G. Kazakov: Die Moskauer Strelitzen-Revolte 1682

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Titel
Die Moskauer Strelitzen-Revolte 1682. Diplomatische Spionage, Nachrichtenverkehr und Narrativentransfer zwischen Russland und Europa


Autor(en)
Kazakov, Gleb
Reihe
Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europas (91)
Erschienen
Stuttgart 2021: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
278 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniela Mathuber, Arbeitsbereich Bibliothek und elektronische Forschungsinfrastruktur, Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg

Es ist für uns heute selbstverständlich, über den Krieg in der Ukraine und andere Ereignisse in Osteuropa (beinahe) in Echtzeit informiert zu werden. Wer sich nun fragt, inwieweit in früheren Epochen Nachrichten aus diesem Raum in Zentral- und Westeuropa zirkulierten, findet Antworten in Gleb Kazakovs Dissertation Die Moskauer Strelitzen-Revolte 1682.

Die Strelitzen, deren Regimenter unter Zar Iwan IV. (besser bekannt als „der Schreckliche“) in der Mitte des 16. Jahrhunderts gebildet wurden, waren als Erste im Moskauer Reich mit Musketen bewaffnet.1 Im Laufe des 17. Jahrhunderts verloren sie an Bedeutung, da nunmehr auch die sogenannten Regimenter neuer Formation (polki nowogo stroja) so ausgestattet waren. Ihre Revolte von 1682 brach nach dem Tod von Zar Fjodor Alexejewitsch aus. Den Thron bestieg zunächst Fjodors Halbbruder Peter I. („der Große“), während sein körperlich wie geistig beeinträchtigter Bruder Iwan übergangen wurde. Die Strelitzen waren loyal zur Familie Miloslawski, den Verwandten von Fjodor und Iwan, und ließen sich dazu bewegen, sich zu deren Unterstützung zu erheben. Die tieferen Ursachen dafür waren unter anderem ihre Unzufriedenheit über ausgebliebene Bezahlung, schlechte Behandlung durch Peters Verwandte, die Familie Naryschkin und deren Klienten, oder die Sympathie einiger Strelitzen für den alten Glauben. Als unmittelbares Ergebnis der Erhebung im Mai kam es zur Doppelherrschaft von Iwan und Peter unter der Regentschaft ihrer (Halb-)Schwester Sofia, aber es dauerte ein halbes Jahr, bis die Machtverhältnisse stabilisiert waren.

Gleb Kazakov behandelt indes nicht die Ereignisgeschichte der Revolte von 1682, sondern die Kommunikation darüber. Sein Ziel besteht darin, zu zeigen, dass das Moskauer Reich schon im 17. Jahrhundert Teil des europäischen Kommunikationsraumes war. Anhand der Beispiele Dänemark, Niederlande, Brandenburg-Preußen, Frankreich, Schweden und Polen-Litauen (Rzeczpospolita) analysiert er, wie ausländische Höfe an Nachrichten aus dem bzw. über das Moskauer Reich gelangten, über welche Informationen sie verfügten, wie dieses Wissen das Vorgehen der jeweiligen Entscheidungsträger beeinflusste und in den vormodernen Öffentlichkeiten rezipiert wurde. Operationalisierbar wird die Fragestellung durch den Begriff des Narrativs. Dieser steht für einen in verschiedenen Quellen wiederholt vorkommenden Komplex aus Themen und Motiven, dessen Weitergabe und Entwicklung nachvollzogen werden kann.

Die wesentliche Anregung zu dieser Fragestellung ging von Malte Griesses Forschungen aus, welche schon seit einigen Jahren die transnationale Darstellung frühmoderner Revolten und Aufstände zum Gegenstand haben.2 Die Monografie ist demnach ein Beitrag zur Aufstandsgeschichte und zur Kommunikationsgeschichte, wobei Letztere insofern in die Diplomatiegeschichte hineinreicht, als Berichte von Gesandten bzw. Korrespondenten als Quellen dienen.3 Auch die Geschichte der frühneuzeitlichen Publizistik wird abgedeckt, da diese in Form von Zeitungen, Messrelationen, Flugschriften und Monografien ebenfalls als Quelle dient.

Die Monografie gliedert sich in fünf inhaltlich aufeinander aufbauende Kapitel sowie das Fazit. Die ersten zwei Kapitel beinhalten die Fragestellung, Begriffsklärungen und den historischen Hintergrund. Letzterer umfasst sowohl die Ereignisgeschichte der Revolte, als auch die Gründe für das Interesse der untersuchten Länder an den Geschehnissen in Moskau. Das dritte Kapitel identifiziert die Narrative, deren Varianten in den beiden letzten und umfangreichsten Kapiteln analysiert werden. Im vierten Kapitel wertet Kazakov die Berichte der oben genannten Länder aus, im fünften Kapitel die europäische Publizistik bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts.

Kazakov weist zum einen nach, dass tatsächlich Nachrichten aus dem Moskauer Reich in die genannten Länder gelangten. Zum anderen zeigt er, dass die darauf basierende Publizistik im 18. Jahrhundert wiederum darauf zurückwirkte, wie im Russländischen Reich selbst die Strelitzen-Revolte dargestellt wurde. Die gängige Annahme von der Abgeschlossenheit des Moskauer Reiches trifft also nicht zu; der Austausch war ein wechselseitiger und langfristiger.

Die Dissertation besitzt eine Reihe von Vorzügen. Hervorzuheben ist etwa die breite Quellenbasis. Kazakov arbeitete in zwölf Archiven und Bibliotheken in sieben Ländern und berücksichtigte darüber hinaus eine große Anzahl publizierter Quellen. Auch die Umsetzung des Korpus in die Darstellung ist gelungen. Die Kapitel bauen nachvollziehbar aufeinander auf; der Text ist nicht zuletzt dank der klaren Sprache gut lesbar. Gleichwohl hätte die Druckfassung ein gründlicheres Lektorat vertragen.

Hinterfragen lässt sich allerdings, inwieweit der Autor in der Lage ist, seine Ankündigung wahrzumachen, die Umsetzung der Berichte in eine politische Agenda nachzuzeichnen. Den Einfluss der unterschiedlichen, im Moskauer Reich entstandenen Narrative über die Strelitzen-Revolte auf ausländische Berichte und Publizistik nachzuverfolgen, ist gut machbar und unproblematisch. Entweder sind die Übereinstimmungen in den Texten groß oder es liegen direkte Informationen über Nachahmung vor. Mit dem Einfluss eben jener Berichte auf das politische Handeln zentral- und westeuropäischer Höfe sieht es schon anders aus.

Die Narrative über die Revolte, die nach Zentral- und Westeuropa gelangten, unterschieden sich vor allem darin, wer als Anstifter:in hinter der Revolte vermutet wurde. Genannt wurde etwa Fürst Iwan Chowanski, der nach der Erhebung die Strelitzen protegiert hatte, aber auch Sofia, die Schwester der Zaren. Zudem waren verschiedene Spekulationen über das Schicksal der Herrscher in Umlauf. Es hieß, Fjodor sei vergiftet worden, oder Iwan sei fälschlicherweise für tot gehalten worden, habe sich dann jedoch seinen Untertanen gezeigt. Allerdings ist nicht erkennbar, wie diese Varianten die politische Entscheidungsfindung in den Hauptstädten der untersuchten Länder beeinflussten.

Für die westeuropäischen Zeitgenossen waren zwei Punkte essenziell: dass es in Moskau einen Machtwechsel gegeben hatte und welche Auswirkungen er auf die europäische Bündnisarchitektur und das Gesandtschaftswesen haben würde. Jeder Machtwechsel wäre eine Gelegenheit gewesen, Gesandtschaften zu entsenden und, je nach Akteur, sich zu bemühen, Bündnisse entweder zu bewahren oder neu zu schmieden. Das war es auch, was geschah. Nur der König von Polen ging über dieses Minimalprogramm hinaus, als er versuchte, die linksufrige Ukraine zum Abfall vom Moskauer Reich zu bewegen und propolnische Sympathien in der Grenzregion rund um Smolensk auszunutzen. Aber auch hier lässt sich argumentieren, dass dafür nicht so sehr die Details des Geschehens ausschlaggebend waren als das grundsätzliche Wissen um eine politische Instabilität im Moskauer Reich.

Es liegt nicht an der Arbeitsweise oder Fragestellung Gleb Kazakovs, dass sich diese Ankündigung nicht erfüllt. Die intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Quellenkorpus verleitet leicht dazu, ihm mehr Aussagekraft für einen Teilaspekt zuzuschreiben, als er bei näherer Betrachtung besitzt. Bei Kazakov ist das der Fall, wenn er annimmt, dass Unterschiede in den narrativen Details der Berichte für die einzelnen Länder auch Unterschiede im politischen Handeln bedingten. Seine Analyse vermittelt hingegen eher den Eindruck, dass äußere Umstände wie die Vorgeschichte der Beziehungen zwischen dem jeweiligen Land und dem Moskauer Reich und/oder die geografische Entfernung ausschlaggebend waren. Davon abgesehen hielten sich die Unterschiede in Grenzen. Diese Anmerkungen sollen aber nicht den Gesamteindruck einer gelungenen und lesenswerten Dissertation schmälern. Sie kann sowohl von Spezialist:innen für die Geschichte Osteuropas mit Gewinn gelesen werden, als auch von allen, die sich allgemein für transnationale Verflechtungen, frühneuzeitliche Revolten oder Kommunikationsgeschichte interessieren.

Anmerkungen:
1 Die Bezeichnung Strelitze ist von russ. streljat᾽ ῾schießen᾽ abgeleitet.
2 Für Beispiele siehe Malte Griesse, Aufstandsprävention in der Frühen Neuzeit. Landübergreifende Wahrnehmung von Revolten und Verrechtlichungsprozesse, in: De Benedictis, Angela und Härter, Karl (Hrsg.), Revolten und politische Verbrechen zwischen dem 12. und dem 19. Jahrhundert. Rechtliche Reaktionen und juristisch-politische Diskurse (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 285), Frankfurt am Main 2013, S. 178–186; ders., From Mutual Observation to Propaganda War. Premodern Revolts in their Transnational Representations, Bielefeld 2014; ders., Kosakische Aufstände und ihre Anführer. Heroisierung, Dämonisierung und Tabuisierung der Erinnerung (= Jahrbuch für Geschichte Osteuropas 65,1 (2017)).
3 Beispielhaft: Stefan Plaggenborg, Pravda. Gerechtigkeit, Ordnung und sakrale Herrschaft in Altrussland, Paderborn 2018, S. 283–301; Rudolf Schögl, Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit, Konstanz 2014; Christian Steppan, Akteure am fremden Hof. Politische Kommunikation und Repräsentation kaiserlicher Gesandter im Jahrzehnt des Wandels am russischen Hof (1720–1730) (Schriften zur politischen Kommunikation 22), Göttingen 2016.

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