F. Hoyer: Relations of Absence

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Titel
Relations of Absence. Germans in the East Indies and Their Families, c. 1750–1820


Autor(en)
Hoyer, Francisca
Reihe
Studia Historica Upsaliensia
Erschienen
Anzahl Seiten
237 S.
Preis
SEK 331,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Mann, Institut für Asien- und Afrikawissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Historiker:innen, die sich mit der deutschen Kolonialgeschichte oder/ und mit der Geschichte der europäischen Kolonialreiche in Asien, Amerika und Afrika beschäftigen, vernachlässigen bis in die Gegenwart die Rolle, die Deutsche bei der „europäischen Expansion“ gespielt haben. Meist tauchen Männer als Kaufleute auf, die sich in den spanischen und portugiesischen „Überseereichen“ betätigen, oder als Siedler, die sich besonders seit dem 18. Jahrhundert in den nordamerikanischen Kolonien Englands niederlassen. In erstem Fall sind die beteiligten Akteur:innen friedliche Händler:innen, im zweiten Fall Emigrant:innen, die sich als Vorläufer in die deutsche Auswanderung nach Nordamerika im 19. und 20. Jahrhundert einreihen lassen. Männer tauchen auch als Soldaten und Seeleute auf, die sich von der East India Company (EIC) oder / und der Vereenigden Oostindischen Compagnie (VOC) in Dienst stellen lassen und dann als „Ostindienfahrer“, wie die Kaufleute, gegebenenfalls Karriere machen und ihre Erlebnisse im aufkommenden Genre der Reiseberichte niederschreiben. Dass Deutsche – gemeint sind die deutschsprachigen Territorien / Länder des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation – seit dem 16. Jahrhundert, vor allem aber im 18. Jahrhundert, maßgeblich an der Bildung von europäischen Imperien auf anderen Kontinenten der Welt beteiligt waren und damit an der Entwicklung dessen, was jenseits der territorialen Begrenzung als „empire“ verstanden werden kann, ist bislang kaum bzw. nur vereinzelt beforscht worden.

Francisca Hoyer hat mit ihrer Dissertation nicht nur den zögerlichen Forschungsansatz der vergangenen Jahre aufgegriffen, sondern eine klaffende Forschungslücke aufgetan und auf brillante Art und Weise einen grundlegenden Beitrag zu deren Füllung geleistet. Innovativ ist die Dissertation gleich in mehrfacher Hinsicht. Erstens untersucht die Verfasserin 202 Familien, darunter 176 Männer, 14 Frauen und 12 Kinder, aus den deutschsprachigen Ländern des „Alten Reiches“ und Preußens, indem sie nicht nur die Archivalien der EIC und der VOC zur Analyse heranzieht, sondern ganz neu den Quellenkorpus von Ego-Dokumenten wie Briefen, vor allem aber Testamenten und Petitionen intensiv berücksichtigt. So entsteht ein höchst lebendiges Bild von Familien, deren Mitglieder daheim geblieben und „ausgefahren“ sind. Dass nur aktenkundige Familien(mitglieder) berücksichtigt werden können und damit sicherlich nur ein Bruchteil der Familien und Emigrant:innen erfasst wurde, tut den Erkenntnissen keinen Abbruch. Im Gegenteil, die wenigen und doch reichhaltig und vielsagenden Dokumente belegen, wie eng die Bande zwischen Familienmitgliedern über die Distanz und die Zeit hinweg sein konnten.

Zweitens, wie bereits angesprochen, erweitert die Verfasserin das Spektrum der Akteur:innen, wenn nicht nur die männlichen „Ostindienfahrer“ berücksichtigt werden. Hinzu kommen neben den Frauen die Familien, die daheim geblieben sind, zu denen manchmal jahrelang kein Kontakt bestand, und manchmal erst die Suche nach einem Nachlass Aufschluss über den Verbleib des Verwandten oder Ehemannes gegeben hat. In manch einem Fall hatte die Familie zuvor Geld zusammengelegt, um dem Sprössling oder Ehegatten die Überfahrt zu finanzieren, in der Hoffnung, er würde zu gegebener Zeit Geld nach Hause schicken – Motive und Motivationen, wie wir sie von gegenwärtigen Migrant:innen ebenfalls kennen. Zu den deutschen Ehefrauen kommen aber auch die eheähnlichen Beziehungen oder Ehen, die die oftmals jungen Männer vor Ort mit lokalen Frauen eingegangen sind. Darunter befanden sich europäische Frauen, die bereits in Süd- und Südostasien lebten, deren Mann dort verstorben war und die sich nun schnellstmöglich wiederverheirateten. Darunter befanden sich aber oftmals lokale Frauen, nicht selten Sklavinnen des eigenen Haushalts, die entweder Sexualpartnerinnen waren, als solche zu dienen hatten oder in verschiedenen Fällen geehelicht wurden.

Aufschlussreich sind an dieser Stelle die Testamente, denn sie schweigen meistenteils über die Sklavinnen, die nur als zu vermachendes „Erbe“ auftauchen. Ähnlich erging es den Nachkommen aus solchen Verbindungen, die vor Ort nicht als mesalliance gesehen wurden, zu Hause aber, sofern eine christlich angetraute Ehefrau dort lebte, unter Ehebruch kriminalisiert worden wären. Aus gutem Grund, vor allem wenn es ein Erbe anzutreten gab, wurden solche Partnerschaften verschwiegen. Nicht zu vergessen sind auch die daheim gebliebenen Frauen, die sich mithilfe von Petitionen an den preußischen Monarchen wandten, damit dieser über seine Konsuln in Amsterdam, Den Haag und London nach den Männer forschen ließ, entweder um überhaupt von deren Verbleib etwas in Erfahrung zu bringen, oder um über ausstehende Geldüberweisungen nachzufragen oder bei Nachricht vom Tod geggebenenfalls ausstehende Zahlungen einzufordern. Vor Ort waren Frauen von Kompanieangestellten zudem auch in Geschäfte involviert, was belegt, dass sie bei weitem mehr Aufgaben erfüllten, als nur sexuelle Begleitung und kindererziehende Mütter zu sein.

Zum Dritten stellt die Verfasserin etablierte Vorstellungen von (Kolonial-)Imperien infrage, denn diese sind meist durch ein späteres exklusivistisches Nationalnarrativ geprägt, das in anderen Kolonialreichen und Imperien bestenfalls unliebsame Konkurrenz sieht. Die Dissertation belegt auf eindrucksvolle Weise, wie trans-imperiale und transregionale Verbindungen dazu beitrugen, europäische Kolonialreiche und Imperien zuwege zu bringen, was im Umkehrschluss bedeutet, dass die diesbezügliche Historiografie grundlegend infrage gestellt werden muss, indem eine solche Geschichte künftig de-zentriert und de-nationalisiert erforscht und erzählt wird. Das gilt gerade vor dem Hintergrund, dass das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert, das den zeitlichen Rahmen der Untersuchung bildet, ein Zeitalter des Umbruchs ist, das von Reinhard Koselleck auch als „Sattelzeit“1 charakterisiert wurde, in dem es eben noch keine Nationalstaaten gab, allenfalls wenige, die im Entstehen begriffen waren. Es ist das Zeitalter, in dem sich globale Auseinandersetzungen um Hegemonien, zwischen Frankreich und Großbritannien, aber auch zwischen Safawiden-Imperium und Mogul-Imperium entscheiden, ein Zeitalter, das von Revolten, Revolutionen und Umbrüchen geprägt war, so in den nordamerikanischen Kolonien Englands, in Frankreich, im Osmanischen Reich, im Mogul-Imperium und in Afghanistan-Iran.

Es ist auch ein Zeitalter der zahlreichen Kriege gerade in Europa, aber auch in Südasien. Durch die Dynastiekriege der europäischen Mächte waren vor allem Deutschland und Mitteleuropa nach dem Siebenjährigen Krieg (1756–63) von einer beispiellosen Armut und Verelendung geprägt, die viele junge Männer auf der Suche nach Arbeit und Auskommen außer Landes trieb. Sie wurden zu Teilnehmern an dem gleichzeitig stattfindenden Aufbau europäischer Kolonialreiche, allen voran in Südasien (später Britisch-Indien) und im indonesischen Archipel (später Niederländisch Indien), aber auch in Südafrika (burisch-britisch, und eben auch deutsch). Es sind diese globalen politischen Umstände, in denen die Verfasserin die Lebenswelten ihrer Emigranten und Emigrantinnen, der Familien, der Freunde und Verwandten platziert und hierüber die Rekonzeptualisierung des bisherigen Narratives von den individuellen deutschen „Ostindienfahrern“ nun als eine Geschichte globaler Familienverbindungen einfordert. Weniger von Bedeutung ist, ob sich „Deutsche“ oder „Schweizer“ oder „Schweden“ als Bewohner eines späteren Nationalstaates an diesen Kolonialunterfangen und dem Aufbau von transregionalen „empire“-Strukturen beteiligten. Wichtig ist, dass gerade im Untersuchungszeitraum, in dem es noch gar keine Nationalstaaten gab, der länderübergreifende Charakter dieser Dynamik betont wird. Dokumente zur modernen Geschichte Indiens in deutschen Archiven können hierzu, wie nicht nur die Verfasserin der vorliegenden Dissertation überzeugend zeigt, einen ganz wesentlichen Beitrag zur Reorientierung leisten.2

Ob allerdings der preußisch-deutsche Nationalstaat ohne diese Vorgeschichte auskommt, sie als kollektive Erinnerung gar ausklammern musste, wie die Verfasserin vorschlägt, mag bezweifelt werden. Zum einen lassen sich auch nach 1820 deutsche Männer als Soldaten und Seeleute bei EIC und VOC anwerben. Abgesehen davon trugen, wie bisher, Experten, darunter Geografen, Botaniker und Mediziner im gesamten 19. Jahrhundert mit ihren Erkundungen zu einem weiteren Wissenserwerb in Britisch-Indien und Niederländisch-Indonesien bei. Zum anderen treten als Akteure die Missionsgesellschaften (Gossner Mission, Baseler Mission, Rheinische Mission) hinzu, die gerade um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Südasien, aber auch im südlichen Afrika aktiv werden und deren Archive zu einem interkontinentalen Wissenspool werden. Vergessen werden darf nicht, dass beim Wartburgfest und der 1848-Revolution die Forderung nach deutschen Kolonien (in Afrika) explizit formuliert wurde. Doch das ist nicht die Geschichte, die uns die Verfasserin erzählen will, denn das ist eine andere Geschichte, die erst noch erforscht werden möchte. Anstoß dazu hat die Verfasserin allemal gegeben. Insgesamt ist die Dissertation ein höchst gelungenes akademisches Buch, das aufgrund der zahlreichen Beispiele zwar bisweilen etwas langatmig zu lesen ist, nichtsdestoweniger allen Historiker:innen, die sich bisher mit Kolonialgeschichte und „europäischer Expansion“, der Unterwerfung oder der Verwandlung der Welt beschäftigt haben oder dies künftig tun möchten, dringend ans Herz gelegt werden muss – und allen anderen Interessierten natürlich auch!

Anmerkungen:
1 Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1979, S. XV.
2 MIDA, Das moderne Indien in deutschen Archiven 1706–1989, URL: <https://www.projekt-mida.de/> (14.01.2022).

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