Cover
Titel
Pictures of Poverty. The Works of George R. Sims and Their Screen Adaptions


Autor(en)
Jakobs, Lydia
Reihe
KINtop Studies in Early Cinema (7)
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 266 S.
Preis
$ 39.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sarah Dellmann, Bereich Publikationsdienste, Technische Informationsbibliothek Hannover

George R. Sims (1847–1922) war ein seinerzeit sehr einflussreicher britischer Journalist, Dramatiker und Verfasser von Balladen, der sich vielfältig und leidenschaftlich in die sozialpolitische Debatte einbrachte und den Umgang der britischen Politik mit Betroffenen von Armut scharf kritisierte. Seine Texte wurden in verschiedenen populären Zeitschriften abgedruckt, oftmals mit Illustrationen. Seine Serien und Balladen wurden zudem in öffentlichen Aufführungen rezitiert – oft visuell begleitet durch Glasbilderserien, die mit einer Laterna magica projektiert wurden. Jakobs rekonstruiert die Publikationsgeschichte der Ursprungstexte und ihrer Adaptationen für eine Darbietung auf der Leinwand. Anhand von Sims' Balladen, den (gedruckten) Illustrationen und den Glasbildern selbst untersucht sie die narrativen und visuellen Strategien des Wort- und Bildmaterials und verfolgt Aufführungskontexte mithilfe von historischen Zeitungsberichten und, soweit vorhanden, Sekundärliteratur zu Protagonist:innen, Organisationen oder Aufführungsorten.

Nach einem kurzen Überblick über Sims’ Leben und sein journalistisches und politisches Schaffen werden seine Werke in die sozialpolitischen Debatten zur (Organisation der) Armenfürsorge, etwa der hoch umstrittenen Einrichtung der workhouses eingeordnet. Ein weiteres Hintergrundkapitel stellt die Arbeit in den Kontext der Victorian Studies. Jakobs wählt hierfür Publikationen an der Schnittstelle von Armutsdarstellungen, visuellen Medien der Zeit (vor allem Illustrationen aus Holzschnitt und -stich sowie Fotografie) und dem „Genre“ des Victorian Melodrama aus, demzufolge sich Armutsdarstellungen in zwei große Strategien einteilen lassen: In der Darstellungsweise „picturesque poverty“ werden die Zuschauer:innen – in Wort und Bild – hauptsächlich über Mitgefühl und Sentimentalität mittels einer leichten Romantisierung angesprochen, in der „authentic poverty“ werden sie mit schockierendem Realismus zur Kritik (und Veränderung) der Verhältnisse aufgerufen (vgl. S. 238).

Recht schnell kommt Jakobs zum eigentlichen Anliegen: Sie fokussiert – wie andere Arbeiten des Trierer Forschungsschwerpunktes1 – auf die visuellen Armutsdarstellungen im edwardianischen und viktorianischen England, insbesondere auf das damals wohl verbreitetste visuelle Massenmedium: die Laterna-magica-Glasbildserien, die auf eine Leinwand projiziert und zusammen mit Erklärung oder auch Musik als Liveshow vor einem Publikum dargeboten wurden.

Das dritte Kapitel stellt die verschiedenen Medienformen vor, in denen visuelle Adaptationen von Sims‘ Werken erschienen: illustrierte Zeitschriften, Glasbildserien (sowohl gezeichnete als auch basierend auf Fotografien oder einer Mischung von beidem) und Filme des frühen Kinos. Insbesondere im Abschnitt zu den Glasbildserien gibt die Autorin ausführliche Hintergrundinformationen zu Produktion und Genres, in denen Armutsdarstellungen vorkamen.

Die drei Fallstudien zu den Adaptionen der (später als Buch herausgebrachten) Serie How the Poor Live (1883) und der Balladen In the Workhouse. Christmas Day (1877) und The Road to Heaven (1882) vor allem in Glasbildserien, aber auch in Filmen des frühen Kinos sind das eigentliche Herzstück der Arbeit, sie nehmen die Hälfte des Buches ein: Mit viel Hingabe zu Details arbeitet Jakobs das Zusammenspiel von Wort und Bild, die Bedeutungsverschiebungen, die eine Vorführung einer Bildserie über die Jahrzehnte erfuhr, heraus und zieht dabei, wo immer vorhanden, aktuelle wissenschaftliche Aufsätze zurate. Die zahlreichen farbigen Abbildungen sind passend ausgewählt und ermöglichen den Lesenden, die Argumentation der vergleichenden Methode nachzuvollziehen.

Die Vergleiche sind vielzählig: Die Analyse umfasst zunächst eine Beschreibung, welche Situationen der Balladen illustriert wurden, – setzt somit Text und Bild in Beziehung. Zum anderen beschreibt die Autorin visuelle Strategien und vergleicht sie, wenn vorhanden – mit anderen Ausgaben zur selben Serie, Filmen und Illustrationen. Die Vergleiche wiederum setzt sie in Beziehung zu den Aufführungsberichten in Zeitschriften von religiösen, karitativen und politischen Organisationen, die diese Werke in ihrer Arbeit einsetzten. Die historischen Kommentare lassen somit erkennen, in welchen diskursiven Zusammenhängen eine Screen Adaptation eines Sims-Werks eingesetzt wurde und was die Organisator:innen der Aufführung bezwecken wollten (etwa Spendensammlung, Aufruf zur politischen Veränderung, Aufruf zu einem abstinenten Leben).

Im vierten Kapitel äußert sich Jakobs zu Methoden digitaler Quellenkritik. Sie argumentiert, dass Kenntnisse über das Ursprungsformat (etwa historischer Zeitungen oder die Glasdias) wichtig sind, um die digitalisierten Ausgaben besser zu verstehen (vgl. S. 243). Bei der Trefferanzeige digitalisierter Volltexte allein sei beispielsweise die Position innerhalb der Zeitung nicht (immer) offensichtlich – gerade die Position sage aber viel zur Relevanz und zum Verständnis der Inhalte aus. Sie plädiert dafür, Digitalisate gemeinsam mit dem Ursprungsmaterial zu beforschen.

Hier erfüllt die Publikation ihre eigenen Forderungen jedoch nur teilweise. Wenn die Autorin etwa verlangt, dass Quellenmaterial im Open Access zugänglich sein soll (S. 243) – warum veröffentlicht sie ihre Dissertation dann in einem reinen Closed-Access-Verlag (und vergibt damit die Chance, dass ihre Arbeit Quellenmaterial der Zukunft sein könnte)? Wenn sie – richtigerweise – die Grenzen der Open Character Recognition (Volltexterkennung, OCR) und die Grenzen der Suche nach Textstrings wie etwa „In the Workhouse“ bemängelt – warum nutzt sie für die E-Book-Version nicht die Möglichkeiten, Titel von Serien als solche auszuzeichnen, wie es mit den in der Geschichtswissenschaft nicht unbekannten Tools der Text Encoding Initiative (TEI) möglich wäre? Zwar herrscht in weiten Teilen der Geistes- und Sozialwissenschaften ein Verständnis von elektronischem Publizieren, das sich darin erschöpft, das Buchlayout im PDF-Format anzubieten; somit richtet sich diese Kritik nicht nur an Jakobs. Wer aber ein Kapitel zur digitalen Quellenkritik einbaut und technische Möglichkeiten der Nachnutzung fordert, muss sich dieser Frage stellen. Immerhin ist positiv anzumerken, dass in der PDF-Datei (die zwar keine Sprungmarken von Fußnotenverweis zu Fußnote oder von Kapitel ins Inhaltsverzeichnis enthält, dafür aber Schnittmarken) kein Kopierschutz eingebaut ist, auch nicht für die zahlreichen Abbildungen, die auch im Print in Farbe abgedruckt sind. Das erleichtert die Nachnutzung zumindest hinter der Paywall.2

Davon abgesehen ist Pictures of Poverty eine lesenswerte Lektüre, die vor allem durch die drei Case Studies aufzeigt, wie viel Potenzial in der Forschung mit Glasbilderserien steckt – und die weiteren Interessierten Beispiele zum methodischen Vorgehen an die Hand gibt.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Arbeiten des Forschungsschwerpunktes der Universität Trier: https://www.uni-trier.de/universitaet/fachbereiche-faecher/fachbereich-ii/faecher/medienwissenschaft/professuren/ehemalige-professuren/ehemalige-professur-loiperdinger/forschung/screen1900 (14.05.2022).
2 Der Verlag stellte neben der Printversion leider nur die PDF-Version zur Verfügung, sodass diese Aussage nicht für das EPUB-Format überprüft werden konnte.