M. Edele: Debates on Stalinism

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Title
Debates on Stalinism.


Author(s)
Edele, Mark
Published
Extent
312 S.
Price
£ 17.99
Reviewed for H-Soz-Kult by
Immo Rebitschek, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Der Stalinismus-Boom ist hierzulande abgeebbt, doch im angelsächsischen Raum reißt die Welle der Monographien zur Stalinzeit nicht ab. Dabei feilt die Zunft eifrig an ihrer eigenen Historisierung.1 Für die Reihe „Issues in Historiography“ bietet Mark Edele den passenden Aufriss über die wichtigsten Fachkontroversen zur Sowjetunion unter Stalin. Sein weiter Stalinismus-Begriff lässt genügend Raum für die enorme inhaltliche und generationelle Spanne im Feld. Edele verfolgt dafür kein einheitliches historiographiegeschichtliches Schema. Sein Interesse gilt den Debatten und ihren Schlüsselfiguren, die über Jahrzehnte hinweg die Koordinaten der angelsächsischen Forschung etabliert haben, und seine Leistung ist es, dieses Koordinatensystem in den ersten zwei Dritteln des Buches anschaulich zu historisieren.

Der Befund: Die Geschichte der Stalinismus-Forschung sei nicht so rein US-amerikanisch, nicht so methodisch binär gewesen, die Evolution des Faches nicht so generationell und linear verlaufen, wie gemeinhin angenommen wurde und wird. Die Erzählung von der Vätergeneration der Totalitarismusforscher, den revisionistischen und sozialhistorischen Söhnen und Töchtern und den post-revisionistischen Enkelkindern sei nicht haltbar. Damit betritt Edele kein Neuland2, leistet aber dennoch eine bemerkenswerte Synthese.

Im Ersten der drei Teile rollt Edele das Feld biographisch auf. Moshe Lewin und Richard Pipes gelten als Gründerväter im Fach. Beide haben die Erfahrungen mit NS-Deutschland und der Sowjetunion in ihrem Schaffen verarbeitet – Lewin als sozialistischer Anti-Stalinist, Pipes als „antisowjetischer public intellectual“ (S.63). Das Etikett des Totalitarismusforschers passe indes auf keinen der politischen Antipoden. Lewin habe mit seiner „Flugsandgesellschaft“ schon früh terminologische Alternativen aufgeboten, um das gesellschaftliche Fundament der Stalin-Herrschaft zu beschreiben.3 Pipes habe den Stalinismus auch durch die polnische Brille der eigenen Familiengeschichte gelesen, als er die Wurzeln des Imperialismus und des Polizeistaats in der Zarenzeit suchte. Ähnlich ambivalent portraitiert Edele auch seine eigene Mentorin, Sheila Fitzpatrick, als „unrevisionistische Revisionistin“ (S. 89). Konservative Granden wie Stephen Cohen polemisierten gegen sie als linke Gallionsfigur einer neuen sozialgeschichtlichen Apologetik Stalins. Fitzpatrick war eine Vorreiterin der sozialhistorischen Forschung und sie beanspruchte auch eine dominante Rolle in dieser Zunft, doch von einer revisionistischen Kohorte könne nicht die Rede sein – weder generationell noch methodisch.

Fitzpatricks Sozialisation in Australien, Oxford und Moskau passe nur schwer ins akademische rechts-links-Spektrum der US-Sowjetologie. Ihre Arbeiten bündelten eine Vielzahl von Perspektiven, um der Basis stalinistischer Gewaltherrschaft nachzuspüren, ohne dabei Stalin selbst oder Steuerungsimpulse „von oben“ zu vernachlässigen oder das Totalitarismus-Konzept zu verwerfen. Zugleich habe sie Vorreiter in diesem Feld konsequent ausgeblendet und die Entdeckung „sozialer Mobilität“ im Stalinismus – ungerechterweise – für sich beansprucht. Ihre Arbeiten seien bahnbrechend, aber kein revisionistischer Bruch von links. Edele macht Fitzpatrick zum Sinnbild der Widersprüche: „Vergesslich“ gegenüber ihren Pionieren, transnational geprägt, vom Systemkonflikt und zugleich voneinander inspiriert, entwickelte sich die ganze Zunft wenig linear durch den Kalten Krieg. Teil zwei des Buches liefert für dieses Argument die dazugehörigen Debatten.

Mit der Stalin-Biografik fächert Edele auf, wo Weltanschauung, Methode und historische Deutung zuweilen über Kreuz oder im jeweiligen Dienst standen. Versuchten die einen, das sowjetische Experiment vor Stalin noch zu dessen Lebzeiten zu bewahren (Trotsky und Deutscher), war der Diktator für die anderen das Epitom kommunistischer Herrschaft (Adam Ulam). Zugleich erkennt Edele in Ulams Arbeiten den Materialismus Deutschers wieder und dennoch die historische Psychopathologie Robert Tuckers. Dieser portraitierte Stalin aber nicht, wie Ulam, als bolschewistischen Wahnsinnigen, sondern mit einer komplexen Persönlichkeit und als politischen Strategen. Tuckers Arbeit wiederum zehrte von der Pionierarbeit Dmitri Wolkogonows. Dessen filmreife Doppelrolle als Ikonoklast und Propagandafunktionär der Roten Armee wäre einer eigenen Biographie würdig. Auf psychohistorische Kontroversen folgte mit den Archivöffnungen auch die Rückkehr der politischen Biographien, die Stalin wahlweise zum Ausgangspunkt der Gewalt und des künstlichen Ausnahmezustands machten (Baberowski); ihn wieder in die Tradition Lenins stellten (Service) oder sein Leben zur Bühne der Geschichte Russlands erklärten (Kotkin) – um dabei irgendwie doch in der Tradition Ulams, Deutschers oder Tuckers zu stehen.

Edele zeichnet für das Fach kein Entwicklungsschema. Er bietet ein Panorama der Deutungen und Themen, in denen abwechselnd die Transferleistungen und die Konflikte zwischen den Autoren immer wieder sichtbar werden. Ähnlich verfährt er mit dem Totalitarismusbegriff, der über Jahrzehnte hinweg wahlweise vereinfacht oder differenziert als Schlachtruf und als Analyseinstrument an allen Enden des politischen Spektrums zum Einsatz kam. Dabei hatten alle Beteiligten – links und rechts – die Grenzen des totalitären Anspruchs auf eine Gesellschaft deutlich vor Augen. Geoffrey Hosking schrieb Sozialgeschichte im Rahmen des Totalitarismus-Modells. Sein Blick auf die soziale Basis der stalinistischen Diktatur legte Patronage-Netzwerke offen, die weder vollständig manipuliert noch durchherrscht erschienen. Gesellschaften konnten totalitär und dynamisch sein. Diese Einsicht, so Edele, sei kein Privileg der (Post-)Revisionisten gewesen.

Das Buch würdigt, wie nachkommende Generationen über kultur-, sozial- oder emotionsgeschichtliche Zugänge das Verhältnis zwischen Staat und Individuum im Stalinismus neu akzentuierten, den Totalitarismusbegriff von seiner Polemik befreiten, Vorstellungen von Widerstand und Anpassung nuancierten und darüber hinaus Epochengrenzen einebneten. Die Fragen indes seien schon Jahrzehnte zuvor berücksichtigt worden, hätten aber erst nach dem Ende des Kalten Krieges und auf Aktengrundlage freier formuliert werden können. Auch hier überspitzt Edele dieses Argument gelegentlich: Stephen Kotkins „Speaking Bolshevik“ war mehr als ein postmodernes Update der Arbeiten Lewins und Fitzpatricks (S. 190).4

Der Dritte Teil steht dem Rest des Buches etwas unvermittelt gegenüber. Hier beleuchtet Edele die Kontroversen, die vor allem den postsowjetischen Raum bis in die Gegenwart prägen. Auf der einen Seite stehen Russlands „Geschichtskriege“ und der Versuch der russischen Regierung, vorteilhafte und populäre Narrative vor allem der Geschichte des Zweiten Weltkrieges zu etablieren. Man bekommt einen kompakten Eindruck von der Evolution des Geschichtslehrers Putin und davon, wie die außenpolitische Wetterlage auch im Inneren den Spielraum für wissenschaftlichen Widerspruch verkleinert. Die historischen Ambivalenzen des Zweiten Weltkrieges werden durch Gesetze und politischen Druck für die Öffentlichkeit gefiltert. Das geglättete Geschichtsprodukt sei mehrheitsfähig, ohne dass kritische Stimmen aus der Wissenschaft zu dieser Mehrheit durchdringen. Auf der anderen Seite präsentiert er den Holodomor als transnationale Geschichtskontroverse und bietet eine kompakte Geschichte der Deutungskämpfe um die Hungerkatastrophe in der Ukraine: von der zeitgenössischen Dokumentation, über die Diaspora-Erzählungen und den Genozid-Debatten bis zu den heutigen Verstrickungen eines mittlerweile datengesättigten transnationalen Fachdiskurses in den geschichtspolitischen Propagandaschlachten zwischen der Ukraine und Russland.

Der Exkurs ist lesenswert und soll Edeles These von der transnationalen Stalinismusforschung verlängern. Das Argument geht für den Holodomor durchaus auf, doch gerade mit Blick auf Russland unterstreicht der Autor eigentlich das Gegenteil. Putins Geschichtspolitik schirme den „Großen Vaterländischen Krieg“ von der Kontroverse ab, während der Westen (und vereinzelte Stimmen in Russland) immer neue Erkenntnisse nachlieferten. Insgesamt erzeugt die angelsächsische Brille in diesem Teil eine doppelte Unwucht: Indem die deutsche oder französische Forschung allenfalls für das Revival des Totalitarismusbegriffs herhalten dürfen, fallen transnationale Forschungsimpulse aus Europa unter den Tisch.5 Noch bedauerlicher ist, dass Edele die Themensetzung Putins dekonstruiert, aber gerade so die Schwerpunkte der Stalinismus-Forschung in Russland vernachlässigt, denen er im Rest des Buches so viel Aufmerksamkeit gewidmet hat. Unweigerlich fragt man sich, ob es dieses dritte Kapitel – ohne ein Wort über den Gulag oder die Massenoperationen – gebraucht hätte. Gerade an diesen Stellen werden in der Auseinandersetzung mit dem Stalinismus in Russland Nuancen sichtbar, die der geschichtspolitischen Hygiene des Kremls widerstehen.6 Wenngleich der transnationale Gedanke nicht über alle Kapitel trägt und Edele seine These von den vergessenen Pionieren zuweilen überspannt, überzeugt seine Sicht über die methodischen und generationellen Gräben hinweg. Der größere Teil des Buches liefert neben unzähligen Leseempfehlungen ein facettenreiches und kundiges Panorama der wichtigsten Köpfe und Themen der angelsächsischen Stalinismus-Forschung, samt bestehender Desiderate.

Anmerkungen:
1 Sheila Fitzpatrick, A Spy in the Archives. A Memoir of Cold War Russia, London 2014.
2 David C. Engerman, Know your Enemy. The Rise and Fall of America's Soviet Experts, Oxford 2009; Martin Wagner, Revisionismus. Elemente, Ursprünge und Wirkungen der Debatte um den Stalinismus „von unten", in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 66 (2018), S. 651–681.
3 Moshe Lewin, The Making of the Soviet System. Essays in the Social History of Interwar Russia, New York 1994.
4 Stephen Kotkin, Magnetic Mountain. Stalinism as Civilization, Berkeley 1997.
5 Besonders die europäischen Beiträge zur Nationalitätenpolitik werden hervorgehoben bei Ronald G. Suny, Red Flag Wounded. Stalinism and the Fate of the Soviet Experiment, London 2020.
6 James Ryan, Reckoning with the Past. Stalin and Stalinism in Putin's Russia, in: ders. / Susan Granz (Hrsg.), Revisioning Stalin and Stalinism. Complexities, Contradictions and Controversies, London 2021, S. 157–172.

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