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Titel
Föderative Ordnung und nationale Integration im Deutschen Bund 1816–1848. Die Ausschüsse und Kommissionen der Deutschen Bundesversammlung als politische Gremien


Autor(en)
Kreutzmann, Marko
Reihe
Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (108)
Erschienen
Göttingen 2021: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
482 S., 2 SW-Abb.
Preis
€ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nicole Wloka, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Aus dem gesetzgebenden Organ der Bundesrepublik Deutschland, dem Deutschen Bundestag, war zuletzt mehrfach der Begriff der Zeitenwende zu vernehmen. So markiere der russische Angriffskrieg auf die Ukraine „eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinentes“, wenn es im Kern um die Frage gehe, ob „wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts.“1 Möge künftigen Historiker:innen eine Beurteilung dieser so titulierten Zeitenwende vorbehalten sein, so scheint der hier bemühte Rückgriff auf die Geschichte doch in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: Erstens, weil er aus der politischen Herzkammer einer deutschen Nachkriegsordnung erfolgt, die von den Alliierten bewusst als föderal-staatlich zu reorganisierende Antwort auf die bis dato größten Gräuel- und Menschheitsverbrechen gewählt worden war, und zweitens, weil es gerade die europäischen Großmächte waren, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts mittels einer neuen und dauerhaften europäischen Friedens- und Sicherheitsarchitektur die napoleonische Weltkriegsära abzuschließen und eine Zeitenwende einzuläuten suchten.

Die friedenssichernde und stabilisierende Funktion des im Rahmen der Wiener Ordnung 1815 gegründeten Deutschen Bundes nach Außen, die Europa eine lange Periode relativen Friedens bescherte und als föderale Organisationsform deutscher Staatlichkeit weite Teile des 19. Jahrhunderts überdauerte, gehört mittlerweile zum wissenschaftlichen Allgemeingut. Doch wie sehen die Urteile nach Innen aus, wenn sich noch immer die Annahme zu halten scheint, die Innenpolitik des Bundes habe sich maßgeblich in Repressions- und Unterdrückungsmaßnahmen erschöpft? Die seit geraumer Zeit von der Bund-Forschung publizierten Forschungsleistungen scheinen auch die nach Innen gerichteten Urteile über den Bund sukzessive einer differenzierten Sichtweise zuzuführen: Sei es in Hinblick auf seine mehrdimensionalen Ordnungsstrukturen im Rahmen einer erweiterten Föderalismusgeschichte, entscheidende Revisionen in Bezug auf führende Staatsmänner oder aber neuere Untersuchungen zu Einzelaspekten der Bundesgeschichte.2 Marko Kreutzmanns Habilitationsschrift widmet sich nun einem weiteren Einzelaspekt des Deutschen Bundesregimes, der bislang als echtes Forschungsdesiderat gelten durfte: Den Ausschüssen und Kommissionen der Frankfurter Bundesversammlung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Zu diesem Zweck hat Kreutzmann erstmalig die gedruckten Bundestagsprotokolle für den Untersuchungszeitraum zwischen 1816 und 1848 ausgewertet und die dabei gewonnen Daten statistisch erfasst und einer strukturellen Analyse unterzogen (S. 37, 39). Den traditionellen Klischees „über die Ineffektivität des Geschäftsverfahrens, über die Inkompetenz, die Borniertheit und den beschränkten Handlungsspielraum der Bundestagsgesandten“ (S. 22) scheinen Kreutzmanns Daten dabei schon quantitativ entgegenzutreten: Für die rund 32 dargestellten Jahre der Tätigkeit des Frankfurter Bundestages weist Kreutzmann insgesamt 201 Ausschüsse und Kommissionen nach, die sich am Ende der Publikation als gedruckte Übersicht wiederfinden (S. 447–477). Weiterhin wurden die in den Bundestagsprotokollen aufgeführten Eingaben an die Bundesversammlung ausgewertet, die durch den turnusmäßig erneuerten und damit als permanent geltenden Reklamationsausschuss der Bundesversammlung behandelt wurden – insgesamt 2.614 solcher Eingaben an die Bundesversammlung wurden dabei im Untersuchungszeitraum erfasst (S. 39, 152). Existierte also bereits vor mehr als 200 Jahren ein funktionsfähiger Bundestag, dessen Ausschuss- und Kommissionsarbeit sich bereits als „präparlamentarisch“ (S. 23) wirkmächtig zeigte und dessen an ihn herangetragene Eingaben und Petitionen die Bundesversammlung „als Adressat gesellschaftlicher Erwartungen“ (S. 157) und „Forum politischer Kommunikations- und Aushandlungsprozesse“ (S. 139) zwischen „dem Deutschen Bund und der Gesellschaft“ (S. 157) identifizierte?

Nach Darstellung der Entstehungsgeschichte sowie Organisation der Ausschüsse und Kommissionen und einem hieran anschließenden Übersichtskapitel der quantitativen Untersuchungsergebnisse widmet sich die Studie vornehmlich der praktischen Tätigkeit der Ausschüsse und Kommissionen. Einige wenige der Gremien (insbesondere zur inneren Sicherheit und Überwachung der politischen Opposition wie etwa die Mainzer Zentraluntersuchungskommission oder die Frankfurter Bundeszentralbehörde) haben wissenschaftlich bereits umfängliche Berücksichtigung gefunden3 und prägen bis heute maßgeblich das Bild des Deutschen Bundes. Wie Kreutzmann herausarbeitet machten sie allerdings nur sieben Prozent der insgesamt im Untersuchungszeitraum eingesetzten Ausschüsse und Kommissionen aus und bildeten dabei „quantitativ keineswegs das wichtigste Tätigkeitsfeld der Bundesversammlung“ (S. 98). Kreutzmann wählt deshalb für den Hauptteil seiner Untersuchung von den rund 200 Ausschüssen und Kommissionen elf, die bislang thematisch kaum oder weit weniger von der Forschung berücksichtigt wurden: Finanzwesen, Eisenbahnbau, Zolleinheit, Publikation der Bundestagsprotokolle, Zensur und Pressefreiheit, Bundeswappen und Bundesfarben sowie neben der Kommission für das Archiv des ehemaligen Reichskammergerichts auch „nationale Rechtsvereinheitlichungsthematiken“ wie Heimatrecht, Nachdruckschutz oder der Erfindungsschutz. Diese Auswahl ist mit Bedacht gewählt, wenn Kreutzmann hieran seine leitende Fragestellung zu exemplifizieren sucht, „welchen Beitrag der Deutsche Bund zur Modernisierung und zu inneren Nationsbildung in Deutschland geleistet hat.“ (S. 16)

Nicht allen Schlussfolgerungen müssen die Leser:innen zwingend folgen. Zwei für diese Leitthese der Arbeit wichtige Fallbeispiele, die zugleich auch die interpretatorische Herausforderung des Quellenmaterials unter dem gewählten Rubrum verdeutlichen mögen, seien dabei kurz dargestellt. So wertet Kreutzmann beispielsweise die 1821 eingesetzte und „für die vorliegende Studie in doppelter Hinsicht besonders interessant[e]“ (S. 201) Lokalkommission für die Angelegenheiten des Archives des ehemaligen Reichskammergerichtes als Beleg dafür, dass die „Fürsorge für dieses Archiv auch als eine nationalkulturelle Aufgabe“ (S. 201) des Deutschen Bundes zu begreifen sei, obgleich die Kommission offenbar in den ersten 20 Jahren ihres Bestehens nicht der ursprünglich zugeteilten Aufgabenstellung nachkommen konnte, von Bundestagsgesandten zwischenzeitlich selbst „als ein lästiges Erbstück des vormaligen Reichs, als ein beschwerliches hinterlegtes Gut“ (S. 209) beschrieben wurde und schließlich 1852 aufgelöst wurde. In der Interpretation zu weitgehend erscheint auch die Ableitung aus einem zweiten, für Kreutzmanns Studie ebenfalls wichtigen Beispiel. In der Frage nach den Bemühungen der Bundesversammlung auf dem Gebiet der nationalen Rechtsvereinheitlichung (S. 263 m.w.N.) präsentiert Kreutzmann einen „bemerkenswerten Einzelfall für die Erwerbung eines Erfindungspatentes durch den Deutschen Bund“ (S. 310). So glaubte im Jahr 1840 der Erfinder Johann Philipp Wagner, die Nutzung von elektromagnetisch betriebenen Maschinen praktisch umsetzen zu können, und stellte bei der Bundesversammlung einen entsprechenden Antrag zur Erteilung eines Privilegs für 15 Jahre (S. 311). Der Empfehlung des daraufhin eingesetzten Bundestagsausschusses folgend, beschloss die Bundesversammlung Wagners Erfindung für einen bundseitig zu leistenden Kaufpreis von 100.000 Gulden „im Falle einer gelungenen praktischen Erprobung“ (S. 315) zu erwerben. Nachdem Wagner allerdings bis 1844 keinen funktionsfähigen Prototypen anfertigen konnte, wurde das Projekt ad acta gelegt. Dieses Beispiel zeigt, und das stellt auch Kreutzmann klar heraus, dass der Deutsche Bund nicht gänzlich untätig auf dem Gebiet des Erfindungsschutzes blieb und damit vor der Regelung eines nationalen Patentgesetzes im Kaiserreich 1877 insofern bereits „auf die Vorarbeiten aus der Zeit des Deutschen Bundes zurückgegriffen wurde“ (S. 319). Ob diesem (letztlich gescheiterten) Beispiel allerdings eine „übergeordnete politische Bedeutung in Hinblick auf die Modernisierung und die nationale Integration“ (S. 408) zukomme und dabei zeige, inwiefern sich die Deutsche Bundesversammlung insgesamt seit den 1840er-Jahren darum bemüht habe, „als eigenständiger Akteur für die politische Integration im Deutschen Bund zu wirken“ (S. 319), bliebe freilich zu diskutieren, auch in Hinblick auf die im gesamten Untersuchungszeitraum praktizierte Repressionstätigkeit des Bundes.

Doch vermögen diese Einwände nicht das Gesamturteil zu trüben, dass mit der vorliegenden Studie eine wichtige Lücke in der Bund-Forschung geschlossen wird. Kreutzmann selbst resümiert in Hinblick auf seine leitende Fragestellung, der Deutsche Bund habe im Untersuchungszeitraum „viel zu wenig geleistet […], um den gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen“ (418). Dass dieses gesellschaftlich zu wenig allerdings nicht in der facetten- und debattenreichen sowie praktischen Funktions- und Arbeitsweise des Frankfurter Bundestages begründet lag, ist mit Marko Kreutzmanns vorgelegter Studie nun eindrucksvoll dargelegt.

Anmerkungen:
1 Regierungserklärung des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland Olaf Scholz, MdB, „Entschlossen für Frieden und Sicherheit“, Deutscher Bundestag, 27. Februar 2022.
2 S. z. B.: Dieter Langewiesche, Vom vielstaatlichen Reich zum föderativen Bundesstaat. Eine andere deutsche Geschichte, Stuttgart 2020; Wolf D. Gruner, Der Deutsche Bund 1815–1866, München 2012; Wolfram Siemann, Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie, München 2016; Jürgen Müller (Hrsg.), Deutscher Bund und innere Nationsbildung im Vormärz (1815–1848), Göttingen 2018; Andreas C. Hofmann, Deutsche Universitätspolitik im Vormärz zwischen Zentralismus, Transstaatlichkeit und Eigenstaatlichkeitsideologien (1815/19 bis 1848), München 2014; Bärbel Holtz, Preußens Zensurpraxis von 1819 bis 1848 in Quellen (Acta Borussica Neue Folge, 2. Reihe: Preußen als Kulturstaat, hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften unter Leitung von Wolfgang Neugebauer, Bde. 6/1 und 6/2).
3 So jüngst Jean Conrad Tyrichter, Die Erhaltung der Sicherheit. Deutscher Bund, politische Kriminalität und transnationale Sicherheitsregime im Vormärz, Frankfurt am Main 2019 (Rez.: H-Soz-Kult, 13.07.2020, <https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-29690>).

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