„Meine kleine Stadt steht für tausend andere und für jede große auch.“ (Hans Fallada) Günstige Überlieferungslage und ein dem modernen Betrachter nicht ganz unvertrautes urbanes Lebensgefühl lassen heutzutage zuweilen vergessen, dass sich die gesellschaftliche „Normalität“ des späten Mittelalters weniger in Großstädten wie Köln, Lübeck oder Nürnberg abspielte, als vielmehr in den zahlreichen Kleinstädten. Zwar erfährt deren Untersuchung als wichtiges Korrektiv etablierter Meistererzählungen des mittelalterlichen Städtewesens seit einiger Zeit enormen Auftrieb in der Stadtgeschichtsforschung. Dennoch sind Studien zur Kirchengeschichte bzw. Frömmigkeit mittelalterlicher Kleinstädte1 weiterhin ein Forschungsdesiderat wie auch vergleichbare Untersuchungen zur Frömmigkeit auf dem Land.2
Die Untersuchung von Stadt-Land-Beziehungen und der städtischen Kultur des Mittelalters zieht sich wie ein roter Faden durch das Œuvre Dorothee Rippmanns. Im Fokus der vorliegenden Arbeit steht dabei ein klassischer Untersuchungsgegenstand spätmittelalterlicher Frömmigkeit, nämlich das Totengedenken in Form von Stiftungen und Testamenten.3 Dabei richtet Rippmann ihr Augenmerk vor allem auf die Kleinstadt Bischofszell und das dortige Kollegiatstift St. Pelagius sowie weitere Kommunen im Kanton Thurgau. In dieser Hinsicht erscheint der Titel des Bandes etwas irreführend, denn es handelt sich hier mitnichten um eine vergleichende Studie zur kleinstädtischen Frömmigkeit in der gesamten mittelalterlichen Diözese Konstanz, die von Stuttgart bis Bern und von Freiburg bis Ulm reichte, sondern vielmehr der Stiftungsgeschichte zwischen Bodensee und Alpstein.
Die Arbeit will die Verflechtung von Kirche und kleinstädtischem Sozialgefüge unter dem Aspekt spätmittelalterlicher Frömmigkeit untersuchen. Dabei verfolgt Rippmann, wie die Einleitung (S. 9–28) verrät, ein ehrgeiziges Ziel, will sie doch das „Universelle im Kleinen suchen“ (S. 14), also die Universalgeschichte des Stiftungswesens mit einer Mikrogeschichte der Frömmigkeit in der Ostschweiz verbinden. Dabei stützt sich die Studie größtenteils auf ungedrucktes Material des Bischofszeller Pelagiusstifts, weshalb sich die Verfasserin dazu entschlossen hat, die genutzten Quellen in Form einer „Onlineedition“ zur Verfügung zu stellen, was ihr hoch anzurechnen ist.4 Die ausgewählten Quellen werden, größtenteils vollständig, in Form einer kritischen Edition wiedergegeben, die grundsätzlich keinen Anlass zur Beanstandung gibt. Zwar zieht Rippmann weitere gedruckte Überlieferung hinzu, insbesondere zur Wirtschafts- und Kirchengeschichte des Bistums Konstanz, dennoch hat der Rezensent gewisse Zweifel an der methodischen Tragfähigkeit der doch recht schmalen Überlieferung, nicht zuletzt angesichts der selbstgesteckten hohen Ziele der Verfasserin. Denn im Wesentlichen stützt sich die Studie auf normative bzw. Rechtsquellen. Insofern überrascht es nicht, dass insbesondere rechtliche und wirtschaftliche Fragen (Finanzierung des Jahrzeitwesens, rechtliche Absicherung der Stiftungen, Erwartungshorizont der handelnden Akteure, Vermögenslage der Erblasser) im Fokus der Arbeit stehen.
Wenn daher in Kapitel 2 (S. 29–52) ein knapper Abriss über spätmittelalterliche Frömmigkeitsvorstellungen geboten wird, so erscheint es doch fraglich, ob der Niederschlag normativ-moralischer Schriften, etwa Anselms von Canterburys, in den Formulierungen einzelner Stiftungsurkunden repräsentativ für die religiöse Vorstellungswelt der spätmittelalterlichen Bewohner Bischofszells ist oder ob der immerhin einmal in der Kantonsbibliothek Frauenfeld überlieferte Traktat Bf. Ottos III. von Sonnenberg (De contemptu mundi, Basel, vor 1488) tatsächliche Missstände in der Diözese Konstanz offenlegt oder nicht nur Reformtopoi der Zeit wiedergibt. Die quellenkritischen Anmerkungen in Kapitel 3 (S. 53–66) kranken daran, dass der ausgewählte Quellenbestand mit sich selbst verglichen wird. Dass etwa der Übergang vom Quer- zum Hochformat bzw. die Ausfertigung eines Libells im Jahr 1507 als „Innovation“ gewertet wird (S. 62f.), mag für die von Rippmann edierten Schriftstücke stimmen, aber nicht im allgemeinen diplomatischen Vergleich. Dass Urkunden „zweidimensionale“ Objekte seien, während Codices einen „dreidimensionalen“ Charakter aufwiesen (S. 53), was Auswirkungen auf deren Gebrauchsfunktion haben soll, ist bestenfalls als irritierend zu bezeichnen, entwickelt aber, wie eigentlich das gesamte Kapitel, keinerlei methodische Folgewirkung für die weitere Untersuchung. Irritierend ist ebenfalls, dass auf eine grundlegende Kontextualisierung verzichtet wurde. Wie viele Einwohner etwa Bischofszell hatte oder wie die Kommune politisch und sozial organisiert war, erfährt man nicht. Gleiches gilt auch für die anderen untersuchten Gemeinden. Freilich mag dafür, wie Rippmann oft betont, die nötige Überlieferung fehlen. Doch sollte dies nicht zugleich Auswirkungen auf die Interpretation der Quellen haben?
Der rote Faden der nun folgenden inhaltlichen Kapitel besteht im Grunde darin, dass Rippmann die von ihr genutzten Stiftungsurkunden und die darin enthaltenen Bestimmungen ausführlich, gewissermaßen in Form einer dichten Beschreibung, referiert. Anhand der zur Verfügung stehenden „Informationssplitter“ (S. 259) werden die handelnden Akteure ausgiebig gewürdigt und so versucht, die Stiftungen in einen übergeordneten Kontext zu setzen. Dies gelingt nicht immer und erzeugt zuweilen den Eindruck assoziativer Sprunghaftigkeit. Insbesondere kritische Bezüge zur Gegenwart sind wenig hilfreich. Ein generelles Problem erscheint die latente Überinterpretation der Quellen im Hinblick auf die grundlegende Forschungsfrage spätmittelalterlicher Frömmigkeit und die schmale Quellenbasis. Dass sich etwa in der Wortwahl eines Stiftungsbriefs des Bischofszeller Bürgers Vitus Bürkler dessen „kaufmännische Mentalität“ (S. 190–194) zeigen soll, wäre nur im Vergleich mit anderen Stiftungen tragfähig. Wenn in der Urkunde das Wort militieren (im Sinne von „dienen“) vorkommt, dann sagt dies wohl eher etwas über den die Urkunde schreibenden Chorherren des Pelagiusstift aus, als dass Vitus Bürkler das Konzept der milita Christi bekannt gewesen sei.
Inhaltlich steigt die Studie nicht mit dem Stiftungswesen in der Kleinstadt ein, sondern mit jenem des Adels (Kapitel 4, S. 67–99), um dann bäuerliche Stiftungen (Kapitel 5, S. 101–121) in den Blick zu nehmen. Daran schließt sich das kurze Kapitel 6 zur sozialen Distinktion zwischen adligen und bäuerlichen Stiftern an (S. 123–127). Wenig überaschendend besaßen Adel und Bauern nicht nur unterschiedliche Repräsentationbedürfnisse und -möglichkeiten, sondern auch unterschiedliche soziale Erwartungshorizonte. Kapitel 7 (S. 129–137) widmet sich der Finanzierung von Stiftungen durch Kreditgeschäfte, wobei dem kirchlichen Wucherverbot nach Ansicht des Rezensenten zu viel Bedeutung zugemessen wird. Kapitel 8 (S. 139–149) ist zwar mit „Bürger und Bürgerinnen“ überschrieben, behandelt aber ausschließlich Stiftungen Bischofszeller Frauen. Kapitel 9 widmet sich den Stiftungen der Chorherren des Pelagiusstift (S. 151–175), wobei sich die Hälfte des Kapitels eigentlich dem Sozialprofil der Chorherren und der Frage des Erbrechts bei Klerikerstiftungen widmet. Unklar bleibt, warum an dieser Stelle die Möglichkeiten der vatikanischen Überlieferung nicht ausgeschöpft werden, obwohl diese durch das Repertorium Germanicum und das Repertorium Poenitentiariae Germanicum mittlerweile gut erschlossen sind.5 Allein für Bischofszell (Episcopalicella) bzw. das Pelagiusstift listet das RG mehr als 100 Einträge auf. Kapitel 10 (S. 177–201) behandelt nun tatsächlich auch Stiftungen der Bischofszeller Bürger und des Rates am Pelagiusstift, Kapitel 11 nimmt „Frauenstiftungen um 1500“ (S. 203–232) in den Blick, wobei es sich vor allem und Stiftungen und Armenspenden Bischofszeller Eheleute für das dortige Spital handelte. Kapitel 12 (S. 233–251) schließlich widmet sich einer an der Pfarrkirche in Sulgen bestehenden Laienbruderschaft und der Stiftung einer Messpfründe am Mauritiusaltar in der Filialkirche Berg 1506 im Sinne kommunaler Gemeinschaftsbildung. Kapitel 13 (S. 253–271) fasst die Ergebnisse der Studie zusammen. Leider wurde auf ein Orts- und Personenregister verzichtet, was die Benutzung angesichts der zahlreichen Namensnennungen wesentlich erleichtert hätte.
Das Buch lässt den Rezensenten etwas ratlos zurück. Auf der einen Seite bietet die minutiöse Auswertung der vorhandenen Quellen zahlreiches Vergleichsmaterial für weiterführende Untersuchungen. Auf der anderen Seite verbleibt vieles, eben auch aufgrund fehlender anderer Quellen, im Allgemeinen und Oberflächlichen, was mitunter dazu führt, dass Rippmann die normative Dimension der Quellen hinsichtlich der alltäglichen Frömmigkeitspraxis überbewertet. Ein vergleichender Blick über den Untersuchungsraum hinaus hätte in dieser Hinsicht viele Aussagen relativiert. Dass sich über die stark normierte Gattung der Stiftungsurkunden mit ihren sich ständig wiederholenden Formulierungen nur wenig über die tatsächliche Frömmigkeit und Glaubenswelt der Stifter aussagen lässt, dafür umso mehr über die sozialen Beziehungen zwischen Stifter und Stiftungsbegünstigten, ist ein quellenkritisches Problem und mithin auch keine furchtbar neue Erkenntnis. Unklar bleibt zudem, was das grundsätzlich „kleinstädtische“ an den untersuchten Stiftungen sein soll, steht doch eigentlich das Bischofszeller Pelagiusstift im Mittelpunkt der Arbeit. Über „Frömmigkeit in der Kleinstadt“ erfährt man daher doch herzlich wenig. Als grundsätzliches Ergebnis kann die Verfasserin aber festhalten, dass allen Stiftergruppen das Bestreben nach verdichteter Frömmigkeit und Verbesserung des Gottesdienstes gemein war. Zugleich fungierte soziales und religiöses Handeln in Form von Stiftungen als gemeinschaftsbildendes Element, ob auf dem Land, in der Stadt oder dem familiären Bezugsrahmen. Dies entsprach, so darf der Rezensent ergänzen, allgemeinen gesellschaftlichen Trends des 15. Jahrhunderts, die sich in der von Rippmann vorgelegten Mikrostudie anschaulich spiegeln. So zeigt sich denn doch, zumindest hinsichtlich der Stiftungspraxis im Kanton Thurgau des späten Mittelalters, das Universelle auch im Kleinen.
Anmerkungen:
1 Vgl. Friedemann Meißner, Was kostet eine Kirche im späten Mittelalter? Pfarrkirchenbau und alltägliche Frömmigkeit in der sächsischen Kleinstadt Delitzsch am Vorabend der Reformation, https://saxorum.hypotheses.org/6327 (23.11.2022).
2 Dazu nun Martin Sladeczek, Vorreformation und Reformation auf dem Land in Thüringen. Strukturen – Stiftungswesen – Kirchenbau – Kirchenausstattung (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 9), Köln 2018. Vgl. Enno Bünz, „Die Kirche im Dorf lassen ...“. Formen der Kommunikation im spätmittelalterlichen Niederkirchenwesen, in Werner Rösener (Hrsg.), Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 156), Göttingen 2000, S. 77–167.
3 Dazu nun umfassend Michael Borgolte (Hrsg.), Enzyklopädie des Stiftungswesens in mittelalterlichen Gesellschaften. 3 Bde., Berlin 2014–2017. Vgl. Ralf Lusiardi, Stiftung und städtische Gesellschaft. Religiöse und soziale Aspekte des Stiftungsverhaltens im spätmittelalterlichen Stralsund (Stiftungsgeschichten 2), Berlin 2000.
4 Es handelt sich dabei um ein 292 Seiten starkes Pdf, welches auf der Verlagswebsite zum Download bereitsteht: https://www.chronos-verlag.ch/node/28269 (23.11.2022). Dabei handelt es sich um drei Anniversarbücher (der Kirchen in Felben, Sulgen und Berg), vier liturgische Handbücher bzw. Synodalstatuten der Konstanzer Bischöfe sowie 69 Urkunden in originaler oder kopialer Überlieferung in einem Zeitraum von gut 130 Jahren.
5http://www.romana-repertoria.net/993.html (23.11.2022).