T. Borrel u.a. (Hrsg.): L'Empire qui ne veut pas mourir

Cover
Titel
L'Empire qui ne veut pas mourir. Une histoire de la Françafrique


Herausgeber
Borrel, Thomas; Boukari-Yabara, Amzat; Collombat, Benôit; Deltombe, Thomas
Erschienen
Paris 2021: Seuil
Anzahl Seiten
992 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Heinze, Deutsches Historisches Institut Paris

2021 entwickelte sich eine hitzige Debatte in der französischen Öffentlichkeit. Anlass war Emmanuel Macrons bereits 2017 in einer Rede an der Universität Ki-Zerbo in Ouagadougou angekündigte Erneuerung der Beziehungen zwischen dem afrikanischen Kontinent und Frankreich. Der jährliche „Afrique-France“-Gipfel sollte nicht mehr allein Staatschefs und offizielle Delegationen einladen, sondern auch zivilgesellschaftliche Organisationen. Zur Vorbereitung war eine Gruppe bekannter afrikanischer Intellektueller unter der Leitung des kamerunischen Philosophen und Historikers Achille Mbembe beauftragt worden, in mehreren afrikanischen Ländern „Dialoge“ mit solchen Organisationen abzuhalten.

Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Sowohl Macron als auch Mbembe wurde in Frankreich und auf dem afrikanischen Kontinent vorgeworfen, alten Wein in neuen Schläuchen zu verkaufen; die Auswahl der Organisationen wurde ebenso kritisiert wie die Tatsache, dass neben dem offiziellen Gipfel auch ein ganz klassisches Treffen der Staatsoberhäupter geplant war. „Afrique-France“ sei eine Mogelpackung, hinter der sich nicht nur der alte Name der Gipfel, „France-Afrique“, sondern vor allem sein Homonym, die legendäre „Françafrique“, verbarg. Besonders Mbembe, vorher ein scharfer Kritiker von Macrons Afrikapolitik, wurde vorgeworfen, sich auf einen Prozess einzulassen, der nicht viel mehr als Augenwischerei sei.

Die Françafrique, lange totgesagt, war plötzlich wieder in aller Munde. Françafrique ist der Name, den Journalisten Mitte der 1990er-Jahre einem informellen, meist über persönliche Kontakte operierenden Netzwerk gaben, mit dem Teile des französischen Staates kontinuierlich über mehrere Regierungswechsel hinweg die Politik afrikanischer Staaten, insbesondere der ehemaligen französischen Kolonien, beeinflussten, Diktatoren stützten und politisch nicht genehme Politiker auch teils mit Gewalt zu beseitigen suchten.

Gerade rechtzeitig zur Debatte erschien das Buch „Françafrique: l'Empire qui ne veut pas mourir“, herausgegeben von den französischen Journalisten Thomas Borrel, Benoît Collombe und Thomas Deltombe gemeinsam mit dem beninischen Aktivisten und Historiker Amzat Boukari-Yabara, im Auftrag der französischen Nichtregierungsorganisation „Association Survie“, deren damaliger Leiter, François-Xavier Verschave, mit diversen Veröffentlichungen den Begriff Françafrique in kritischer Absicht in der französischen Öffentlichkeit etabliert hatte.1 Borrel ist Pressesprecher und Herausgeber des Magazins der NRO, die übrigens auch einen „Gegengipfel“ zu demjenigen Macrons am selben Ort abhielt. Wie die Einleitung zeigt, ist der Band nicht allein eine Gesamtdarstellung des Phänomens Françafrique, sondern zeigt auch seine kontinuierliche Relevanz auf.

Der Begriff „Françafrique“, argumentieren die Herausgeber:innen, sei seit seiner Verbreitung in den 1990er-Jahren vor allem als Beschreibung eines vergangenen Zustands aufgetaucht: heute gäbe es keine Françafrique mehr, stattdessen neue neokoloniale Netzwerke wie „Chinafrique“ oder „Russafrique“. Ganz im Gegenteil, postulieren die Herausgeber:innen, sei die Françafrique auch heute noch sehr lebendig. Ihr Anspruch ist es aber, die historische Kontinuität der Françafrique seit ihren Anfängen in den Planungen französischer Politiker und Kolonialverwalter für eine eventuell post-koloniale Welt aufzuzeigen. Der Band unternimmt in sechs chronologisch aufeinander folgenden Teilen mit insgesamt 53 systematisch angelegten Kapiteln und 30 Exkursen, die jeweils bestimmte Ereignisse und Personen vorstellen, das ambitionierte Projekt einer Gesamtdarstellung all dessen, was den Herausgeber:innen zufolge die Françafrique ausmacht.

In dieser Breite liegt eine Stärke und eine Schwäche des Bandes. Überzeugend stellt er die Netzwerke, informellen Verbindungen, politischen (auch schmutzigen) Tricks, militärischen und polizeilichen Interventionen sowie wirtschaftlichen und unternehmerischen Geflechte dar, die die Korruption und Gewalt als wesentliche Teile der neokolonialen Politik Frankreichs in Afrika prägten. Dabei begründet der Band detailreich seine These, dass die Françafrique aus den Bemühungen französischer Kolonialverwalter geboren sei, seit dem Zweiten Weltkrieg das französische Empire sowohl gegen die sowjetische Bedrohung als auch gegen die Versuche amerikanischer Einflussnahme weitestgehend zu erhalten. Dabei verschwimmt allerdings ein präziser Begriff von dem, was die Françafrique nun eigentlich ausmachte: Das Netzwerk, das Charles de Gaulles‘ berüchtigter „Monsieur Afrique“, Jacques Foccart, an den dafür eigentlich zuständigen Ministerien vorbei kontrollierte, und das auch vor Attentaten nicht zurückschreckte? Die Unterstützung genehmer afrikanischer Politiker und deren Hofieren durch diverse französische Regierungen? Die korrupten Netzwerke, über die Koffer mit Geld hin und her wanderten? Die weiterbestehende Kontrolle wichtiger politischer Felder nominell souveräner Staaten wie jene über die Währungsreserven der Franc CFA-Zone? Die kulturpolitische Obsession mit der „Francophonie“, die durchaus mit einer knallhart kalkulierten geopolitischen Strategie einherging und im Kongo und in Ruanda mit zu den Katastrophen der Neunziger Jahre beitrug? Die Verflechtungen, die es Unternehmern wie Vincent Bolloré oder dem Elf-Konzern erlaubten, ganze Branchen im französischsprachigen Afrika zu dominieren? Oder ist Françafrique nur ein allgemeiner Ausdruck für den französischen Neokolonialismus? Wie unterschiede dieser sich dann vom britischen oder portugiesischen? Solche historiographisch durchaus relevanten Fragen beantwortet der Band leider nicht; auch nicht in der informativen Begriffsgeschichte, mit der der erste Exkurs zeigt, dass das Konzept schon vor seiner kritischen Wendung und auch vor der üblicherweise genannten Erstverwendung durch den ivorischen Präsidenten Félix Houphouët-Boigny existierte. Gerade mit Blick auf die Analyse der gegenwärtigen französischen Afrikapolitik wäre zumindest eine Abgrenzung von Neokolonialismus wünschenswert gewesen.

Der Vorteil eines solch breiten Begriffs ist allerdings, dass der Band detailreich aufzeigt, wie sich einzelne Aspekte wie die korrupten Netzwerke eines Foccart mit der französischen Afrikapolitik, geostrategischen Überlegungen, wirtschaftlichen Interessen, den spezifischen Konflikten zwischen radikaleren und moderaten politischen Eliten in Afrika und dem Interesse am Zugang zu Rohstoffen zu einem neokolonialen Konglomerat zusammenfügten, das die ehemaligen französischen Kolonien noch heute in seinem Griff hält. Auch die historischen Konjunkturen dieses Neokolonialismus arbeitet der Band sehr konkret anhand vieler Beispiele heraus. Das zeigt sich insbesondere in den Kapiteln, die von der reinen Ereignisgeschichte oder der Darstellung institutioneller und persönlicher Netzwerke abstrahieren, um breitere Zusammenhänge aufzuzeigen, etwa zur wirtschaftlichen Kontinuität eines kolonialen Kapitalismus (mit Beiträgen der Doyenne der französischen Afrikageschichte, Catherine Coquery-Vidrovitch, und des Ökonomen Ndongo Samba Sylla, der gemeinsam mit der ebenfalls im Band vertretenen Journalistin Fanny Pigeaud ein viel beachtetes Werk zur Geschichte des Franc CFA vorlegte2), aber auch zur Kultur- und Sprachpolitik im Rahmen der „Francophonie“. Dabei folgt der Band den Veränderungen im System Françafrique, die sich teils an bestimmten Präsidenten (prägend insbesondere de Gaulle und, seit seinen Tagen als „Afrikaminister“ in den 1950er-Jahren, François Mitterrand) festmachen lässt, aber auch den Veränderungen globaler Konstellationen folgte. Das lässt sich, so argumentieren die Herausgeber:innen bereits im Vorwort, nicht allein auf die Systemkonkurrenz im Kalten Krieg reduzieren. Bereits in der spätkolonialen Phase bereitete sich die Kolonialmacht Frankreich nicht allein auf die sowjetische Herausforderung vor, sondern ebenso auf den Einfluss der USA, die während der Dekolonisierung als neuer Akteur – aus Perspektive des Elysée potentieller Konkurrent – auf dem Kontinent auftraten. Auch die Ölkrise und die Demokratisierungsprozesse der 1990er-Jahre sowie der „Krieg gegen den Terror“ bilden wichtige Einschnitte, unter denen die Françafrique neue Formen annahm. Dennoch betont der Band die Kontinuität in der Anpassung und endet so auch mit mehreren Beiträgen zur Kritik an Macrons „Afrique-France“, die letztendlich nur die neueste Adaption an neue politische, ökonomische und kulturelle Kontexte zur Wahrung eben jener Kontinuitäten sei. Seine Reformen zur Währungspolitik des Franc CFA und zur Restitution afrikanischer Kulturgüter, beide in den Medien bereits nach anfänglicher Freude als unzureichend und langsam voranschreitend kritisiert, werden als „poudre de perlimpinpin“ (S. 818), also Quacksalberei, abgetan.

Daneben werfen die Beiträge Schlaglichter auf in der Historiographie bisher wenig beachtete Ereignisse wie den französischen Krieg gegen die kamerunische Unabhängigkeitsbewegung, die Indienstnahme französischer „expatriés“ während der Wahlen durch konservative Politiker in Frankreich, das Netzwerk des Waffenhandels oder die Rolle französischer Militärs und Geheimdienste in den Morden an Sylvanus Olympio und Thomas Sankara. Gerade zum Thema des kamerunischen Unabhängigkeitskrieges gehört Mitherausgeber Thomas Deltombe selbst zu den Autoren, die diesen trotz seiner Brutalität wenig beachteten Dekolonisierungskrieg erstmals erforschten.3 Insbesondere stellen die Autor:innen und Herausgeber:innen überzeugend dar, dass die Françafrique keineswegs als tot angesehen werden kann, und vor dem Hintergrund der Unterstützung der Regierung Macron für afrikanische Diktatoren wie den Sohn des vor kurzem ermordeten tschadischen Präsidenten Idriss Déby, der Widerstände sozialer Bewegungen gegen alte Figuren der Françafrique wie Blaise Compaoré und des französischen Militäreinsatzes im Sahel überzeugt die These des Bandes, dass Macrons „Afrique-France“-Projekt der Versuch ist, die Françafrique wieder einmal zu aktualisieren, um sie zu erhalten.

Fraglich bleibt, inwieweit der Band für Fachhistoriker:innen nützlich ist. Dafür spricht sein Umfang und auch sein (durchaus aktivistisch gemeinter) Anspruch, in Geschichtsschreibung und (Erinnerungs-)Politik zu intervenieren. Weniger hilfreich ist, dass die einzelnen Kapitel zwar über (wissenschaftliche) Bibliographien verfügen, aber ohne Fußnoten oder Zitatnachweise auskommen. Insgesamt kommt dem Band in jedem Fall das Verdienst zu, eine umfassende Gesamtdarstellung und historische Herleitung der ungleichen Beziehungen zwischen den französischen Regierungen der V. Republik und ihren politischen und wirtschaftlichen Spitzenvertretern mit den afrikanischen Eliten der postkolonialen Zeit abgeliefert zu haben. Zu einzelnen Ereignissen und Netzwerken stellt er zudem nicht nur den neuesten Stand der Forschung bzw. der journalistischen Investigation dar, sondern präsentiert auch genuin neue Erkenntnisse.

Anmerkungen:
1 François-Xavier Verschave, La Françafrique. Le plus long scandale de la République, Paris 1998.
2 Fanny Pigeaud / Ndongo Samba Sylla, L'arme invisible de la Françafrique. Une histoire du franc CFA, Paris 2019.
3 Thomas Deltombe / Manuel Domergue / Jacob Tatsitsa, La guerre du Cameroun. L'invention de la Françafrique 1948–1971, Paris 2016.

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