Cover
Titel
Homers Heimat. Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe


Autor(en)
Schrott, Raoul
Erschienen
München 2008: Carl Hanser Verlag
Anzahl Seiten
426 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Charlotte Schubert, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Entdeckungs- und Enthüllungsgeschichten, die kriminalistisch aufklärend etablierte Ansichten umstürzen, sind beliebt, machen Schlagzeilen in Journalen und Feuilletons, sorgen für Auflagen, sind aber doch öfter falsch als richtig. Man muss nicht gleich an die spektakuläre Aktion der angeblichen Hitler-Tagebücher denken, aber es scheint doch ein dezenter Hinweis an gewisse Feuilletonisten angebracht, fachwissenschaftliche Diskussionen nicht mit falschen Akzenten zu versetzen, wenn man Kampagnen wie die derzeit zu beobachtende um das vorliegende Buch lostritt. Denn der wissenschaftliche Diskurs, den sich der Autor im Vorwort seines Buches wünscht (S. 20), zu dem er stringente Argumente beitragen möchte, die auf „den neuesten Erkenntnissen der verschiedenen Disziplinen“ beruhen (S.19) wird nicht über die Schlagzeilen der Feuilletons geführt (z.B. FAZ vom 22.12. 2007, Z 1: „Homers Geheimnis ist gelüftet“, a.a.O. Z 3: „Homer hat endlich ein Zuhause – in der Türkei“ oder FAZ vom 30.1.2008, S. 38: „Homer gehört nicht mehr der Gräzistik!“), vielmehr können durch diese ein Buch und sein Autor in ein unverdientes Zwielicht gerückt werden.1

Raoul Schrott, ein vielfach ausgezeichneter Schriftsteller und Dichter, hat als Komparatist, dezidiert nicht als Altertumswissenschaftler, ein seine im Auftrag des Hessischen Rundfunks angefertigte Neuübersetzung der Ilias begleitendes Buch geschrieben. Ursprünglich sollte es nichts weiter als ein Vorwort sein (so der Autor in FAZ vom 22.12.2007, Z 1), doch seine Arbeit am Text selbst sowie die ihm als Übernahme erscheinenden Parallelen zum Gilgamesch und anderen altorientalischen Epen sowie weiterer semitischer und hethitisch-hurritischer Themen und Motive haben ihn schließlich dazu geführt, die sich ihm so schlüssig darstellende Hypothese eines assyrischen Schreibers namens Homer, der in Kilikien die Ilias – über die Odyssee schweigt er sich merkwürdigerweise ganz aus – verfasst habe, als Buch zu veröffentlichen.

Das Buch ist in sieben Großkapitel untergliedert: Im ersten und zweiten Kapitel („Anfänge“, „Der Osten“) wird – unterlegt von Kritik an dem „gräko- oder eurozentristischen Blickwinkel“ – vor allem die kilikische These entfaltet: Dass Homer die Troas kannte, dort auch sein Epos lokalisierte, wird gar nicht weiter bestritten oder ausgeführt, jedoch rekonstruiert Schrott Elemente der geografischen und zeitlichen Verschiebung, für die er als Parallele auf Gottfried von Straßburgs Tristan verweist: in Cornwall angesiedelt mit Burgen in deutschen Lindenwäldern, alpinem Panorama etc., ein alter, keltischer Stoff, in Frankreich vorgeformt und von Gottfried in sein eigenes geografisches Umfeld projiziert (S. 62). Diese Art von translatio nimmt Schrott auch in der Ilias an mit der bereits genannten, geografischen Lebenswirklichkeit in Kilikien und epischen Motiven aus der Bronzezeit.

In den weiteren Ausführungen zu dieser Lebenswirklichkeit spannt er ein weites Netz von sprach- und motivgeschichtlichen Bezügen auf (in den Kapiteln 3–7: „Datierung und Text“ (hier schließt er sich der von West vorgeschlagenen Spätdatierung der Ilias auf die Mitte des 7. Jahrhunderts v.Chr. an), „Assimilationen“, „Homers Heimat“, „Homers Zeitgeschichte“, „Der Westen“), die bisher von den Homer-Forschern mit Reserviertheit, wenn nicht sogar äußerst ablehnend aufgenommen worden sind. Hierzu möge ein Beispiel reichen: Der Ortsname Thebe (305ff.), Andromaches Heimat, ist in Kilikien belegt, daher sei dies einer der Belege dafür, dass die Lebenswirklichkeit Homers dort lag. Umgekehrt argumentiert er für die Region ‚Kilikien’ selbst: Der Name des Gebietes begegnet nicht in der Ilias, dies sei daher eine verräterische ‚Aussparung’ und auf der Basis seines ‚kilikischen Thebe’ für ihn ein ‚verstecktes Motiv’ (S. 307). Er führt dies noch weiter, da er natürlich weiß, dass Homer das böotische Thebe kannte (IV 376–81. 404–9) und auch das ägyptische (IX 382–4). Thebe werde damit zu einem symbolischen Ort mit realer und epischer Realität.

Allerdings berücksichtigt Schrott hierbei nicht, dass der Ortsname ‚Thebe’ ein griechischer Wander-Ortsname ist, der sowohl in Euböa, Achaia, der Troas, in Pampylien, Syrien etc. begegnet. Insgesamt fügt Schrott derart weitreichende Spekulationen über Orts- und Personennamen zusammen, die je im Einzelnen unter den Altertumswissenschaftlern hoch umstritten sind (z.B. wie die Frage, ob die Danuna die griechischen Danaer sind, die Schrott dann in Karatepe lokalisiert, oder ob es sich bei dieser Erwähnung der Danuna nicht vielmehr um eine Bezeichnung der Peloponnes gehandelt hat), dass man angesichts dieses Hypothesenbaus nur staunen kann. Über die von ihm – in dem allerdings als ein „völlig spekulatives Homer-Portrait“ (S. 167ff.) bezeichneten Kapitel – hervorgehobenen Persönlichkeitsmerkmale Homers wie Prüderie oder gespaltene Identität, die typisch für Kinder aus Migrantenfamilien seien, kann man sich nur wundern.

Die vielen Bezüge der Ilias auf akkadische Epen, hethitische Mythologie, das assyrische Reich etc. sind bereits ausführlich von West und Burkert diskutiert worden. Schrott baut hierauf auf, geht jedoch noch entscheidend weiter: In den kilikischen Revolten gegen die Assyrer (715 v.Chr., 705–696 v.Chr., 676 v.Chr.) sieht er den zeithistorischen Hintergrund, die realhistorische Tiefe, die bereits im Titel betonten ‚realen Hintergründe’ etc., die Homer inspiriert haben. An diesem Punkt wird sehr deutlich, wo das eigentliche Problem dieser Darstellung liegt: Schrott trennt nicht deutlich genug zwischen seinem eigenen methodischen Vorgehen und demjenigen, das er für Homer annimmt. Er spielt sehr geschickt mit methodischen Begrifflichkeiten von Verschiebung, Projektion und Fiktion. Fiktionalisierung ist in geschichtlicher Erfahrung immer schon vorhanden, weil das historische Ereignis erst durch Wahrnehmung und Rekonstruktion, aber auch durch Darstellung und Deutung konstituiert wird. Die Fiktion macht die Anschauungsformen der geschichtlichen Erfahrung erst erfahrbar – aber lässt sich diese an der Historiografie gewonnene Erkenntnis auf die Dichtung übertragen? Dass ausgerechnet ein Dichter diesen Unterschied so wenig berücksichtigt, ist aus der Sicht einer Historikerin erstaunlich.

Schließlich sei abschließend noch auf einen für Historiker ganz wesentlichen Punkt hingewiesen. Die grundlegende Frage nach der Entstehung des Politischen bei den Griechen, das ihre Besonderheit ausmacht und worüber seit einiger Zeit unter dem Schlagwort Orient versus Okzident (oder in einer anderen Formulierung als Titel des von Dietrich Papenfuß und Volker Michael Strocka herausgegebenen Bandes „Gab es das Griechische Wunder?“) wird in der These von Raoul Schrott natürlich auch angesprochen: In einem mit „Die politischen Modelle des Epos“ überschriebenen Abschnitt (S. 169–174) charakterisiert er die Ilias als Projektionsfläche, die im Anschluss unterschiedliche Formen der Identitätsbildung erlaubt habe. Zu der Frage, wo die Ilias in diesem Prozess der Identitätsbildung der Griechen ihren Platz habe, gibt er eine negative Antwort („Mangel an eigenem gesellschaftlichen Ethos“, S. 173). Das mag sich daraus erklären, dass er das Besondere der Griechen durchaus sieht, sich aber durch seine extreme Fokussierung auf die Prozesse der Übernahme und Orientierung an orientalischen Vorbildern jeden argumentativen Freiraum selbst beschnitten hat.

Insgesamt ist das Buch ein interessantes, anregendes Werk, das aber – wenn man die plakative Überformung durch die Schlagzeilen des Feuilletons beiseite legt – alles andere als ein Enthüllungsbuch ist. Seine Hauptthese vom assyrischen Schreiberling namens Homer, der in Kilikien seine geografischen und zeitgeschichtlichen Anregungen für die Ilias gefunden habe, ist in höchstem Maße spekulativ. Aber durch die komparatistische Herangehensweise sind doch weitere Anregungen für eine bereits jetzt vielfältig angelegte Diskussion zu erwarten.

Anmerkungen:
1 Man könnte vermuten, dass hier Medienwirkung und Verkauf zusammengedacht worden sind. Auch stören einige, angesichts der Vermutung einer gründlichen Lektorierung zu viele, Druckfehler.

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