A. F. Guhl: Wege aus dem »Dritten Reich«

Cover
Titel
Wege aus dem »Dritten Reich«. Die Entnazifizierung der Hamburger Universität als ambivalente Nachgeschichte des Nationalsozialismus


Autor(en)
Guhl, Anton F.
Reihe
Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte (26)
Erschienen
2021 Göttingen: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
477 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Jung, Leibniz Universität Hannover

Universitäten forschen über dieses und jenes, über bedeutende und weniger bedeutende Dinge. Nur wenig Forschungsaugenmerk wurde dabei jedoch lange Zeit auf die eigenen Geschichten gerichtet, genauer gesagt: auf jene Phasen, die als so unangenehm erschienen, dass sie am besten in der Dunkelheit der Vergangenheit ruhen sollten, auf alle Zeit vergessen, unberührt von Fragen nach dem Was, Wie und Warum. So dauerte es bis Ende der 1970er-Jahre, bis eine erste Monografie über eine deutsche Universität im Nationalsozialismus erschien.1 Zunächst meist auf individuelle, später dann auch auf institutionelle Initiativen folgten weitere Monografien und Sammelbände, sodass inzwischen ein guter Bestand an größeren Arbeiten über diese Geschichten von Hochschulen vorliegt. Dabei gibt es jedoch immer noch blinde Flecken in der Hochschullandschaft. Deutlich weniger hat sich die Forschung bisher dem Umgang der Hochschulen mit dem Erbe des Nationalsozialismus (NS) in der Nachkriegszeit gewidmet.2

Zur Entnazifizierung der Lehrenden der Universität Hamburg3 legte kürzlich Anton F. Guhl seine im Wallstein Verlag veröffentlichte Dissertation vor, die sich als „bisher umfassendste Studie zur Entnazifizierung einer deutschen Universität“ bezeichnet. In zehn Kapiteln nebst einem tabellarischen Anhang sollen die „Wege aus dem ‚Dritten Reich’“ von über 200 Lehrenden nachgezeichnet werden. Sind diese „Wege“ wirklich angelegt worden, waren sie gangbar und nicht nur Fluchtwege aus der Verantwortung? Auf die Schwierigkeiten einer Klärung solcher Fragen weist der Autor bereits in einem der ersten Sätze der Einleitung hin, denn „die meisten Professoren verweigerten eine wahrhaftige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ (S. 11), eine Haltung, wie sie allgemein in Deutschland sehr verbreitet war.

Die Arbeit basiert unter anderem auf einschlägiger Entnazifizierungsliteratur sowie vor allem auf Materialien aus unterschiedlichen Archiven, wie zum Beispiel den britischen National Archives, dem Hamburger Staatsarchiv und dem Universitätsarchiv. Aus dem Bundesarchiv wurden nur wenige Bestände genutzt (beispielsweise des Reichserziehungsministeriums oder der Mitgliederkartei der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, NSDAP). Warum die personenbezogenen Bestände des ehemaligen Berlin Document Center (mit Ausnahme der Mitgliederkartei) sowie thematisch ähnliche Unterlagen aus dem Bundesarchiv nicht recherchiert worden sind, ist angesichts ihrer Relevanz für die Klärung von NS-Belastungen rätselhaft. Für viele der in dem Buch behandelten Personen sind dort Informationen einsehbar. Zumindest wäre ein Hinweis nötig gewesen, aus welchem Grunde auf diese Bestände verzichtet worden ist. So lässt dies an einigen Stellen (insbesondere in den Kapiteln zwei und fünf bis acht) Unsicherheiten zurück hinsichtlich der doch wünschenswerten möglichst vollständigen Feststellung von NS-Belastungen.

Bevor Guhl zu seinem „Herzstück“, den „Entnazifizierungswegen“ in den einzelnen Hamburger Fakultäten kommt, beleuchtet er in drei Kapiteln (zwei bis vier) den für das Verständnis des Entnazifizierungsprozesses notwendigen Hintergrund. Zunächst gibt er einen kurzen Überblick über die Wege ins „Dritte Reich“, also über die auch an der Hamburger Universität erst 1933 in deutlich sichtbarem Umfang einsetzende Nazifizierung. Sehr anschaulich wird die individuelle Bereitschaft zur Mitarbeit im NS-System an dem Pharmakologen und späteren langjährigen Dekan und Rektor der Universität, Eduard Keeser, exemplifiziert. Ab 1937 Parteigenosse, wirkte er in seinen universitären Funktionen im Sinne des Nationalsozialismus, war zum Beispiel an der Entziehung von Graden aus politisch-rassistischen Gründen und der Berufung von NS-Hardlinern maßgebend beteiligt. Er schätzte sich jedoch im Mai 1945 als keinesfalls „politisch exponiert“ (S. 51) ein. Letztendlich erfolgreich: Nach einer Suspendierung von nicht einmal einem Jahr konnte er ab April 1946 seine Arbeit als Ordinarius an der Hamburger Universität wieder aufnehmen (vgl. S. 205ff.).

Weiterhin gibt Guhl einen ziemlich umfassenden Einblick in das Verfahren der Entnazifizierung in der britischen Besatzungszone allgemein und speziell in der Stadt Hamburg sowie der Universität (Kapitel 3). Bemerkenswert dabei ist, dass die einzelnen Fakultäten von sich aus schon früh, spätestens Anfang Juni 1945, die Initiative zu einer politischen Säuberung ergriffen, indem Listen darüber aufgestellt wurden, wer von den Lehrenden als „einwandfrei“, „zweifelhaft“ oder für eine künftige Tätigkeit als zu sehr NS-belastet einzuschätzen sei (vgl. S. 74ff.). Daneben diente dieses natürlich dem Zweck, auch unter der bis 1947 bestehenden britischen Regie den Entnazifizierungsprozess zumindest teilweise mitbestimmen zu können. Schließlich (Kapitel 4) beschäftigt sich der Autor mit den „Ritualen“ der Entnazifizierung und widmet seine Aufmerksamkeit zunächst der Grundlage aller Entnazifizierungen: dem Fragebogen in seinen unterschiedlichen Versionen. Diese „Ego-Dokumente“ sind natürlich „für die Mentalitätsgeschichte der Nachkriegszeit von einzigartigem Quellenwert“ (S. 111), mussten die Betroffenen doch sehr umfangreich Auskunft über ihr Verhalten in der NS-Zeit geben. Sie deuten insbesondere durch häufig anhängende persönliche Stellungnahmen mehr als nur an, auf welchem Wege die Ausreise aus der unmittelbaren Vergangenheit vor sich gehen sollte. Verschweigen, Verharmlosen, Verschleiern hinsichtlich der eigenen NS-Geschichte diente dem möglichst schnellen Vergessen. Garniert waren diese Stellungnahmen oftmals mit Persilscheinen, deren Aufkommen nach der Faustregel „Je deutlicher sich die Person im Nationalsozialismus exponiert hatte, desto höher ist die Zahl“ (S. 123) beziffert werden kann.

Mitte 1945 verfügte die Universität Hamburg über vier Fakultäten (Rechts- und Staatswissenschaften, Medizin, Philosophie und Mathematik/Naturwissenschaften), von denen allein die Medizinische über 40 Prozent der fast ausnahmslos männlichen 220 „aktiven“ Professoren und Dozenten beherbergte. Von nahezu allen dieser Lehrenden konnte Guhl Entnazifizierungsakten einsehen. Daraus ließ sich feststellen, dass 125 dieser Personen von Entnazifizierungsmaßnahmen betroffen waren, die zu einer – meist vorübergehenden – Entlassung aus dem Dienst an der Universität Hamburg führten. Wie wenig nachhaltig das oftmals war, zeigen etwa die Zahlen aus der rechtswissenschaftlichen Fakultät: Bis Ende 1947 konnten von den 23 Lehrenden nur noch ein Ordinarius und vier weitere Lehrende vorerst nicht wieder in den Dienst der Universität zurückkehren, sodass hier im Prinzip die „frühe Liquidierung der Entnazifizierung“ (S. 150) festgestellt werden musste. Zwei der fünf konnten später wieder an der Universität forschen und lehren.

Die von den einzelnen Fakultäten vorgenommenen Selbsteinschätzungen hinsichtlich der NS-Belastung differierten erheblich: So galten an der juristischen/staatswissenschaftlichen Fakultät im Frühsommer 1945 elf Lehrende — trotz einiger NS-Mitgliedschaften — als „einwandfrei“, fünf als „zweifelhaft“ und weitere fünf als „untragbar“ (S. 144ff.), in der Medizinischen ergab sich mit 20/44/22 ein etwas anderes Zahlenverhältnis und bei den beiden anderen Fakultäten lagen diese Zahlen bei 20/18/8 und 27/18/9. Für alle Fakultäten kann festgestellt werden, dass kurz nach dem Ende der NS-Herrschaft das Engagement für eine gründliche Säuberung im Personalbereich zunächst in größerem Maße vorhanden war, dann jedoch immer mehr nachließ – auch das eine Erscheinung, die in allen gesellschaftlichen Bereichen in ganz Deutschland zu erkennen war.

Dass sich diese Veränderung in unterschiedlichen Geschwindigkeiten vollzog, lag an den handelnden Personen. Zum Beispiel hatte in der medizinischen Fakultät der zu den Opfern des NS-Regimes zählende Ordinarius für Kinderheilkunde, Rudolf Degkwitz, großen Einfluss auf das dortige Entnazifizierungsgeschehen und galt als „Verfechter einer unnachgiebigen Haltung gegenüber nationalsozialistisch kompromittierten Lehrenden“ (S. 249). Sein Weggang 1948 war sicherlich nicht unwesentlich für eine größere Kompromissbereitschaft gegenüber den ehemaligen NS-Parteigängern. Festzuhalten ist jedoch auch, dass die Entnazifizierungsausschüsse der Universität in der Regel strengere Maßstäbe anlegten als übergeordnete Behörden oder gar die Berufungsausschüsse, an denen über Einsprüche verhandelt wurde. Das institutionelle und individuelle Vorgehen bei der Entnazifizierung ist auf rund 200 Seiten sehr anschaulich erzählt. Allerdings ist es angesichts der sehr vielen behandelten einzelnen Geschichten nicht immer ganz einfach, den Überblick zu behalten. Möglicherweise hätte die Wahl einer anderen Methode, zum Beispiel der kollektivbiografischen, zu einer besseren Übersichtlichkeit geführt.

Nur ganz vereinzelt wurden nach 1945 Opfer des NS berufen, wie Guhl in einem kurzen Abschnitt über die „neue“ Personalpolitik (ab S. 361) feststellt. Das geschah oftmals unter dem Deckmantel einer angeblich „reinen Wissenschaftlichkeit“ (so etwa in der juristischen und staatswissenschaftlichen Fakultät), der zufolge politische Überlegungen keine Rolle spielen sollten. Leider umfasst das Kapitel im Wesentlichen nur die Jahre bis 1949. Es ist zu vermuten, dass – wie bei vielen anderen Hochschulen – auch an der Universität Hamburg in den fünfziger und sechziger Jahren ein viel größerer Schub an Berufungen zu verzeichnen gewesen ist als in der Zeitspanne bis 1949. Es wäre interessant gewesen, zu erfahren, welche Vorgeschichten diese Lehrenden gehabt haben. Schön wäre auch ein zumindest kurzer Vergleich mit den Entnazifizierungsgeschehen an anderen Hochschulen gewesen, auch wenn diese nicht ganz so ausführlich bearbeitet worden sein sollten wie in der hier zur Rede stehenden Veröffentlichung. Die ersten drei der Publikationen in Endnote zwei hätten sich dazu angeboten, außerdem liegen noch zwei andere zu Freiburg und Münster vor.

Es gab unterschiedliche Wege im Rahmen der Entnazifizierungsverfahren. Es gab jedoch immer nur ein Ziel: Die eigene Beteiligung am Nationalsozialismus sollte als möglichst gering erscheinen. Waren das wirkliche „Wege aus dem ‚Dritten Reich‘“? Mental zumindest war diese Vergangenheit – jedenfalls bei einigen Lehrenden – auch 1969 nicht „bewältigt“, der Weg nicht beschritten: So setzte der damalige Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät die Entlassungen aufgrund von NS-Belastung nach 1945 mit den rassistisch-politisch motivierten Vertreibungen der Nationalsozialisten gleich (vgl. S. 192).

Trotz der Kritikpunkte stellt die Veröffentlichung für die Universität Hamburg einen hoch einzuschätzenden Beitrag zu ihrer Geschichte dar, der zu einer weiteren Beschäftigung mit den Nachwirkungen der NS-Zeit anregt. Und das gilt nicht nur für Hamburg, sondern auch für alle Hochschulen, die dazu noch keine oder nur wenige Anstrengungen unternommen haben.

Anmerkungen:
1 Uwe Dietrich Adam, Hochschule und Nationalsozialismus. Die Universität Tübingen im Dritten Reich, Tübingen 1977.
2 Neuere Monographien: Frauke Steffens, „Innerlich gesund an der Schwelle einer neuen Zeit“. Die Technische Hochschule Hannover 1945–1956, Stuttgart 2011; Roman Pfefferle / Hans Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert. Die Professorenschaft der Universität Wien von 1944 in den Nachkriegsjahren, Göttingen 2014; Isabel Schmidt, Nach dem Nationalsozialismus. Die TH Darmstadt zwischen Vergangenheitspolitik und Zukunftsmanagement (1945–1960), Darmstadt 2015; Michael Jung, Eine neue Zeit. Ein neuer Geist? Eine Untersuchung über die NS-Belastung der nach 1945 an der Technischen Hochschule Hannover tätigen Professoren unter besonderer Berücksichtigung der Senatsmitglieder, Petersberg 2020, online: https://www.repo.uni-hannover.de/handle/123456789/10276 (13.04.2022).
3 … die sich bereits vor über 30 Jahren als eine Art „Vorreiterin“ umfangreich mit ihrer NS-Vergangenheit beschäftigte: Eckart Krause / Ludwig Huber / Holger Fischer (Hrsg.), Hochschulalltag im „Dritten Reich“. Die Hamburger Universität 1933 bis 1945, 3 Bde., Berlin 1991.

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