Als „neue[s] und noch immer eher unbekannte[s] Forschungsfeld“ (S. 11) charakterisiert Anne Waldschmidt die Disability Studies im deutschsprachigen Raum im vorliegenden Band – ein Befund, dem sicherlich auch im Jahr 2021 noch zuzustimmen ist. Neuen Interessent:innen kann der Einstieg in dieses reichhaltige Forschungsfeld schwerfallen. Deutschsprachige Einführungs- und Überblicksbände jüngeren Datums, die das ganze Feld behandeln, sind Mangelware.1 Waldschmidts vorliegende Einführung vermag hier Abhilfe zu schaffen. Sie will „einen systematischen Einblick in das Forschungsfeld und die ihm eigene Perspektivierung von (Nicht-)Behinderung […] geben“, außerdem „den Einstieg in ein höchst anregendes, interdisziplinäres Forschungsfeld ermöglichen, über zentrale Theorien, Themen und Debatten orientieren, den aktuellen Stand der Forschung bilanzieren und Anstöße zur Weiterentwicklung liefern“ (S. 12). Für die Umsetzung dieses Anliegens ist Waldschmidt geradezu prädestiniert, ist sie doch seit der hiesigen Etablierung des Forschungsfeldes Anfang der 2000er-Jahre eine der wichtigsten Protagonistinnen der Disability Studies in Deutschland.2
Waldschmidt eröffnet ihre Einführung mit einigen Vorbemerkungen (Kapitel 1) zum besonderen gedanklichen Zugriff der Disability Studies auf (Nicht-)Behinderung und den Fallstricken, die sich beim Sprechen bzw. Schreiben über Behinderung ergeben können. Neueinsteiger:innen vermittelt sie hier sogleich, was sie als Kernanliegen der Disability Studies identifiziert: „Wie, warum und wozu wird – historisch, sozial und kulturell – ‚Anderssein‘ als Behinderung hergestellt, verobjektiviert und praktiziert?“ (S. 12) In der folgenden „Einladung zu den Disability Studies“ (Kapitel 2) vertieft Waldschmidt die Standortbestimmung der Disability Studies insbesondere im Verhältnis zu anderen, meist anwendungsorientierteren Wissenschaften wie den Rehabilitationswissenschaften und unterstreicht, dass es sich ihrem Begriffsverständnis nach bei den Disability Studies um eine „gesellschaftskritische, bewegungsorientierte Perspektive“ (S. 23) handelt. Hieran anschließend skizziert sie über einen begriffsgeschichtlichen Abriss einen Grundpfeiler der Disability Studies: (Nicht-)Behinderung nicht als naturalisiertes verkörpertes Merkmal, sondern als soziokulturelle Konstruktion zu verstehen, als eine historisch kontingente, über Diskurse, Praktiken, Institutionen, Strukturen und Akteure hergestellte Ungleichheitskategorie. Weiter legt Waldschmidt dar, wie für die Disability Studies (Nicht-)Behinderung somit gleichfalls zu einer analytischen Kategorie wird, um Konzeptionen und Praktiken von Normalität und Andersartigkeit im Wandel des Zeitverlaufs zu untersuchen.
Sodann widmet sich Waldschmidt einer Bestandsaufnahme der internationalen Disability Studies (Kapitel 3), gegliedert nach deren drei großen Forschungslinien: Sozialwissenschaften, Geschichtswissenschaften, Kulturwissenschaften. Sie schränkt hier eingangs ein, dass es sich verständlicherweise nur um eine Skizze handeln kann und dass Schwerpunkte auf den „Mutterländern“ USA und Großbritannien sowie dem deutschsprachigen Raum liegen. Bei der Ankündigung einer „Weltreise […], die insgesamt fünf Kontinente – Afrika, Asien, Australien, Europa sowie Nord- und Südamerika – abdeckt“ (S. 40), hätte man sich mitunter aber doch eine etwas weniger kursorische und selektive Behandlung von Forschung aus und über andere/n Regionen wünschen können. Themenfremde Leser:innen könnten sich zudem von diesem Kapitel etwas überfordert fühlen. Waldschmidt zeichnet detailliert Ursprünge und akademische Etablierung der Disability Studies nach, Neueinsteiger:innen wissen mit den zahlreichen Namen der Protagonist:innen und den eingeflochtenen theoretischen Eckpfeilern des Forschungsfeldes unter Umständen aber zu diesem Zeitpunkt der Lektüre noch nicht genug anzufangen, um sich nachhaltig orientieren zu können.
Im vierten Kapitel stellt Waldschmidt in den Disability Studies diskutierte und heuristisch angewandte Modelle von Behinderung vor und hält dazu treffend fest: „Sicherlich haben die Modelle von Behinderung maßgeblich zur Profilierung des Forschungsfeldes beigetragen, die Theoriearbeit im engeren Sinne können sie jedoch nicht ersetzen.“ (S. 72) Aus dem breiten Angebot hat Waldschmidt eine sinnvolle Auswahl von insgesamt sechs Modellen getroffen, die sie konzise vor- und einander gegenüberstellt. Gesondert weist sie auf die teils fließenden Grenzen und jeweiligen Stärken und Schwächen der Modelle hin, bevor sie zur Vorstellung verschiedener Theorieansätze im nächsten Kapitel überleitet. Nach Darstellung von Rezeption und Kritik der Disability Studies von bzw. an Erving Goffman und Michel Foucault befasst sich Waldschmidt hier mit zentralen Ansätzen aus den sozialwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Disability Studies und legt schließlich besonderes Augenmerk auf Debatten zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Wenn auch einige Redundanzen zu vorangegangen Kapiteln auffallen, erhalten Leser:innen doch einen guten Eindruck des theoretischen Werdegangs der Disability Studies und der wichtigsten jüngeren Ansätze und Debatten.
Daran anschließend konzentriert sich das sechste Kapitel auf Wissenschaftskritik und emanzipatorische und partizipative Methoden der Disability Studies. „Nothing about Us without Us“ ist in den Disability Studies, die stärker als manch andere Forschungsrichtung mit dem aktivistischen Feld verknüpft sind, ein wirkmächtiger Leitfaden; dementsprechend ist diese Fokussierung nachvollziehbar. Gleichwohl hätte man sich hier einzelne Überblicke über andere empirische Forschungszugänge und auch eine tiefergehende kritische Diskussion von Stärken und Schwächen der emanzipatorischen bzw. partizipatorischen Ansätze und allgemeiner noch der Tendenzen zur Verquickung von Aktivismus und Wissenschaft wünschen können.
Im vorletzten Kapitel gibt Waldschmidt einen Überblick zum aktuellen Forschungsstand der interdisziplinären Disability Studies (Kapitel 7), erneut gegliedert nach sozial-, geschichts- und kulturwissenschaftlicher Forschung, nun ergänzt um querliegende Perspektiven und mit einem klaren Fokus auf Arbeiten ab dem Jahr 2000. Waldschmidts fachliche Erfahrung und Expertise, die den ganzen Einführungsband durchzieht, scheint wie schon in der Bestandsaufnahme im dritten Kapitel hier nochmals besonders auf. Neueinsteiger:innen dürfen sich sicher sein, im Forschungsüberblick auf die wichtigsten Doyens und Doyennen der angloamerikanischen und deutschsprachigen Disability Studies zu stoßen, während informierte Leser:innen die breite Forschungskenntnis der Autorin wertschätzen können.
Das letzte Kapitel ihrer Einführung widmet Waldschmidt „Stand, Kontroversen und Perspektiven der Disability Studies“ (Kapitel 8). Gekonnt resümiert sie Ursprünge, Einflüsse, Entwicklungen, Ausrichtungen und Methoden der Disability Studies und benennt exemplarische Kontroversen (Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus; Wer kann, darf und soll Disability Studies betreiben? Selbst- oder Stellvertretung von Menschen mit Behinderungen) und Desiderata (weitere theoretische und methodologische Fundierung; stärkerer Anschluss an Bezugsdisziplinen; Umsetzung von emanzipatorischen und partizipatorischen Ansprüchen; weitere komparative und internationale Forschung). Während letztere sicher richtig benannt sind, könnte man bei den skizzierten Kontroversen rückfragen, ob diese nicht noch ausführlicher und kritischer thematisiert und problematisiert hätten werden können, zumal es sich um grundlegende Fragestellungen handelt, die gerade Neueinsteiger:innen besonders interessieren könnten.
Anne Waldschmidt hat insgesamt eine gelungene und dringend nötige Einführung in ein internationales, interdisziplinäres, diverses und dynamisches Forschungsfeld vorgelegt. Der Band kann und will dabei freilich keine Vollständigkeit beanspruchen. Wer in das Studium der Disability Studies einsteigen möchte, einen aktuellen Forschungsüberblick oder Anknüpfungspunkte für weitergehende Lektüre oder eigene Forschung sucht, wird hier jedoch ohne Zweifel fündig. Konzise bündelt Waldschmidt umfassende relevante Informationen über Ursprünge, Entwicklungen, Themenfelder, Theorieansätze, Methoden und Forschungsstand der Disability Studies. Dank hoher sprachlicher Präzision bleiben ihre Ausführungen auch bei komplexen Inhalten und großer Informationsdichte stets gut verständlich. Während Waldschmidt in erster Linie in das Forschungsfeld einführt, so scheint dabei doch auch immer wieder subtil und dennoch klar auf, wo sie sich selbst im Hinblick auf Verständnis und Anliegen der Disability Studies verortet. Lediglich der:die dedizierte Disability Historian bleibt womöglich leicht ernüchtert zurück ob der Tatsache, dass die geschichtswissenschaftliche Perspektive in Relation etwas kurz kommt, obgleich sich hier noch mehr Potenzial geboten hätte, theoretische und methodologische Ansätze, Erkenntnisse, Hürden und Austausche mit anderen Disziplinen zu diskutieren, beispielsweise mit Blick auf Quellenkritik, Erkenntnisvermittlung oder Oral History.3
Anmerkungen:
1 Eine weitere Publikation jüngeren Datums ist Susanne Hartwig (Hrsg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Berlin 2020. Mit klar kulturwissenschaftlichem Fokus und eindeutigem Handbuchcharakter handelt es sich allerdings um eine sehr andere Form von Überblicksdarstellung im Vergleich zum vorliegenden Einführungsband von Waldschmidt.
2 Bspw. Beteiligung an der initialen Sommeruniversität zu den Disability Studies an der Universität Bremen 2003 und dabei Leitung einer eröffnenden Tagung, Veröffentlichung dazu: Anne Waldschmidt (Hrsg.), Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Tagungsdokumentation, Kassel 2003. Waldschmidt ist auch Mitbegründerin und Leiterin der 2004 gegründeten Internationalen Forschungsstelle Disability Studies (iDiS) der Universität Köln.
3 Anne Klein, Wie betreibt man Disability History?, in: Anne Klein / Anne Waldschmidt / Elsbeth Bösl (Hrsg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010, S. 45–63; Raphael Rössel, Quellen für alle und von allen? Potentiale einer wissenschaftlich reflektierten Public Disability History für schulische und universitäre Lehre am Beispiel der „Quellen zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen“ (QGMB), in: Cordula Nolte (Hrsg.), Dis/ability History Goes Public – Praktiken und Perspektiven der Wissensvermittlung, Bielefeld 2020, S. 183–209.