J. Wojdon (Hrsg.): Public History in Poland

Cover
Titel
Public History in Poland.


Herausgeber
Wojdon, Joanna
Reihe
Global Perspectives on Public History
Erschienen
London 2021: Routledge
Anzahl Seiten
260 S.
Preis
€ 159,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Ackermann, Lehrgebiet Public History, FernUniversität in Hagen

Der von Joanna Wojdon herausgegebene Sammelband Public History in Poland bietet einen Überblick über Bereiche, Formate und Projekte, in denen in Polen öffentlich historische Erzählungen kommuniziert werden. Als Professorin der Universität Breslau agiert die Herausgeberin selbst an der Schnittstelle zwischen Fachwissenschaft und angewandter Geschichte. Der vorliegende Band stellt ihren Ansatz vor sowie das Netzwerk, mit dem sie Public History im polnischen Kontext betreibt und analysiert.

Im ersten Teil diskutieren die Autor:innen Geschichtspolitik als kommunikativen Raum, in dem Erzählungen über die Vergangenheit als Ressource von Legitimität in politischen Auseinandersetzungen nutzbar gemacht werden. Im zweiten Teil untersuchen sie das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Praxis und der Herstellung von Öffentlichkeit in den Feldern Oral History, Archivwesen, Verlagswesen und Archäologie. Mit Beispielen aus den Bereichen Film, Comic, Reenactment und Brettspiel richtet sich der Fokus des dritten Teils schließlich auf Geschichte als Teil von Freizeitaktivitäten.

In ihrer Einleitung verweist Joanna Wojdon auf die zentrale Bedeutung historischer Erzählungen, Bilder und Denkmäler für die Entstehung eines sozialen Gedächtnisses der polnischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Die Erfahrung von zwei Weltkriegen, die auf polnischem Boden ausgetragen wurden, habe die nationale Dimension sowie die Rolle des Staats bei der Gestaltung öffentlichen Gedenkens gestärkt. Zugleich gibt es in Polen eine starke Bewegung, die aus der Zivilgesellschaft heraus Geschichte „von unten“ schreibt. Implizit zieht sich so die Frage nach dem Verhältnis zwischen Vertreter:innen des Staats, lokalen Selbstverwaltungen und Bürgerschaften durch das gesamte Buch.

Am Ende der Einleitung räumt Wojdon ein, dass die Einrichtung eines Studienganges Public History in Polen auch eine Reaktion auf die fallenden Zahlen von Geschichtsstudierenden gewesen sei. Die Entscheidung für den Begriff „Public History“ statt „Angewandter Geschichte“ ist damit auch ein Bekenntnis zur Marktlogik US-amerikanischer Studiengänge, die Studierenden Anwendungs- und Arbeitsfelder erschließen, in denen historisches Wissen zum Einsatz kommt. Folgerichtig definiert Wojdon Public History sehr breit als „patchwork rather than a coherent entity [...] with diversity, polyphony and openess to multiple needs, voices and experiences being its distinctive features” (S. 7).

In den einzelnen Kapiteln, etwa demjenigen von Marta Kurkowska-Budzan über Oral History, wird eine spezifisch polnische Konfiguration für die Institutionalisierung von Public History im Spannungsfeld zwischen Staat und Gesellschaft deutlich. So hatten noch in der Volksrepublik Polen vor 1989 Initiativen wie KARTA in Warschau und das Teatr NN in Lublin begonnen, Oral History als Form gesellschaftlicher Erinnerung von unten zu etablieren. Da KARTA zentraler Teil der Oppositionsbewegung war, die nach 1989 die Politik in Polen prägte, ist das Verhältnis zwischen offiziellen Geschichtsbildern und den in Oral-History-Interviews erfassten Erzählweisen in Polen im 21. Jahrhundert besonders eng. Das Kapitel zeigt aber auch, dass das Spannungsfeld zwischen Oral History als zivilgesellschaftlicher Methode zur Herstellung und Fixierung autobiographischer Narrationen in Polen in ähnlicher Weise wie im westlichen Deutschland erst nach und nach von den historischen Fachwissenschaften anerkannt wurde.

Im Kapitel über Archive erklärt Lucyna Harc zwei wichtige Besonderheiten der institutionellen Landschaft in Polen: Neben den 39 staatlichen Archiven gibt es eine Vielzahl von zivilgesellschaftlich betriebenen Archiven, die – finanziert vom Ministerium für Kultur und nationales Erbe und koordiniert durch KARTA – zunehmend vernetzt und teils digital zugänglich gemacht werden. Der Begriff des Zivilgesellschaftlichen Archivwesens (auf Polnisch „Archiwistyka Społeczna“) unterstreicht die Bedeutung partizipativ erstellter Archive für das nationale Gedächtnis. Im Bereich der Digitalisierung existiert seit Jahren eine enge Zusammenarbeit zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Darüber hinaus entstand durch die Zusammenführung der Metadaten und Indizes aller öffentlichen Archive eine zentrale Datenbank, die auch auf Deutsch unter https://www.szukajwarchiwach.gov.pl einzusehen ist. Ähnliche Initiativen existieren für genealogische Datenbestände sowie einzelne Themen, für die – etwa zum 100. Jahrestag des polnisch-sowjetischen Kriegs 1920 – im Rahmen öffentlicher Kampagnen Archivalien aus Privatsammlungen digital zusammengetragen werden. In der Gesamtschau ist die Digitalisierung bestimmter Schichten gesellschaftlicher Erinnerung damit in Polen strukturell weiter vorangeschritten als etwa in Deutschland.

In seiner überblicksartigen Darstellung zur Geschichtspolitik benennt Łukasz Kamiński Argumente, warum der vom Staat mitgetragene Boom narrativer Museen Polens Selbstbild um neue Metaerzählungen ergänzte. Nach Abschluss der ersten Dekade des Umbaus von Staat und Wirtschaft sei um 2000 die Stunde der Selbstvergewisserung gekommen, in der geschichtspolitische Akteure den Rückgriff auf historische Erfahrungen als Quelle von Identität gezielt vornahmen – ein Prozess, der noch vor dem EU-Beitritt Polens begann. Nach der Wahl der Regierung von Recht und Gerechtigkeit im Jahr 2015 habe diese begonnen, vermehrt neue Museen zu gründen, die sowohl eine Heroisierung polnischer Geschichte vornehmen als auch die Leidenserfahrung des polnischen Volkes in den Mittelpunkt stellen. Geradezu prototypisch seien hier Museen über die Retter verfolgter Juden, die selbst Opfer der deutschen Besatzungsgewalt wurden, wie etwa im Dorf Markowa.

Das Buch hat insgesamt eher einen deskriptiven Charakter. Eine systematische Analyse des ausgebreiteten Materials erschwert der Umstand, dass zentrale Akteure der vergangenen zwei Jahrzehnte selbst zu den Autoren gehören. So schreibt Łukasz Kamiński über das Institut für Nationales Gedenken IPN, dessen Präsident er selbst jahrelang war, und Paweł Ukielski, stellvertretender Direktor des Warschauer Aufstandsmuseums, über Museumsbauten. Für eine grundlegende Analyse fehlt ihnen die kritische Distanz. Die meisten Autor:innen machen die eigene Positionierung im Feld nicht sichtbar und bemühen sich um möglichst große Neutralität im Duktus ihrer Beiträge. Das ist deshalb problematisch, weil Institutionen wie das IPN oder das Warschauer Aufstandsmuseum im Mittelpunkt des politischen Kampfes zwischen einer national-konservativen und einer sich selbst als liberal verstehenden Interpretation polnischer Geschichte stehen. Polnische Leser:innen mögen das nötige Vorwissen über diese Spaltung der ehemaligen Solidarność-Bewegung, die auch die Positionierung in geschichtspolitischen Frontstellungen prägt, mitbringen. Die Publikation in englischer Sprache richtet sich jedoch eher an ein internationales Publikum, das nicht alle Anspielungen – etwa auf die Auseinandersetzung um die Beteiligung der lokalen Bevölkerung der Ortschaft Jedwabne am Mord der jüdischen Bevölkerung – verstehen wird.

Die im Buch implizite Gegenüberstellung einer affirmativen Geschichtspolitik der polnischen Rechten und einer durchweg kritischen Haltung der liberaleren Teile der polnischen Gesellschaft greift zu kurz, um die Dynamik etwa des Streits um das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig zu erklären. Denn auch wenn sich Wissenschaftler:innen in ihren Analysen neuerer Phänomene – darunter die systematische Heroisierung der sogenannten Verfemten Soldaten – von der heutigen Regierung distanzieren, sind ihre Positionen nicht weniger ideologisch geprägt. Auch die ihnen näherstehenden Projekte verfolgen nicht selten affirmative Ziele. Ein prägnantes Beispiel ist die Nichterwähnung der Kritik am Museum der Geschichte der polnischen Juden POLIN in Warschau. Dessen Dauerausstellung werfen einzelne Wissenschaftler:innen vor, die Geschichte der Juden für eine polnische Erfolgsgeschichte in Dienst zu nehmen.1

Auch durch das Fehlen eines analytisch-synthetisierenden Schlusskapitels vergibt die Herausgeberin die Chance, die strukturellen Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Positionen klar herauszuarbeiten. Dazu gehören der in der Politik, Kultur und Wissenschaft ungebrochene Glaube an die identitätsstiftende Kraft der Institution Museum ebenso wie der Betrieb von Museen als Teil ökonomischer Infrastrukturen, die stets auch Teil touristischer Angebote sind. Ungeklärt im vorliegenden Band bleibt außerdem, ob die divergierenden Deutungen der Vergangenheit in Polen einen gemeinsamen diskursiven Raum prägen oder ob es sich zunehmend um stark voneinander getrennte Teilöffentlichkeiten handelt. Um diese Frage zu beantworten, müsste Public History als Wissenschaftspraxis mehr bieten als eine Bestandsaufnahme geschichtskultureller Repräsentationen. Sie müsste einerseits die Transformation von Öffentlichkeit, ihre Voraussetzungen und Praktiken historisieren. Als Verbindung von diskursanalytischer Praxis, teilnehmender Beobachtung und kritischer Selbstreflektion sollte sie andererseits einen Versuch unternehmen, die Rolle der Wissenschaft in der öffentlichen Diskussion zu hinterfragen und vor Diagnosen über die historische Verfasstheit und Transformation von Öffentlichkeit(en) nicht zurückzuschrecken.

Anmerkung:
1 Elżbieta Janicka, The Embassy of Poland in Poland: The Polin Myth in the Museum of the History of Polish Jews (MHPJ) as narrative pattern and model of minority-majority relations, in: Irena Grudzińska-Gross / Iwa Nawrocki (Hrsg.), Poland and Polin. New Interpretations in Polish-Jewish Studies, Frankfurt am Main 2016, S. 121–172.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension