Kultur war im 20. Jahrhundert in besonderem Maße von den Medien geprägt. Dies ist die Ausgangsbeobachtung der Reihe „Kulturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts”, die der Lüneburger Medienwissenschaftler Werner Faulstich im Wilhelm Fink Verlag seit 2002 herausgibt. Die gestiegene Deutungsmacht der neuen Kommunikationsmedien veränderte revolutionär alle kulturellen Teilsysteme, was Werner Faulstich in der Einleitung zu „Das Erste Jahrzehnt” als den roten Faden der Reihe benannte.1 Die Reihe gliedert das 20. Jahrhundert in Zehnjahresabschnitte und lässt es mit 1900 beginnen. Zwischen 2002 und 2005 erschienen nacheinander die Bände zur Kultur der 1950er- bis zu den 1980er-Jahren, 2006 folgte der Band zum ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.2 2008 ist nun der Band zu den 1920er-Jahren erschienen.
Die Autorengruppe ist im Wesentlichen identisch mit dem Band zu 1900 bis 1910. Der mediengeschichtliche Kulturansatz wird auf zahlreiche Felder angewandt, auf denen sich die Medienrevolution niedergeschlagen hat. Die Liste reicht von wirtschaftsnahen Bereichen wie der Angestelltenkultur (Dirk Stegmann) und den Arbeiterkulturen (Klaus Weinhauer) über hochkulturelle Themen wie Schule, Hochschule und Volksbildung (Detlef Gaus), Architektur (Ricarda Strobel), Musiktheater (Melanie Unseld), die Literatur (Fabian Baar) bis zu den Medien selbst: Werbemedien (Karin Knop), Film (Helmut Korte) und Rundfunk (Knut Hickethier). Der Band wird leider nicht durch ein Literaturverzeichnis und ein Register abgeschlossen. Beides hätte die Benutzbarkeit erleichtert.
Trotz des methodisch neuen Ansatzes wirkt das Buch doch insgesamt unentschieden: Einerseits fragt es nach der medialen Neukonstruktion der Kultur, andererseits bietet es eine eher traditionelle Sicht auf die Kultur der 1920er-Jahre. Der Zusammenhang von Medien und Kultur wird in erster Linie als soziale Entgrenzung und Übergang zur Massenkultur verstanden. Die „massenmediale Sattelzeit” (Bernd Weisbrod) um 1900, die die Reihe konzeptuell auszeichnet, setzte sich auch in den 1920er-Jahren fort. Neue Medien wie die Illustrierte Presse, das Radio und die Fotografie ließen immer breitere Schichten an der kulturellen und wirtschaftlichen Kommunikation teilhaben. Dieser Befund blieb bereits den Zeitgenossen nicht verborgen, er wurde zum Topos der zeitgenössischen Kulturkritik. Siegfried Kracauer bezeichnete die aus dem Boden schießenden Tanzcafés als neue „Pläsierkasernen” (S. 30). Allseits wurde der Siegeszug des neuen Mediums Film wahrgenommen.
Dennoch bleibt der Band in weiten Teilen einem traditionellen Kulturbegriff verpflichtet. Angetreten, methodisch innovativ den revolutionären Wandel der verschiedenen Kulturbereiche durch die Medien nachzuzeichnen, bietet er doch eine Liste von sattsam bekannten Topoi, die bereits vor der Akzentuierung der Mediengeschichte bekannt waren: die „neue Frau” wird illustriert durch Frauenbilder in der Publizistik, die kulturellen Paradedisziplinen Weimars, die Architektur und die Neue Sachlichkeit werden wieder einmal geschildert. Der Siegeszug des Rundfunks wird ohne seine Folgen für die politische Kommunikation nachgezeichnet. Lediglich in Rolf Sachsses Beitrag zur Fotografie klingt an, dass die Medien tiefer in die Kultur eingriffen: Er streicht die Tendenz zur Visualisierung in Politik und Kultur heraus. Die Fotografie formt, „ähnlich dem Film, bei ihren Rezipienten auch Erwartungshaltungen, die in den Alltag eingehen: Vom Neuen Sehen ist es nur ein kurzer Weg zum Neuen Bauen, zu den Neuen Frauen, zur ‚neuen linie’” (S. 175). Die anderen informativen Beiträge zu den verschiedenen Kulturfeldern wären auch ohne die mediengeschichtliche Akzentuierung der Reihe im Wesentlichen möglich gewesen.
Die Frage, wie die Medien die Kultur veränderten, kann nicht auf Prozesse der sozialen Ausweitung und der Durchsetzung der Massenkultur beschränkt werden. Die Veränderungen im Kulturbegriff stehen selbst zur Debatte. Hier taucht die Achillesferse des Bandes auf, sein Kulturbegriff. Was ist Kultur im Zeitalter ihrer medialen Herstellbarkeit? Der Band präsentiert eine bekannte Liste der Künste und Sozialkulturen, die im Prinzip auf die Interessen der Bearbeiter zurückgeht und fortgesetzt werden könnte. Die in der Zwischenzeit breit diskutierte Frage nach dem Wandel der Kommunikationsformen und der Kultur- und Gesellschaftsbilder findet keinen Eingang in diesen eher konventionellen Band. Die medial veränderte symbolische Kommunikation ist aber entscheidend für die Kultur des Politischen der 1920er-Jahre.3 Mediengeschichte als Sachgeschichte kultureller Bereiche und Mediengeschichte als Kulturgeschichte sind zwei verschiedene Dinge. Der Band wirkt hier nicht wirklich entschieden.
Die Auswahl der Gegenstandbereiche dieser Kulturgeschichte bleibt traditionell. Sie folgt den usual suspects, zu denen knapp und anschaulich informiert wird. Die Verbindung von Medien- und Kulturgeschichte erfolgt bereichslogisch, nicht mit Blick auf die Veränderungen des Kulturellen. Der kulturelle Niederschlag der Medienrevolution wird thematisiert als Schule, Hochschule, Literatur et cetera, nicht als Erziehung, Bildung, Deutung und Semantik. Damit aber werden die hochgesteckten Erwartungen, die an diese Reihe geknüpft sind, nicht erfüllt.
Der neue medial bereicherte Kulturbegriff, den man mit Fug und Recht hätte erwarten können, hätte etwas aussagen sollen zur Frage, ob es mit den neuen Medien neue Adressaten, neue Inhalte und neue Mobilisierungsmöglichkeiten gab, kurz: wie die Medien die Kultur in ihren Akteuren und Inhalten, in ihren semantischen Modellen und Referenzgrößen veränderten. Auch theoretisch wird die Herausforderung, die in der Verbindung von Medien- und Kulturgeschichte liegt, nicht aufgegriffen. Sie läge etwa darin, den Kulturbegriff entweder konsequent mit dem Kommunikationsbegriff zu verbinden, wie das in der Tradition Niklas Luhmanns möglich wäre, oder aber inhaltlich mit der symbolischen Repräsentation, wie es in der florierenden Kulturgeschichte des Politischen geschieht. Damit stellen sich schließlich Abgrenzungsfragen. Mediengeschichte in Kulturgeschichte zu übersetzen bedeutet auch, nach den geänderten fließenden Übergängen von Kultur und Politik zu fragen, die durch die mediale Konstruktion der Wirklichkeit entstehen. Traditionelle abgegrenzte Gegenstandsbereiche der Kultur bilden aber die Kultur unter den Bedingungen der Medienrevolution nicht mehr wirklich ab. Sie ist sehr viel fließender geworden und reicht bis in das Politische und das Ökonomische hinein.
Anmerkungen:
1 Werner Faulstich, Einführung: Der Start ins neue Jahrhundert, in: Ders. (Hrsg.), Das Erste Jahrzehnt (= Kulturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts), München 2006, S. 7-21, hier S. 9.
2 Werner Faulstich (Hrsg.), Die Kultur der 50er Jahre, Paderborn 2002; ders. (Hrsg.), die Kultur der 60er Jahre, Paderborn 2003; ders. (Hrsg.), Die Kultur der 70er Jahre, Paderborn 2004; ders. (Hrsg.), Die Kultur der 80er Jahre, Paderborn 2005; ders. (Hrsg.), Das Erste Jahrzehnt.
3 Vgl. Daniel Morat / Habbo Knoch (Hrsg.), Kommunikation als Beobachtung. Medienbilder und Gesellschaftsbilder 1880–1960, München 2003.