Im Oktober 2021 wurde nach fast 20-jähriger Plan- und Bauzeit der Erweiterungsbau des Kunsthauses Zürich eröffnet. Die Stadt Zürich beteiligte sich mit 88 Millionen Schweizer Franken, der Kanton mit 30 Millionen sowie der Gewährung des Baurechts – damit übernahm die öffentliche Hand weit mehr als die Hälfte der Baukosten. Mit dem vom renommierten Architekten David Chipperfield geplanten Gebäude stehen dem Kunsthaus fortan Räume für die eigene Sammlung, für Wechselausstellungen und für die Präsentation neuer Leihgaben zur Verfügung. Eine dieser neuen Leihgaben, die „Sammlung Emil Bührle“, steht seit der Eröffnung des Erweiterungsbaus im Zentrum einer nationalen und internationalen medialen Debatte, die der Historiker Erich Keller mit seinem Essay „Das kontaminierte Museum. Das Kunsthaus Zürich und die Sammlung Bührle“ angestossen hat. Der 1956 verstorbene Sammler Emil Bührle erwarb sein Vermögen als Waffenfabrikant und -exporteur, unter anderem an das nationalsozialistische Deutschland, und er profitierte dabei, wissentlich oder unwissentlich, von Zwangsarbeit in Deutschland und später in der Schweiz. Ein gewichtiger (wenn auch nicht der größte) Teil seiner Kunstsammlung wurde während der NS-Herrschaft zusammengetragen: Darunter befanden sich 13 Werke, die nach Kriegsende als Raubkunst restituiert werden mussten, aber auch Gemälde, deren Provenienzen unter dem Gesichtspunkt von verfolgungsbedingtem Vermögensentzug bis heute problematisch sind.
Eine historische Auftragsarbeit an der Universität Zürich, die den Entstehungskontext der Kunstsammlung Emil Bührles klären sollte – allerdings unter explizitem Ausschluss von Fragen nach der Provenienz der Werke –, begleitete die Überführung der „Sammlung Emil Bührle“ (die nur einen Teil der Gesamtsammlung von Emil Bührle ausmachte) ins Kunsthaus.1 Erich Keller war zwei Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter im besagten Forschungsprojekt tätig, bevor er diese Mitarbeit aufgrund von fachlichen Differenzen niederlegte. Er verfügt also über vertieftes Wissen in die Abläufe um die Überführung der Sammlung, in die Arbeit der beauftragten Forschungsgruppe sowie in teilweise noch nicht öffentlich zugängliche Dokumente.
Keller verfolgt mit seinem sprachlich hervorragend verfassten Essay das Ziel, aufzuzeigen, wie und warum die Sammlung von Emil Bührle ins Kunsthaus Zürich gekommen ist. Er wirft dabei ein Licht unter anderem auf die engen personellen und institutionellen Verflechtungen in Zürich. Bührles umstrittene unternehmerische Tätigkeiten (nicht nur) während der NS-Herrschaft sowie die problematischen Aspekte seiner Sammlungstätigkeit waren durch frühere historische Forschungsarbeiten längst bekannt.2 Dennoch entschloss man sich in Zürich, die Leihgabe anzunehmen, und zwar zu den von der Bührle-Stiftung (die eng mit der Familie Bührle verflochten ist) formulierten Bedingungen. Der Leihvertrag wurde aufgrund öffentlichen Drucks Ende Februar 2022 veröffentlicht.3
Keller erklärt im ersten Kapitel seines Essays die Bereitschaft des Kantons und der Stadt Zürich, sich von der Bührle-Stiftung die Voraussetzungen für die Annahme der Leihgabe diktieren zu lassen, mit wirtschaftlichen Überlegungen beziehungsweise mit dem „kommerziellen Potenzial“ der Kunstwerke (S. 35). Das Standortmarketing sei, so Keller, höher gewichtet worden als moralische Bedenken. Der Autor vermag diese These überzeugend zu stützen – nicht zuletzt, weil er aufzeigen kann, wie die historische Forschung dazu instrumentalisiert wurde, „die historische Hypothek [der] Kunstsammlung zu verwandeln“ und zwar in „ein Narrativ […], das Teil ihrer Verwertung werden kann“ (S. 36).
Im zweiten Kapitel macht Keller deutlich, wie im Fall der „Sammlung Emil Bührle“ diese vermeintlich objektive Geschichtsforschung instrumentalisiert wird, jedoch der historische Entstehungskontext der Sammlung und die (internationale) Forschung zur Beurteilung von NS-Kunstraub und zu verfolgungsbedingtem Entzug von Kulturgut ausgeblendet werden. Als problematisch bezeichnet der Autor nicht nur den Eingriff in die Forschungsfreiheit durch den Steuerungsausschuss, der sich unter anderem aus Vertretern der Bührle-Stiftung und des Kantons Zürich zusammensetzte, sondern auch, dass die Provenienzforschung bis zur eigentlichen Übergabe der Werke an das Kunsthaus in der ausschließlichen Kompetenz der Bührle-Stiftung lag und vom Stiftungspräsidenten persönlich durchgeführt wurde, und zwar ohne Berücksichtigung der zwei wichtigen internationalen Abkommen zu Raub- und Fluchtgut – den „Washingtoner Prinzipien“4 von 1998 und der „Theresienstädter Erklärung“5 von 2009. Die Staaten, die sich den „Washingtoner Prinzipien“ verpflichtet haben (darunter auch die Schweiz), sind dazu angehalten, die Provenienz von Objekten in staatlichen Institutionen zu erforschen und die Ergebnisse zu veröffentlichen. Für Fälle von Raubkunst soll eine „faire und gerechte Lösung“ gefunden werden. Das Abkommen von Washington ist jedoch nicht bindend, sondern ein sogenanntes „soft law“. Dass die Kategorien „Raub“ und „Beschlagnahmung“, wie sie im Washingtoner Abkommen benannt werden, die volle Dimension des Vermögens- und Besitzentzuges während der NS-Herrschaft nicht erfassen konnten, wurde in der Praxis augenscheinlich. Die Nachfolgekonferenz in Theresienstadt besserte daher nach und erweiterte in der „Theresienstädter Erklärung“ den Begriff, um auch jene Kulturgüter einzuschließen, die von den Verfolgten in einer Notlage verkauft wurden. Sie nahm also die Kategorie des „Fluchtgutes“ auf. Auch die „Theresienstädter Erklärung“ wurde von der Schweiz unterzeichnet. Wie Keller deutlich macht, wird die Kategorie „Fluchtgut“ von der Bührle-Stiftung jedoch abgelehnt: Der historische Kontext, in dem ein Werk verkauft wurde, spielt, so Keller, in der Provenienzforschung der Bührle-Stiftung keinerlei Rolle. Dies ist unter anderem dem Geschichtsbild des Ende 2021 zurückgetretenen Stiftungsratspräsidenten und Provenienzforschers Lukas Gloor geschuldet, der die Schweiz als „eine Insel im unsicheren Meer der Zeit“ bezeichnete, deren Bewohner nachträglich haftbar gemacht werden sollten für Taten, „die sie nicht begangen“ hätten (zitiert nach S. 96).
Im dritten und letzten Kapitel greift der Autor seine These auf, dass die Sammlung Emil Bührle, um sie für die Standortpolitik nutzbar zu machen, „von ihrer Geschichte befreit werden [müsse,] nicht durch Verschweigen, sondern durch das Erzählen einer zurechtgelegten Entstehungsgeschichte“ (S. 115–116). Damit spricht er einerseits die problematische Auftragsforschung an der Universität Zürich an, bei der der Steuerungsausschuss redaktionell in den Inhalt des Forschungsberichtes eingriff (S. 12–13), anderseits auch den Dokumentationsraum in der Ausstellung selbst, in dem den Besucher:innen des Museums Informationen zu Bührle und seiner Sammlung an die Hand gegeben werden. Die hier präsentierten Informationen sind heftig kritisiert worden mit der Begründung, hier würden die historischen Kontexte eher verschwiegen und verschleiert, als dass aufgeklärt würde.6 Keller denkt im abschließenden Teil seines Buches über die „zukünftige Erinnerung“ nach sowie über fehlende Erinnerungskultur und problematische Geschichtsbilder in der Schweiz. Erst eine ausdifferenzierte Erinnerungskultur und -politik führe, so Keller, zu „einem verantwortungsvollen Umgang mit Raubkunst und historische[m] Unrecht" (S. 127).
Kellers Essay wird zu Recht als eine der wichtigsten Stimmen in der gegenwärtigen Debatte um die „Sammlung Emil Bührle“ im Kunsthaus Zürich wahrgenommen. Keller benennt in seinem Buch Problemstellen in der Politik und Wissenschaft im Umgang mit der umstrittenen Provenienz der Sammlung und analysiert das Geschehene. Dabei bettet er die Causa Bührle in den weiteren erinnerungspolitischen Kontext ein und ermöglicht ein vertieftes Nachdenken über den Umgang mit der Geschichte, aber auch über die Funktion von Geschichtsschreibung. Der Autor analysiert den „Bührle-Komplex“ (Süddeutsche Zeitung) und macht die personellen und institutionellen Verflechtungen zwischen Kunsthaus, Politik und Wirtschaft in der Stadt Zürich deutlich, die zur derzeitigen Situation geführt haben. Keller liefert zudem einen guten Überblick über den sich wandelnden Umgang mit Raub- und Fluchtgut im internationalen Kontext von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die Gegenwart, sowohl in der juristischen Beurteilung als auch aus Sicht der Provenienzforschung. Er macht dabei deutlich, dass die historische Forschung für die Provenienzforschung und für die Beurteilung von Einzelfällen unabdingbar ist, da der historische Kontext für diese von zentraler Bedeutung ist. Und schließlich leistet der Autor einen Beitrag zu schweizerischen Geschichts- und Erinnerungsdebatten sowie zu Fragen um Schuld und Mitverantwortung – nicht nur, aber auch – im Kontext von Raub- und Fluchtgut.
Anmerkungen:
1 Matthieu Leimgruber, Kriegsgeschäfte, Kapital und Kunsthaus. Die Entstehung der Sammlung Emil Bührle im historischen Kontext. Forschungsbericht zuhanden des Präsidialdepartements der Stadt Zürich und der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich, Kölliken 2021. Auch open access: https://doi.org/10.5167/uzh-202045.
2 Peter Hug, Schweizerische Rüstungsindustrie und Kriegsmaterialhandel zur Zeit des Nationalsozialismus. Unternehmensstrategien, Marktentwicklung, politische Überwachung. Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Bd. 11 (2 Teilbände), Zürich 2002.; Esther T. Francini / Anja Heuss / Georg Kreis, Fluchtgut – Raubgut. Der Transfer von Kulturgütern in und über die Schweiz 1933–1945 und die Frage der Restitution. Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Bd. 1, Zürich 2001; Thomas Buomberger / Guido Magnaguagno, Schwarzbuch Bührle. Raubkunst für das Kunsthaus Zürich, Zürich 2015.
3https://www.nzz.ch/feuilleton/sammlung-buehrle-im-kunsthaus-was-in-den-vertraegen-steht-ld.1671302 (02.03.2022).
4 Office of the Special Envoy for Holocaust Issues, Washington Conference Principles on Nazi-Confiscated Art, Washington 03.12.1989, in: U.S. Department of State, URL: https://www.state.gov/washington-conference-principles-on-nazi-confiscated-art/ (01.02.2022).
5 Office of the Special Envoy for Holocaust Issues, 2009 Terezin Declaration of Holocaust Era Assets and Related Issues, Theresienstadt 2009, in: U.S. Department of State, URL: https://www.state.gov/prague-holocaust-era-assets-conference-terezin-declaration/ (01.02.2022).
6 Siehe dazu u.a. Medienmitteilung: Sammlung Bührle im Kunsthaus Zürich. Stellungnahme ehemalige Unabhängige Expertenkommission: Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK), 7.11.2021.