Ein wesentlicher Aspekt bei der Beschreibung historischer Phänomene in Österreich nach 1918 ist ein Begriff von Identität, der sich aus dem 18. Jahrhundert ableitet und im 19. Jahrhundert seine Schärfung erhielt: Da Österreich ein essentieller Teil des Heiligen Römischen Reiches war, ist dem österreichischen Identitätsbegriff eine Nähe zur deutschen Geschichtstradition inhärent, gleichzeitig aber wurde in intellektuellen Diskursen immer auch versucht Österreich als Bestandteil der mitteleuropäischen Region gerecht zu werden, indem man „das Österreichische“ in seiner politischen, kulturellen und literarischen Eigenart definierte. [1] Daraus erwuchs eine Mehrfachidentität, die auch nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie im kleinen (Rest)-Staat erhalten blieb, und die beispielsweise Robert Musil in seinem „Mann ohne Eigenschaften“ als die „neun Charaktere“ des Österreichers beschrieb.
Wenn nun Robert Pyrah, Junior Research Fellow am St Antony’s College, Oxford, in seiner Arbeit zu „Burgtheater and Austrian Identity“ von der „Unschärfe regionaler oder nationaler Identität“ (S. 11) spricht, so hat er wohl das Phänomen richtig beobachtet, die grundlegenden Ursachen dafür jedoch nicht mitreflektiert. So sieht er, dass die kulturellen Kommentatoren im Österreich der späten 20er-Jahre, das Burgtheater als Symbol, Ausdruck und sogar Garant einer bürgerlichen nationalen Kultur in Österreich anpreisen, verweist jedoch auf Doppeldeutigkeiten, und stellt fest, dass das Ausmaß dieser nationalen Kultur, ob sie nun als österreichisch, oder als lokale großdeutsche Variante zu verstehen sei, den Interpretatoren überlassen blieb (S. 11). Diese Offenheit und Mehrdeutigkeit der Interpretation spiegelt aber jene pluralistische Verfasstheit des Österreichischen wieder, die man nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie auch als Mangel an österreichischem Gemeinsinn betonte, den es mit Hilfe einer imaginierten Realität in den Köpfen der Menschen auszugleichen hieß. Spuren dieser imaginierten Realität geht der Autor in den Themenkomplexen Heimat, Katholizismus und Historiendrama nach.
In zwei Fallstudien untersucht Robert Pyrah kulturpolitische Implikationen anhand des Heimatbegriffes, den er zwischen der Zugehörigkeit zur deutschen Nation und zum österreichischen Staat angesiedelt findet. Eine Zweideutigkeit, die sich nach 1938 leicht als „lokale Manifestationen“ eines größeren deutschen Zusammenhanges umformulieren ließen, wie er an den Autoren Max Mell und Karl Schönherr zeigt. Die Aufführungen des Tiroler Heimatdichters Schönherr – Grillparzer- und Bauernfeldpreisträger und meistgespielter Autors in Österreich im Zeitraum von 1918 bis 1938 – deckten das breite damalige Spektrum der ideologischen und politischen Positionen ab, während der Autor selbst „unpolitisch“ bleiben wollte. Pyrah sieht in der Rezeption Schönherrs den Versuch, die österreichische Kultur durch die Rekonstruktion lokaler Theatertraditionen neu zu definieren (S. 36). Schönherr, der in Wien lebte, verstand den Heimatbegriff in seinen Dramen als ein aus der Distanz entwickeltes literarisches Konstrukt, jenseits der „Blut und Boden“-Zuschreibungen, von denen er sich abgrenzte. Schönherrs Weg vom Stachel im Fleisch der katholischen Kirche zum offiziell sanktionierten Beförderer katholischer Werte, beinhaltet gleichzeitig – so Pyrah – ein mit NS-Ideologien kompatibles rassistisches Identitätskonzept (S. 45). Die Ablehnung von Schönherrs Werk durch die katholische Kirche verunmöglichte 1919 eine Aufführung von „Glaube und Heimat“ am Burgtheater, sein späteres Drama „Passionsspiel“ wurde hingegen in einem Schreiben von Kardinal Innitzer am 15. Juli 1933 zur Aufführung empfohlen, was keineswegs verwundert, steht es doch in der Tradition der mittelalterlichen Passionsspiele, wie sie vor allem in Tirol unter breiter Beteiligung der Bevölkerung Jahrhunderte lang zur Aufführung kamen. Nicht übersehen werden sollte dabei auch, dass die Kompatibilität mit der NS-Ideologie durch die Charakterisierung von Juden mit rassistisch antisemitischen Attributen bereits in der mittelalterlichen Traditionsüberlieferung begründet lag. [2] Allerdings fungiert Konfession zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als theologischer Marker, Religion wird vielmehr als Index kultureller und rassischer Unterschiede (S. 46) eingesetzt und der Heimat-Begriff zum Instrument der Exklusion transformiert. Für Pyrah hat sich das Theater durch Übernahme der kulturellen katholischen Position dem politischen Mainstream angeschlossen.
Neben dem Heimatbegriff spielte der Katholizismus sowohl als vereinende Kraft auf kulturellem Gebiet als auch als kultureller Referenzpunkt aller politischen Überzeugungen, als Teil eines größeren österreichischen intellektuellen Erbes (S. 63), in der Zwischenkriegszeit eine zentrale Rolle. Wurde anfangs das katholische Drama von allen politischen Gruppierungen als Markstein lokaler Kultur und Tradition gefördert, so erzeugte in den späten zwanziger Jahren ein politischer und ideologischer Katholizismus ein konservatives kulturelles Klima. Als Schlüsselfiguren bezeichnet Pyrah dabei Anton Wildgans, Franz Werfel und Max Mell, aber auch Hugo von Hofmannsthal und Richard Kralik. Bei der Untersuchung der Aufführungen der „katholischen“ Dramen der „jüdischen“ Schriftsteller Werfel (Paulus unter den Juden) und Beer-Hofmann (Jaákobs Traum), aber auch bei den dramaturgischen Aktivitäten Richard Beer-Hofmanns verunmöglichen ihre Mehrfachidentitäten eindeutige Zuordnungen und verweisen auf die Diskrepanz zwischen einem kulturkonservativen Katholizismus parteipolitischen Zuschnitts und einem weiteren Verständnis von Katholizismus als kultureller Kategorie (S. 95).
Mit Hilfe der historischen Dramen, die sich beim Publikum aller großen Wiener Theater im Aufführungszeitraum von 1929-1933 gleichermaßen großer Beliebtheit erfreuten, wurden „spezifische Botschaften über österreichische Identität durch Habsburger Geschichte“ kommuniziert (S. 122), die angereichert durch die politischen Aspekte der Gegenwart „zur Konstruktion oder Projektion einer spezifisch österreichischen kulturellen Identität beitrugen“ (S. 123). Als „Österreich-Ideologie“ wurden sie beim breiten Publikum jedoch erst nach 1945 aufgegriffen.
Manches Missverständnis in Pyrahs Ausführungen mag durch die „großzügige“ Handhabung von Daten- und Ortsangaben entstanden sein. So betont der Autor bei der Untersuchung der Strichfassungen des Schönherr-Klassikers „Erde“, der am Burgtheater von 1908-1920 und in einer Neueinstudierung 1926-1927 gespielt wurde, jene den biologischen Determinismus eliminierenden Striche der Einrichtung von 1908. Diese Strichfassung sagt jedoch weit mehr über die gesellschaftliche Verfasstheit im Jahr des 60-jährigen Regierungsjubiläums Kaiser Franz Josephs aus, als über die Untersuchungsperiode der Zwischenkriegszeit; Änderungen für die Neueinstudierung 1926 wurden nicht überprüft. Auch die Uraufführungskritiken von Werfels „Juarez und Maximilian“ 1925 im Theater in der Josefstadt werden einfach auf die vier Jahre spätere Inszenierung am Burgtheater extrapoliert. Über das „Burgtheater and Austrian Identity“ lassen sich somit keine eindeutigen Schlüsse ziehen, zum im Untertitel formulierten Anspruch der Darstellung von „Theatre and Cultural Politics in Vienna“ hingegen liefert der Autor interessante Anhaltspunkte.
Beim Versuch die Verbindung zwischen Theater und der Konstruktion nationaler Identität in Wien der Jahre 1918–1938 herauszuarbeiten, kann Pyrah anhand der Neubewertung der Arbeit David Josef Bachs, des langjährigen Kritikers der „Arbeiter-Zeitung“ und Führers der Kulturorganisation der sozialdemokratischen Partei, auch auf kulturpolitische Setzungen außerhalb der parteipolitischen Zuordnungen verweisen. Die praktische und symbolische Funktion der „Wiener Kunststellen“ wird in Hinsicht auf ihre Zusammenarbeit mit den einzelnen Theaterdirektionen und ihre Bedeutung für das Theaterpublikum der Zwischenkriegszeit dargestellt. Die eingehende Untersuchung der von den Kunststellen herausgegebenen Zeitschriften „Der Kunstgarten“ und „Kunst und Volk“ stellt die oppositionellen Positionen dieser Jahre heraus: Hier katholisches Kulturprogramm mit dem Barock als Basis einer österreichischen Kultur, dort ein Österreich-Verständnis als Teil einer größeren deutschen Kultur – beide peilten das Theater als Medium der Vermittlung an. Mehrfach kann der Autor aufzeigen, dass, obwohl die großen Parteien der Linken und Rechten in Österreich nach 1918 vermehrt ideologischen Einfluss auf das Theater zu nehmen suchten, die in anderen Bereichen scharf formulierten ideologischen Polaritäten nicht eins zu eins auf die Kultur übertragen wurden. Kultur und Theater in Österreich wurden als das geeignete Mittel erkannt, ein „neues österreichisches Gemeinschaftsgefühl lebendig und wirksam zu machen“ (S. 26). Kunst und Theater dienten dabei nicht nur der Aussöhnung Wiens mit den zum Separatismus neigenden (Bundes)Ländern durch die „Kunst- und Spielfahrten“ und „Wanderbühne“-Vorstellungen; ausgewählte Theatervorstellungen werden auch durch die Vermittlung der Kunststellen für alle Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht; im Sinne des Volksbildungsgedankens standen auf der Liste der durch die Kunststellen gewählten Aufführungen neben Volksstücken „in einem höheren Sinn“ auch Klassiker (S. 21), was zeigt, dass eine stereotype Unterscheidung in Arbeiterklassen- und Elite-Kultur ins Leere greift. Gleichermaßen ist die Betonung der „kulturellen Flaggschiffe“ Burgtheater und Staatsoper als Medien der nationalen Selbst-Repräsentation nur als Außenrepräsentation aufrecht zu erhalten, nach innen galten und gelten sie nicht nur als Orte der Unterhaltung, sondern, anders als im angelsächsischen Kontext, als Bildungsinstitutionen.
Ein grundlegendes Missverständnis entsteht dadurch, dass der Autor den Ausdruck „Volksbildung“ als „national education“ übersetzt und auch interpretiert. „Volksbildung“ leitet sich aus dem Kontext der deutschen Aufklärung des 18. Jahrhunderts ab. Die „Gründung“ des Burgtheaters durch Joseph II. als „deutsches Nationaltheater“ (1776) und die weitgehende Reduktion der Aufführungssprache auf Deutsch ist nicht einer nationalistischen Enge geschuldet, sondern sollte vielmehr das bislang aristokratische Theater dem „gemeinen Volk“ und seiner Sprache öffnen. Joseph II. stellte 1776 sein Theater in einen bildungspolitischen Zusammenhang, indem er erstmals ein Repertoire der besten Stücke zusammenzustellen suchte, das auch die Bürger, das Volk, täglich besuchen konnten, mit dem erklärten Ziel der Bildung und Aufklärung der Menschen. „Volksbildung“ ist in diesem Sinne als Aufklärungsprogramm jenseits der nationalen Ideologien zu verstehen, das seine weit reichende Verwirklichung in den folgenden Jahrhunderten fand.
Die identitätsstiftenden Narrative liefen in der Zwischenkriegszeit neben- und ineinander. Dies muss bei der Beschäftigung mit österreichischer Identität stets mitreflektiert werden, um eine „allem anhaftende Flexibilität und Doppeldeutigkeit der Aussagen und Programme“ (S. 104) als Aufgabe und Herausforderung verstehen und einordnen zu können. So ist Pyrahs Arbeit reich an Quellen und interessanten Diskussionen, bleibt jedoch bei der Positionierung des Burgtheaters im österreichischen Identitätsnetz der Zwischenkriegszeit gefangen. Die Gliederung in abgeschlossene Fallstudien ermöglicht jedoch auch eine gewinnbringende Teillektüre. Der Band enthält einen umfangreichen bibliographischen Apparat, der neben englischsprachiger Sekundärliteratur auch die deutschsprachige einbezieht. Ein Personen, Sach- und Stücktitel umfassender Index lädt auch zum querlesen ein.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Puchalski, Lucjan, Imaginärer Name Österreich. Der literarische Österreich-Begriff an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, Wien u.a. 2000.
[2] Wenzel, Edith, „Do wurden die Judden alle geschant“. Rolle und Funktion der Juden im spätmittelalterlichen Spielen, München 1992.