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Titel
Blut und Metall. Die transnationalen Wissensräume von Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Steffen, Katrin
Erschienen
Göttingen 2021: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
568 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tomáš Pavlíček, Institut für Geschichte, Polnische Akademie der Wissenschaften, Warschau

Die Erforschung von Wissensräumen, Ideentransfer und dem Austausch wissenschaftlicher Erkenntnisse ist für die Geschichtswissenschaft keine leichte Aufgabe. Zu den Herausforderungen einer sozial- bzw. kulturhistorischen Wissen(schaft)sgeschichte gehört die präzise Beschreibung (natur)wissenschaftlicher Erkenntnisse, ohne eine Disziplingeschichte im engeren Sinne zu schreiben. Doch auch die Popularisierung von Wissenschaftsgeschichte ist problematisch, wenn sie auf eine patriotische Feier einheimischer Größen abzielt oder andererseits zum hyperkorrekten Versuch führt, mit dem Stichwort „Transnationalität“ alle nationalen Aspekte zu neutralisieren. Hinzu kommt die Heterogenität der Expertenkulturen selbst. So wird ein Entwickler im Stahlwerk, der besonders effektiv und schnell reinen Chirurgenstahl gewinnen will, wohl kaum Rücksicht auf die Herkunft und den Abbauprozess des Erzes nehmen. Ganz anders ein Mineraloge, der über lokale Proben eines wertvollen Bändererzes mit Silikaten wacht oder die Entstehung weltweiter Vorkommen in verschiedenen Abschnitten des Proterozoikums vergleicht. Die beiden Experten werden eventuell nicht in der Lage sein, problemlos miteinander zu kommunizieren. Wie lassen sich komplexe Wissensräume zum Gegenstand der historischen Analyse machen?

Katrin Steffen ist diese Aufgabe geglückt. Sie macht die Metallurgie zum Gegenstand ihres Buches, in dem sie die wissenschaftliche Entwicklung, die Handlungsoptionen und die Grenzen untersucht, in denen in Europa im 20. Jahrhundert Wissen zirkulierte. Als Beispiel dient ihr die Biografie des bedeutenden Metallurgen Jan Czochralski (1885–1953), der den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess in Deutschland und in Polen prägte. Indem er eine chemische Methode zur Herstellung der Einkristalle Silicium und Germanium entdeckte, lieferte er nicht zuletzt den Anstoß zur Halbleiterentwicklung (Czochralski-Verfahren). Auch wenn historische Biografien zu den schwierigsten Sachtextformen gehören, wählte die Autorin eine zusätzliche Herausforderung: Sie entschloss sich zur Abfassung einer Doppelbiografie, indem sie Czochralski den zur gleichen Generation gehörenden Immunologen und Entdecker der Blutgruppen Ludwik Hirszfeld (1884–1954) zur Seite stellt. Dies ermöglicht es dem Leser, die Karrieren der beiden international bekannten Wissenschaftler zu vergleichen, die bis 1939 parallel verliefen. Auch wenn die Lektüre einer solchen komparativen Biografie nicht immer einfach ist, besitzt sie für Historiker ein großes Potenzial. Überzeugend und aufschlussreich demonstriert Steffen, wie Praktiken kultureller Sinnstiftung aus unterschiedlichen Perspektiven transnational erforscht werden können.

Wer waren die beiden behandelten Persönlichkeiten? Der im preußischen Teilungsgebiet geborene Czochralski wurde 1904 von seinen Eltern nach Berlin zu Verwandten geschickt, die dort eine Apotheke führten, damit er sein Interesse an der Chemie weiter ausbauen konnte. An der dortigen Technischen Hochschule absolvierte er ein Chemiestudium und trat als Ingenieur in die zukunftsträchtige und bis heute bekannte Firma AEG ein. Obwohl er nach Preußen, also nicht wirklich ins Ausland, ging, ist in der polnischen Historiografie in diesem Zusammenhang traditionell von einer „Emigration“ junger Talente die Rede. Hirszfeld hatte bereits zwei Jahre zuvor Warschau verlassen und war zum Studium nach Würzburg und Berlin – also tatsächlich ins Ausland – gegangen. Mit Blick auf die Möglichkeiten eines Hochschulstudiums und die Suche einer Anstellung gelingt es der Autorin, die entscheidenden Unterschiede zwischen den polnischen Teilungsgebieten aufzuzeigen. Die Passagen über die polnischen wissenschaftlichen Gesellschaften sind allerdings eher überflüssig, da sie für die damalige Studentenschaft kaum relevant waren. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert handelte es sich bei ihnen vor allem um eine Plattform für Universitätsprofessoren, die Gelder für Verlags- und Forschungsprojekte renommierter Autoren suchten.

Die polnische Jugend zeichnete sich durch eine besonders hohe Mobilität aus. Viele junge Menschen nutzten die Chance, in Deutschland, Russland oder Österreich tätig zu werden. Wissenschaft und Wissen wurden dabei zugleich zu einer Möglichkeit, soziale Barrieren zu überwinden. Wie die Autorin zeigt, fand die Mobilität der Jugendlichen nach dem Ersten Weltkrieg Eingang in das staatsbildende Narrativ Polens: „Polnische Talente“, die ihr Studium im Ausland absolviert hatten, sollten nun nach Hause zurückkehren, um die nächste polnische Generation zu schulen, und dabei frische wissenschaftliche Erkenntnisse mitbringen. Das patriotische Narrativ wurde andersherum auch auf jene erfolgreichen Absolventen angewendet, die im Ausland geblieben waren und dort eine Professur erhalten hatten, sodass die neue polnische Studentengeneration bei ihnen Studienaufenthalte realisieren konnte. Auf diese Weise modelliert Steffen den Kontext beider Biografien und zeigt die Besonderheit polnischer wissenschaftlicher Kontakte bis nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Gegen Ende ihres Buches widmet sie sich detailliert der Situation des nach 1945 erneuerten polnischen Staates und zeigt dabei auch die gravierende Lücke, die die hohen Kriegsverluste in den Reihen der Wissenschaftler hinterlassen hatten. Diese Passagen hätten kürzer ausfallen können, wobei man der Autorin aber eine hervorragende Orientierung in der aktuellen Literatur bescheinigen darf.

Indem sie aufzeigt, wie sehr die beiden Wissenschaftler in breitere Netzwerke eingebunden waren, schafft Katrin Steffen ein Gegengewicht zur traditionellen nationalen Geschichtsinterpretation. Verschiedene Perspektiven der transnationalen Wissenschaftsgeschichte kombiniert sie mit einer Untersuchung der Mikroebene wissenschaftlicher Praktiken, Codes und sozialer Verhaltensstrategien beispielsweise innerhalb der Laboratorien. Eine solche Vorgehensweise ist eher selten und passt insbesondere für Czochralski, der sein Doktorandenstudium nie abgeschlossen und die meisten Erfahrungen in der Apothekenpraxis gesammelt hatte, ausgezeichnet. Dass er außerhalb der akademischen Eliten agierte und letztlich ein Autodidakt war, charakterisiert die Autorin im polnischen Kontext als durchaus häufiges Phänomen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, das ebenfalls bei den Architekten der Moderne zu finden sei. Deren, an der Grenze zur künstlerischen Tätigkeit gelegenes, Werk stand freilich vor anderen Herausforderungen als das von Naturwissenschaftlern.

Lesefreundlicher wären knappere Einführungen in die einzelnen Kapitel gewesen. Auch das prinzipiell löbliche Bemühen, beide Akteure durchgängig in die komparatistische Interpretation einzubeziehen, liest sich mitunter etwas sperrig. Deren Schicksale verliefen nämlich in mancherlei Hinsicht gegensätzlich: Während Hirszfeld wegen seiner jüdischen Herkunft im Warschauer Ghetto interniert wurde, wo er sich als praktischer Arzt und bei der Ausbildung junger Kollegen engagierte, ging Czochralski Kompromisse ein und kollaborierte in der technischen Produktion mit den Deutschen, obwohl er zugleich die Heimatarmee (Armia Krajowa) unterstützte. Eine eindeutige Erklärung für sein Verhalten lässt sich nicht finden, wie Katrin Steffen zu Recht feststellt. Man könnte allerdings darüber spekulieren, ob mangelnde Loyalität und Rücksichtnahme im Fall von Czochralski nicht auf das fehlende Netzwerk aus Kommilitonen und Professoren zurückzuführen ist, dem er angehört hätte, wenn er ein formierendes Hochschulstudium absolviert und dieses mit einer Doktorarbeit abgeschlossen hätte.

Die Autorin folgt dem klassischen Konzept des Eigensinns, das der Alltagshistoriker Alf Lüdtke formuliert hat.1 Sie knüpft damit an eine ganze Reihe von Arbeiten zur Rolle von Experten in der Wirtschaft und Wissenschaft des 20. Jahrhunderts an, die unter anderem fragen, inwiefern Wissenschaftler als Experten Abstand von politischen Interessen und staatlichen Narrativen hielten.2 Neue Relevanz erhielt dieses Problem nach dem Zweiten Weltkrieg, als viele von ihnen an der Erneuerung der „Volkswirtschaft“ mitwirkten. Katrin Steffen reflektiert wichtige Aspekte des gegenüber dem Staat loyalen Expertentums am Beispiel zweier Biographien im Polen der Zwischenkriegszeit. Ihre Fähigkeit, beide vergleichend in den breiteren Zusammenhängen der Wissenschaftsgeschichte zu verorten, trägt wesentlich zur Bedeutung der Publikation bei.

Anmerkungen:
1 Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Münster 2015.
2 Vgl. u.a. Lutz Raphael, Vítězslav Sommer oder Jenny Andersson, die Zukunftskonflikte in der Ära des Kalten Krieges untersucht haben: Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193; Vítězslav Sommer u.a., Řídit socialismus jako firmu. Technokratické vládnutí v Československu, 1956–1989, Praha 2019; Jenny Andersson, The Future of the World. Futurology, Futurists, and the Struggle for the Post Cold War Imagination, Oxford 2018.

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