Seit der Ausstellung, mit der Aachen im Jahr 2000 „Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos“ feierte, ist die an wilden Spekulationen nicht arme Geschichte des Karlsthrones um eine steile These reicher. Der Archäologe Sven Schütte präsentierte als Ergebnis einer von ihm in Auftrag gegebenen dendrochronologischen Untersuchung, dass das Holz der im Karlsthron befindlichen Konstruktion nicht, wie man 1976 herausgefunden haben wollte, zu Beginn des 10. Jahrhunderts geschlagen worden sei – also gerade rechtzeitig zur Krönung Ottos I. 936 –, sondern um das Jahr 800. Damit begründete Schütte die Datierung des Thrones in den zeitlichen Kontext der Erbauung der Aachener Marienkirche. Darüber hinaus erkläre sich die angesichts des qualitativ höchstwertigen Kirchenbaus schon immer als rätselhaft empfundene Rohheit der vier Marmorplatten, aus denen der Thron recht primitiv zusammengefügt ist, aus ihrer Herkunft: Die vier antiken Marmorplatten seien Karl dem Großen als Spolien vom Heiligen Grab in Jerusalem geschenkt worden.1
Das einzige intersubjektiv nachprüfbare Faktum dieser schönen Geschichte ist freilich, dass die von Schütte mehrfach angekündigte Publikation mit genauen Daten und Befunden zur Begründung seiner Thesen immer noch nicht erschienen ist – honi soit qui mal y pense. Den wissenschaftlich verantwortbaren Befund fasste der Münsteraner Kunsthistoriker und Mittelalterarchäologe Uwe Lobbedey dann 2014 in das ernüchternde Fazit, dass zwar eine mehrphasige Entstehung des Thrones feststehe – erst Thron mit Grundplatte, später Pfeilerkonstruktion mit Erhebung des Thrones und Anlage der Treppe, noch später eine Veränderung des Unterbaus, um ein Unterkriechen des Thrones zu erleichtern –, nicht aber deren engere Datierung, die er lediglich „gefühlsmäßig“ im 10./11. Jahrhundert verorten könne; „zeitliche Anhaltspunkte dafür zu gewinnen“ müsse aber ebenso wie die Frage nach der erstmaligen Aufstellung eines Throns im Emporenumgang der Marienkirche „an die Historiker zurückgereicht werden“.2
2016 nahm sich dann der Aachener Bauhistoriker Jan Pieper der bei Schütte angelegten Frage nach dem „Zusammenhang zwischen Architektur und Thron“3 an und deutete den Thron als Zentrum des ganzen Kirchenbaus. Seine Auswertung von Maßen und Geometrie erweist den zunächst angeblich mit achteckiger Rückenlehne versehenen Thron als eine genau zwanzigfache Verkleinerung des Oktogons selbst, die Grafitti auf den Marmorplatten erwiesen deren Herkunft aus Jerusalem, und ihre handwerklich rohe Zusammenfügung sei eine symbolische „Demutsgeste vor ihrer sakrosankten Herkunft aus der Leidensgeschichte Christi“.4
Angesichts der zunehmend bunten Diskussion und der disziplinär unterschiedlichen Zugriffe erscheint eine gründliche Reflexion der Erkenntnismöglichkeiten ebenso sinnvoll wie angebracht. Harald Müller macht sie zum Gegenstand eines gerade unter methodologischem Gesichtspunkt lesenswerten und inspirierenden Büchleins. Ausgehend von der Einsicht in die „Grenzen der Erkenntnisfähigkeit einzelner Disziplinen“ (S. 13) widmet es sich im Kern der Schwierigkeit, den Aachener Thron mit den richtigen Fragen zu konfrontieren. Indem Müller den Thron als „Objekt der gedanklichen Aneignung und Ausgestaltung“ begreift (S. 13), überwindet er den bloß antiquarischen, auf Authentizität des Objekts zielenden Denkansatz und macht die spärliche schriftliche Überlieferung verständlich als Beleg für das „allmähliche Zusammenwachsen der zeremoniellen Legitimation des Königseins in Aachen“ einerseits und der dortigen Karlsverehrung andererseits (S. 140): Als „Produkt dieser Verschmelzung“ habe der Thron nicht authentisch, sondern nur ein plausibles Zeichen sein müssen, weshalb „wir heute wie damals weniger den Thron Karls bewundern als den Karlsthron“ (S. 140 f.). Es geht also um Rekonstruktion und Nachvollzug eines Falles von invention of tradition (S. 14).
Nach Erläuterung der Fragestellung und einem Überblick über die an der Frage nach der Materialität orientierten Thronforschung5 folgt ein Durchgang durch den an sich lange bekannten Quellenbefund6 – angefangen vom beredten Schweigen der karolingischen Überlieferung über die Ersterwähnung eines solium im Bericht Widukinds von Corvey über die Krönung Ottos I. und das Anklingen traditionaler Legitimation bei Thietmar von Merseburg sowie die Karlsgraböffnung und Wipos Erwähnung eines thronus regalis bei der Thronsetzung Konrads II. bis hin zu den ersten Spuren der „Karlizität“ (S. 65) des Thrones bei Otto von Freising, im Karlsdekret und der Urkunde Barbarossas über die Heiligsprechung des Karolingers 1165. Aus dem ebenfalls bekannten Fehlen bildlicher Quellen sticht der Befund am Aachener Karlsschrein hervor: Offenbar war zwar die detailreiche Wiedergabe der Marienkirche auf dessen Widmungsrelief ein „unverwechselbares Zeichen Karls“ (S. 85), nicht aber der Karlsthron.
Anschließend diskutiert Müller die mit dem modernen Deutungskonzept einer Sakralisierung des Thrones verbundenen Schwächen und warnt vor allzu großen Erwartungen an eine Materialuntersuchung, die bestenfalls den Abbauort des Marmors, nicht aber die Entstehungszeit der mehrteiligen Thronanlage klären könne. Die Aporien des rein objektbezogenen Zugangs begründen die Notwendigkeit, „dem Reden der Zeitgenossen über den Thron genauer zuzuhören“ (S. 109), um Motive für die Metamorphose eines zeitgenössisch unbestimmten Thronsitzes zum Karlsthron als ortsfestem Symbol des Reiches fassen zu können. Ein um die Frage nach ihrem Kontext erweiterter, zweiter Durchgang durch die Schriftquellen macht dann drei Phasen herrschaftslegitimierender Erinnerung erkennbar, die in der Verstetigung der Krönungszeremonie in Aachen wurzelten: Begegnet in ottonischer Zeit zunächst der legitimierende Verweis auf das fränkische Reich, wurde dann die erstmals unter Otto III. greifbare Intensivierung der Karlserinnerung und -verehrung zur Vorgeschichte der letzten Etappe, die mit der Heiligsprechung des Karolingers ihren Höhepunkt fand und den Thron in den Thron eines heiligen Herrschers verwandelte. Die Bezüge zwischen der Erinnerung an Karl den Großen am Ort Aachen, der Königsherrschaft und dem Reich rückten seitdem im Erinnerungsort des Thrones zusammen, der fortan ein plausibles, aber nicht notwendig authentisches Zeichen dieser Zusammenhänge war.
Der Aufbau des Buches bringt einige Redundanzen mit sich, aber man folgt gerne und gespannt seiner Argumentation. Sie hätte an Eindringlichkeit gewinnen können, wenn die einschlägigen Textstellen jeweils vollständig wiedergegeben worden wären; so ist etwa der Sprung von Wipos „historiographischer Inszenierung“ (S. 127) der Karlstradition unter Konrad II. zur Feststellung, der Salier habe „seine Herrschaftsausübung lesbar an Karl“ orientiert (S. 134), nicht recht nachvollziehbar.
Die Frage nach den Akteuren streift Müller nur kurz (S. 135–137), und das wurzelt wahrscheinlich in seinem Unwillen, den vielen Thesen und Spekulationen der Forschung noch weitere hinzuzufügen. Sein Hinweis auf die „Verzahnung eines herrschaftspolitischen Strangs mit den lokalen Interessen“ (S. 136) ist zwar absolut zutreffend, bleibt aber gerade hinsichtlich der Motive und Ursachen von Konjunkturen der Karlserinnerung und deren Aachener Träger sehr allgemein. Das überzeugend nachgezeichnete allmähliche Werden der Vorstellung von einem „Karlsthron“ legt die von Uwe Lobbedey an die Historiker zurückgereichte Frage nach den „zeitliche[n] Anhaltspunkte[n]“ für die Entstehung der Thronanlage also noch nicht ad acta. Dass eine präzise Antwort überhaupt jemals möglich sein wird, darf man bezweifeln. Aber für alle künftigen Antwortversuche hebt Harald Müller die Ausgangslage auf ein neues Niveau.
Anmerkungen:
1 Sven Schütte, Der Aachener Thron, in: Mario Kramp (Hrsg.), Krönungen. Könige in Aachen. Geschichte und Mythos, Bd. 1, Mainz 2000, S. 213–222; Ders., Forschungen zum Aachener Thron, in: Helmut Maintz (Hrsg.), Dombaumeistertagung in Aachen 2009. Vorträge zum Aachener Dom, Aachen 2011, S. 127–142.
2 Uwe Lobbedey, Beobachtungen und Notizen zum Königsthron, in: Harald Müller / Clemens M. M. Bayer / Max Kerner (Hrsg.), Die Aachener Marienkirche. Aspekte ihrer Archäologie und frühen Geschichte, Regensburg 2014, S. 237–249, die Zitate S. 248 f.
3 Schütte, Aachener Thron, S. 220 f.
4 Jan Pieper / Bruno Schindler, Thron und Altar. Oktogon und Sechzehneck. Die Herrschaftsikonographie der karolingischen Pfalzkapelle zu Aachen, Aachen 2017, Zitat S. 124. Dazu die Rezension von Cord Meckseper, in: Kunstchronik 71 (2018), S. 527–530.
5 Grundlegend Joseph Buchkremer, Der Königstuhl der Aachener Pfalzkapelle und seine Umgebung, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsverein 21 (1899), S. 135–194.
6 Grundlegend Stephan Beissel, Der Aachener Königsstuhl, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsverein 9 (1887), S. 14–41; Caroline Horch, Königsstuhl – Kaiserthron – Reliquiar. Forschungsgeschichte der Aachener sedes imperialis, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 213 (2010), S. 83–101.