P. Dover: The Information Revolution in Early Modern Europe

Cover
Titel
The Information Revolution in Early Modern Europe.


Autor(en)
Dover, Paul M.
Reihe
New Approaches to European History
Erschienen
Anzahl Seiten
XI, 342 S.
Preis
$ 84.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Bellingradt, Institut für Buchwissenschaft, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Die europäische Frühe Neuzeit wird gerne als eine vielschichtige Transformationsphase gekennzeichnet, in der auf vielen Ebenen Veränderungen stattfanden. Um einige dieser Prozesse besser kenntlich zu machen, hat sich in der Historiografie eine Reihe von (nicht unumstrittenen) Revolutions-Begriffen etabliert. Ein exemplarischer Blick in die Wissens- und Kommunikationsgeschichte zum Europa zwischen dem frühen 14. und späten 18. Jahrhundert offenbart, wie gängig revolutionäre Narrative und Bezeichnungen der ausgemachten Veränderungen in der Geschichtsschreibung sind: die Zunahme an Textzeugnissen mit Neuigkeitsanspruch und verstetigten Post- und Kurierdiensten mit Neuigkeiten-Transport heisst „news revolution“ oder auch „communications revolutions“; der Ausbau der territorialen und lokalen Verwaltungen war eine „paper revolution“; die Nutzung von Drucktechniken wird als „printing revolution“ diskutiert; und der beschleunigte Wissensaustausch per Brief von Gelehrten ist zugleich Teil einer „science revolution“ und einer „epistolary revolution“. Paul M. Dover fokussiert in seinem neuen Buch auf die „Information Revolution“ der Epoche. Sein Ansatz ist, dass er die bisher genannten „revolutionären“ Denklinien und historiografischen Forschungsströmungen miteinander enger verbindet und argumentativ verflechtet. Herausgekommen ist ein Panorama-Blick auf materielle Papierverfügbarkeit und menschliche Papiernutzungen. In nuce präsentiert Dover eine materialorientierte Geschichte der zunehmenden Praktiken der Informationssammlung, -aufbereitung und -benutzung sowie deren kulturellen Effekte während der Epoche Frühe Neuzeit.

In insgesamt acht Kapiteln breitet Dover seine explizit als „Synthese“ ausgewiesene Perspektive aus. Gerahmt ist das Buch von einer Einführung mit dem Titel „Worlds of Paper“ und einem Abschlusskapitel, in dem das Thema vergleichend und abwägend von Früher Neuzeit bis Gegenwart beleuchtet wird („Conclusion: Information Revolutions, Past and Present“). Bereits in den Titelvokabeln der Einführung ist angedeutet, dass das Artefakt Papier und seine neuen europäischen Nutzungswelten seit circa 1400 – u.a. in Wissenschaft, Alltag, Verwaltung, Handel, Politik, Kommunikation – im Mittelpunkt einer Erkundungstour zum epochalen Informationsmanagements stehen. Auf den ersten Seiten der Einführung wird es noch deutlicher, wenn der Autor eine gegenseitige Bedingtheit – umschrieben als „coevolution“ (S. 4) – von Informationen und Papier feststellt. Dovers variiert wiederkehrende Argumentation lautet, dass die Zunahme an Informationen während der Epoche an die kulturelle Nutzung des Artefakts Papier gekoppelt werden müsse. Denn: „Information begat more information and paper more paper“ (S. 2). Nun ist diese These, nachdem Europas papierbasierte Schriftlichkeit- und Wissenspraktiken das kulturelle, soziale und politische Werden und Wirken von Europas Gesellschaften prägen und bedingen, nicht völlig neu. Sie wird aber in dem Buch auf die soziale Bedeutung von Papier für gesamtgesellschaftliche Veränderungen gekonnt zugespitzt. Mit Blick auf die sozialen Lebensräume und -bedingungen während der Epoche ist sich Dover sicher: „paper … actively shaped that society“ (S. 4).

Nachdem diese grundlegenden Blick- und Denkrichtungen artikuliert sind, widmen sich die restlichen einführenden Worte des Kapitels „Worlds of Paper“ den thematischen Verbindungslinien und Anbindungen an die jeweils eigenen Forschungsstränge, die danach in den Folgekapiteln vertiefend angegangen werden. Die Erforschung der pragmatischen Schriftlichkeit in Verwaltungen und die damit verbundenen neuen Archivpraktiken finden hier ebenso Erwähnung wie die jüngere Papiergeschichte zur Epoche, die Zunahme der kulturellen Nutzung von Drucktechniken in Europa, die Schreibelust von Gelehrten und die Korrespondenztätigkeit sowie Buchführung von Händlern und Kaufleuten, und nicht zuletzt die entfachte Publikationsvielfalt der Epoche. All diese historiografisch kenntlich gemachten und durchleuchteten Veränderungsprozesse lassen sich als veritable „Papierfluten“ der Epoche beschreiben – ein Zitat von Arndt Brendecke, der an dieser Stelle explizit erwähnt wird. Auch sonst dienen bei der Zusammenstellung der einschlägigen Forschungen als Stichwortgeber und Belegreferenzen die etablierten und wohlbekannten Expertinnen und Experten: von Ann Blairs ordnender „info lust“ geht es beispielsweise über Roger Chartiers Schriftlichkeitsideen, Markus Friedrichs Archivperspektiven, Robert Darntons „information hunting“ bis zu Andrew Pettegrees Druckzeitalter-Interpretationen. Jede dieser historiografischen Großbaustellen kommentiert Dover und betont stets den materiellen Papier-Aspekt des Themas: als „material embodiment“ der angesprochenen Veränderungen des Informationsmanagement ist Papier das „essential item of hardware“ für ein Verständnis der Epoche (S. 5). Die von Dover beschriebene europäische Frühe Neuzeit war ein informationenverarbeitendes „paper age“, in der Papierverfügbarkeit bestimmte, ob Briefe geschrieben wurden, ob Verwaltungsakten angelegt werden konnten, und ob überhaupt über gedruckte Buchvarianten nachgedacht wurde. Sobald unbeschriebenes oder unbedrucktes Papier in Europa auf Medienpraktiken der schrift- und bildorientierten Nutzung und Äußerung traf, entstanden für Dover Artefakte, die er „paper information“ (S. 21) nennt. In summa formen die vielen neuartigen und sich verstetigenden Kommunikationsakte ein neues „paper age“ aus riesigen Papierbergen, die wiederum zu neuen Instrumenten und Praktiken der kulturellen Beherrschung jener Papiermassen motivierten. Im letzten Kapitel des Buches kommt der Autor zu diesem Punkt zurück und erklärt das „paper age“ auch in der digitalen Gegenwart, wenngleich mit aktualisierten Kommunikationspraktiken, für immer noch existent. Kulturelle Papiernutzungen sind für Dover auch in Zukunft noch prägend.

Es gehört zu den Stärken des Buches, innovative und relevante Forschungsströmungen zur Frühen Neuzeit enger argumentativ zu verflechten und anschlussfähig u.a. für medien- und materialorientierte Ansätze von Geschichtsschreibung zu öffnen. Die gewählte Synthese-Form, die einen angenehmen Lesefluss befördert, hat jedoch nicht nur Vorteile. Aus den einzelnen Teilbereichen, etwa der jüngeren Papiergeschichte oder der Verwaltungsgeschichte, dürfte Widerspruch kommen, denn das Buch lebt von Vereinfachungen und ist keinesfalls auf Vollständigkeit ausgerichtet. Dass eine Synthese nicht alle Themenwelten eines gewählten Bereiches abzudecken vermag und auch nicht die jeweilige Literatur vollständig zitiert, ist klar. Jedoch ist es für interessierte Augen misslich, wenn selbst die Weiterlese-Hinweise fehlen und wichtige, manchmal grundlegende Literaturausweisungen ausbleiben. Manchmal erklären sich solche blind spots damit, dass ein Buchmanuskript irgendwann auch einmal abgeschlossen sein muss. Dass zur Argumentation passende Bücher aus den Jahren direkt vor der Drucklegung nicht mehr wirklich inhaltlichen Niederschlag finden, ist ebenfalls verständlich. Im konkreten Fall hätte die Einbindung von aktuellen Beiträgen aus der Papierhistoriografie und Archivhistoriografie sicherlich bereichernd und nuancierend auf den Argumentationsgang gewirkt, wie etwa von Orietta da Rold, Eric Ketelaar oder dem Sammelband „The Paper Trade in Early Modern Europe“.1

Das Fehlen und Nichterwähnen von grundlegenden Beiträgen und Perspektiven kann in fast allen Kapiteln für Irritation sorgen. Exemplarisch für viele offene Flanken des Buches: Lassen sich die papiernen Nachrichtenbriefe seit etwa 1500 tatsächlich ohne Hinweis auf die „Fugger-Zeitungen“ (Oswald Bauer) würdigen oder ohne die Entstehung der Berufs-Nachrichtenschreiber (etwa von Cornel Zwierlein) verstehen? Sind die Dynamiken und ungleichen Geschwindigkeiten des papierkonsumierenden Buchhandels in Europas Territorien mit generellen Hinweisen zu anderen Synthese-Werken ausreichend beschrieben, die allein auf einige westeuropäische Verhältnisse eingehen, wie etwa jene von Andrew Pettegree? Warum wird die papierne Vielfalt der akzidentiellen und periodischen Publizistik der Epoche kaum angesprochen, fast nur mit englischen Beispielen ausgewiesen und dann auch fast nur anhand von Arbeiten von Joad Raymond erfasst?

Auch angesichts der bibliografischen Lücken und thematischen Leerstellen ist Paul Dovers Beitrag überaus lesenswert. Die Synthese stellt Papier als Werkzeug („tool“) des menschlichen Erinnerns gekonnt in das historiografische Scheinwerferlicht und lässt ältere Meister-Narrative vom „Druckzeitalter“ endgültig als überholt erscheinen. Mit Bezug auf Aleida Assmanns Gedanken zu Schreibakten, die ein kulturelles Gedächtnis als Erinnerungsräume mitformen, wirbt auch Dovers Buch nachdrücklich dafür, das Artefakt Papier zu einem energietransportierenden Erinnerungsmaterial für den historischen Blick werden zu lassen (S. 22). Als bibliografisches Nachschlagewerk zu den einzelnen Themenbereichen ist das Buch hingegen wenig geeignet. Für zukünftige Forschungsprojekte dürfte nach der Lektüre dennoch deutlich sein, dass das Erkunden und Ergründen von papiernen Kontexten zu vormodernen Wissens- und Kommunikationskonstellationen ergiebig sein kann und gerade erst begonnen hat.

Anmerkung:
1 Vgl. Orietta da Rold, Paper in Medieval England. From Pulp to Fictions, Cambridge 2020; Eric Ketelaar: Archiving People. A Social History of Dutch Archives, ’s-Gravenhage 2020; Daniel Bellingradt / Anna Reynolds (Hrsg.), The Paper Trade in Early Modern Europe. Practices, Materials, Networks (Library of the Written Word, Bd. 89), Leiden u.a. 2021. Ferner hätte eine Berücksichtigung der Forschungsaktivitäten und Publikationen der Arbeitsgruppe „Paper in Motion“ (https://www.peopleinmotion-costaction.org/workgroups/paperinmotion/ ), um José María Pérez Fernández helfen können. Auch die vom Rezensenten publizierte Studie „Vernetzte Papiermärkte. Einblicke in den Amsterdamer Handel mit Papier im 18. Jahrhundert“ (Köln 2020), die sehr ähnliche Argumente wie Dover entwickelt, ist unberücksichtigt, H-Soz-Kult Rezension https://www.hsozkult.de/searching/id/reb-50169?title=d-bellingradt-vernetzte-papiermaerkte&q=Papiermärkte&sort=&fq=&total=5&recno=4&subType=reb;recno=4&subType=reb (25.02.2022).

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