieser Gruppe grundlegend und nachhaltig wandelten. Allerdings blieben die symbolischen Kernbestände der Standeszugehörigkeit und die Auratisierungstechniken, mit denen die Bedeutung der eigenen Stellung gefestigt und erhöht werden sollten, im Kern unverändert. Dies erklärt, weshalb die Traditionskonstruktionen der regierenden Häuser erstaunlich stabil blieben. Die Konsequenzen dieses bei aller Anpassungsfähigkeit im Kern konservativen Traditionalismus zeigten sich etwa in aller Deutlichkeit bei den innerfamiliären Auseinandersetzungen um die unstandesgemäße zweite Eheschließung von Johanns Tochter Elisabeth (1856) mit Marchese Nicolò Giuseppe Efisio Rapallo (1825–1912), nachdem deren erster Gatte Ferdinand Maria von Savoyen-Carignan, Herzog von Genua (1822–1855) bereits nach fünfjähriger Ehe gestorben war (S. 266-279). Auch wenn sich König Johann am Ende mit der neuen Verbindung abfand, so lehnte er diese letztlich doch aus Gründen der Standesehre ab. Er kümmerte sich zwar engagiert darum, dass seine Tochter ihre fürstliche Stellung behielt und in der Frage der Erziehung ihrer Kinder und ihrer Alimentierung ein Kompromiss erzielt wurde, doch behandelte er Rapallo stets als Höfling seiner Tochter und nicht als vollwertigen Schwiegersohn. Johanns Einsatz für Elisabeth entsprang auch keineswegs nur väterlichen Gefühlen, sondern war auch und vor allem von dem Bestreben getragen gewesen, Schande vom Haus Wettin abzuwenden.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die gelungene Studie von Marburg eindrucksvoll zeigt, wie fruchtbar Adelsgeschichte betrieben werden kann, wenn sozial- und kulturgeschichtliche Fragestellungen und Methoden in derart undogmatischer Weise miteinander verbunden werden. Sie zeigt auch, dass notwendigerweise zeitintensive und mühsame, überwiegend auf persönliche Quellen rekurrierende empirisch ausgerichtete Archivforschungen keineswegs neopositivistisch verengt sein müssen. Drittens legt sie am Beispiel Sachsens Zeugnis ab vom kulturellen und historischen Reichtum der konstitutionell-monarchisch verfassten föderativen deutschen Nation, deren Erbe leider immer noch allzu oft mit den pejorativen Begriffen der deutschen Kleinstaaterei bzw. der Zaunkönige von Napoleons Gnaden belegt wird. Kritisch könnte man lediglich anmerken, dass Sprache und Stil Marburgs bisweilen allzu elaboriert daherkommen, Nichtfachleute dürften bei der Lektüre zweifellos ihre Probleme haben – eigentlich schade für ein Thema, das, sieht man sich einmal die Verkaufszahlen populärwissenschaftlicher Adelsliteratur an, potentiell gerade auch außerhalb der etablierten Wissenschaft Interessenten finden dürfte. Doch soll dieser Befund den Verdienst der Autorin nicht schmälern. Ihrem Band ist in der Fachwelt – und nicht nur unter Adelshistorikern – weite Verbreitung zu wünschen. Es wäre zu hoffen, dass er vergleichbare Untersuchungen zu anderen regierenden Häusern anregt und damit dieses wichtige Forschungsfeld weiter im Focus der Geschichtswissenschaft verbleibt.

Anmerkungen:
1 Aus der Fülle der einschlägigen jüngeren Literatur vgl. v.a.: Weber, Wolfgang E. J. (Hrsg.), Der Fürst. Ideen und Wirklichkeiten in der europäischen Geschichte, Köln u.a. 1998; Reif, Heinz, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999; Denzel, Markus A.; Schulz, Günther (Hrsg.), Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2002 und 2003, St. Katharinen 2004; Conze, Eckart; Wienfort, Monika (Hrsg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2004; Wienfort, Monika, Der Adel in der Moderne, Göttingen 2006.
2 Vgl. hierzu Weber, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Der Fürst, S. 1ff.; vgl. auch Blackbourn, David, Das Kaiserreich transnational. Eine Skizze, in: Conrad, Sebastian; Osterhammel, Jürgen (Hrsg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen 2004, S. 302-324.
3 Vgl. Stickler, Matthias, Machtverlust und Beharrung – Dimensionen einer erneuerten politischen Geschichte der regierenden Dynastien Europas im 20. Jahrhundert, in: Kraus, Hans-Christof; Nicklas, Thomas (Hrsg.), Geschichte der Politik. Alte und Neue Wege. München 2007, S. 375-396.
4 Vgl. v.a. Marburg, Silke; Matzerath, Josef (Hrsg.), Der Schritt in die Moderne. Sächsischer Adel zwischen 1763 und 1918, Köln u.a. 2001 sowie Marburg, Silke, „Das Ansehen hat man umsonst“. Gattenwahl und Heiratskalkül für die Kinder König Johanns von Sachsen (1801-1873), in: Müller, Winfried; Schattkowsky, Martina (Hrsg.), Zwischen Tradition und Modernität. König Johann von Sachsen 1801-1873, Leipzig 2004, S. 357-404.