C. Lessing: Promoting 'English Civility' in Tudor Ireland

Cover
Titel
Promoting 'English Civility' in Tudor Ireland. Ideology and the Rhetoric of Difference


Autor(en)
Lessing, Carla
Reihe
The Formation of Europe (12)
Erschienen
Hannover 2021: Wehrhahn Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Bähr, Institut für Geschichte, Technische Universität Dresden

War Irland die erste Kolonie Englands auf dem Weg zur Weltmacht, gleichsam ein Prototyp angelsächsischen Empire-Buildings? Oder doch eine typische Grenzregion, eine alte Provinz Englands, die in den Sog territorialstaatlicher Zentralisierung Londons geriet wie zuvor Wales und lange Zeit Schottland? Mit dieser Frage befasst sich Carla Lessing in ihrer jüngst erschienenen Dissertation. Ihre These: Die politische Elite Englands behandelte Irland nicht, wie häufig angenommen, als Kolonie, sondern als Teil ihrer traditionellen Einflusssphäre. Es habe sich daher, so Lessing, um einen für das frühneuzeitliche Europa typischen Fall territorialer Integration gehandelt, der mit den späteren überseeischen „fremden“ Siedlungskolonien und Handelsstützpunkten des Britischen Empire nur wenig gemeinsam hatte.

Um das englische Irlandbild zu untersuchen, nimmt Lessing zivilisatorische Überlegenheitsdiskurse aus der Feder englischer Autoren der Tudorzeit (1485–1603) in den Blick, jener Epoche, in der sich der große Nachbar erstmals seit dem hohen Mittelalter anschickte, Irland zu unterwerfen. Civility, so Lessing, sei unter der Herrschaft der Tudors ein Schlüsselbegriff der Durchdringung und Beherrschung einer als fragil und chaotisch empfundenen Insel gewesen. Neu ist, dass Lessing den englischen Überlegenheitsanspruch nicht als politisches Programm oder gar kohärente Ideologie begreift, sondern in einem kulturhistorischen Sinne als Bündel fragmentierter, oft auch widersprüchlicher Diskurse. Mit gutem Grund plädiert sie für ein „case-specific understanding of the concept of English civility“ (S. 18). Dieser Prämisse folgend, entfaltet sie ein Tableau englischen Redens über Zivilisiertheit. In fünf Kapiteln präsentiert sie konzeptuellen Überlegungen (S. 34–48), behandelt die Genese von Civility (S. 49–94), nimmt Legitimationsstrategien in den Blick (S. 95–137) und widmet sich den Ausdrucksformen (S. 138–186) und praktischen Folgen (S. 187–228) einer vielschichtigen Rhetorik der Überlegenheit (der Titel des Buches, der mit dem Begriff der Ideologie operiert, erscheint mir nicht ganz passend, weil er eine geschlossene Weltanschauung suggeriert).

Mit ihrer eingangs skizzierten These folgt Lessing im Wesentlichen unverändert der Forschungsposition ihres Doktorvaters, des im irischen Galway lehrenden Frühneuzeithistorikers Steven Ellis.1 Um es gleich vorwegzunehmen: Mehr Mut zur Eigenständigkeit hätte dem Buch gutgetan, denn die vorschnelle Festlegung auf eine Deutung Irlands als klassische europäische Grenzregion erweist sich im Verlauf der Studie als eher hinderlich, passt sie doch nicht zu recht zu ihren Befunden.

Doch zunächst zu den Verdiensten: Die Arbeit ist gut recherchiert, klar gegliedert, stringent erzählt und bietet tatsächlich neue Einsichten zu einem Thema, zu dem vieles schon bekannt schien. Das liegt hauptsächlich an der innovativen Anlage der Studie. Denn Lessing verknüpft nicht nur Ansätze der Neuen Kulturgeschichte mit der klassischen historischen Irlandforschung. Sie zieht auch eine zweite, kleiner dimensionierte Vergleichsstudie hinzu, nämlich die der entstehenden Großmacht Schweden, die im 16. Jahrhundert administrativ und militärisch in ihr Nachbarland Finnland expandierte. Der Vergleich eignet sich, weil er hervortreten lässt, was am englischen Irlandbild womöglich singulär gewesen sein könnte und was nicht. So zeigt sich etwa, dass die übliche Abgrenzungs- und Überlegenheitsrhetorik im Falle Schwedens teils dadurch abgemildert wurde, dass viele Finnen rechtlich als Schweden galten (S. 131). Aufschlussreich erscheint etwa auch, dass schwedische und englische Autoren (Frauen spielten in der Debatte generell kaum eine Rolle) auf sehr ähnliche historische Analogien zurückgriffen, um den Expansionsdrang ihrer Heimatländer und den behaupteten Status als auserwählte „Nationen“ zu legitimieren (S. 136).

Dabei dient der Vergleichsfall Schweden/Finnland allerdings allein als Kontrastfolie für den irischen Fall, einen echten Vergleich strebt Lessing wohl auch aus arbeitspragmatischen Gründen nicht an. Das ist zwar nachvollziehbar, aber doch schade, denn so bleibt letztlich etwas unscharf, welche Rolle z.B. die doch sehr unterschiedliche Religionsgeschichte beider Länder gespielt haben könnte. Bildeten sich womöglich gerade auf religiös-konfessionellem Gebiet unterschiedliche Überlegenheitserzählungen heraus? Denn während etwa Engländer:innen Irland seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunehmend mit dem in bestimmten Kreisen verhassten Katholizismus assoziierten, gelang es Schweden, Finnland weitgehend in die protestantische Staatskirche zu integrieren (siehe z.B. S. 25, S. 126). Angesichts der in der Frühen Neuzeit traditionell engen Koppelung der Diskurse über religiöse Abweichung und kulturelle Degeneriertheit erscheint mir dies nicht unwichtig.

Dass Lessing den Überlegenheitsanspruch Englands wie erwähnt nicht als statische Ideologie, sondern als kulturelle Konstruktion begreift, ist ein weiterer Pluspunkt der Arbeit: Was Civility bedeutete, erwies sich nämlich erst in der Praxis und konnte daher je nach Lage der Dinge eben auch völlig unterschiedlich ausfallen – mal ging es, wie Lessing nachweist, um radikale Abgrenzung, mal um paternalistische Inklusion, häufig auch um religiöse Differenzen.

Einige Autoren argumentierten etwa, dass die eigenen Vorfahren einst ebenfalls Barbaren gewesen seien und man daher aus leidvoller Erfahrung wisse, wie zivilisatorischer Fortschritt erreicht wird – ein Paternalismus, der in bemerkenswerter Offenheit eine gewisse Identifikation mit den Iren voraussetzte (S. 108). Einmal mehr zeigt sich zudem, dass sich die englische Hofgesellschaft von der Nachbarinsel eine Form von „Fortschritt“ wünschte, die letztlich auf eine mögliche genaue Kopie der eigenen kulturellen Gepflogenheiten und Strukturen hinauslief, ob in Architektur, Landwirtschaft oder materieller Kultur (S. 239f.). Es handelte sich, so Lessing treffend, gleichsam um eine „check list“ (S. 320) behaupteter kultureller Errungenschaften, die das zivilisatorische Ordnungsmodell Englands scheinbar klar definierten. Auch hier war die Praxis jedoch weniger eindeutig als der Diskurs suggeriert, wie Lessing am Beispiel der irischen Rechtskultur zeigt, wo es in der Kontaktzone zwischen einheimischen Brehon Laws und angelsächsischem Common Law zu einer großflächigen Hybridisierung des Rechts kam – wobei gerade diese wechselseitige Beeinflussung der Rechtskulturen allerdings oft mit kultureller Rückständigkeit assoziiert wurde (S. 197–200). In diesen und anderen Fällen erweist sich Lessings kulturhistorischer Zugang als großer Gewinn.

Damit bin ich zugleich aber auch bei meinem größten Kritikpunkt: Englische Überlegenheitsfantasien waren, wie Lessing betont, nicht statisch, sondern situativ – und tatsächlich wurde Irland je nach Kontext immer wieder auch als fremd anmutende Kolonie interpretiert, die es zu unterwerfen und zu befrieden galt, und nicht lediglich, wie von Lessing angenommen, als Grenzregion alten Stils. Gerade aus kulturhistorischer Sicht ist dies auch wenig überraschend. Denn die binäre Frage, ob es sich aus englischer Perspektive bei Irland entweder um eine Kolonie neuen Typs handelte oder um einen Fall sich verdichtender territorialer Integration einer alten Provinz, ist im Grunde falsch gestellt. Die Deutung war ja, wie auch Lessing zurecht argumentiert, stets das Ergebnis widersprüchlicher kultureller Praktiken. Es gehört zu den Eigenheiten der Arbeit, dass die abgelehnte Interpretation Irlands als Kolonie, die von den Akteuren letztlich kulturell (auch) außerhalb Europas verortet wurde, in ihren Befunden klar hervortritt, ohne dass die Verfasserin daraus jedoch echte Konsequenzen zieht (besonders eindrücklich etwa: S. 188–191). War Irland also vielleicht doch in gewisser Hinsicht ein Sonderfall, ein Land, in dem koloniale Wahrnehmungsmuster paradigmatisch erprobt und für die Neue Welt vorbereitet wurden? Der skandinavische Fall scheint das in mancherlei Hinsicht eher zu unterstreichen als infrage zu stellen, wurden indigene Gruppen in Finnland doch offenbar ganz anders behandelt und bewertet als in Irland (vgl. etwa S. 131–133).

Dass beispielsweise der ethnografische Diskurs über das Erscheinungsbild der gälischen Iren wie kaum irgendwo sonst in Europa entlang kolonialer Wahrnehmungsmuster geführt wurde, lässt sich kaum bestreiten, und auch Lessing lässt daran keinen Zweifel (vgl. etwa S. 122). Zudem waren spätestens mit der englischen und später schottischen Landnahme im Rahmen der plantations eben auch, wie später in Nordamerika, neue koloniale Legitimationsmuster erforderlich, eine Tatsache, die sie ebenfalls erwähnt (S. 96). Irland, so könnte man sagen, war eben nicht nur Wales, sondern auch Virginia. Während man Lessings ausgezeichnet recherchierte Befunde also nicht genug würdigen kann, sind an den großen Linien ihrer Interpretation Zweifel angebracht.

Anmerkung:
1 Steven G. Ellis, Defending English Ground. War and Peace in Meath and Northumberland, 1460–1542, Oxford 2015.

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