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Titel
Die ›Moor-SA‹. Siedlungspolitik und Strafgefangenenlager im Emsland 1934–1942


Autor(en)
Reinicke, David
Erschienen
Göttingen 2022: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
436 S., 22 Abb.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Yves Müller, Institut für Landesgeschichte, Halle (Saale)

Anders als viele ‚frühe‘ und periphere Konzentrationslager sind die Emslandlager nie wirklich in Vergessenheit geraten. Das „Moorsoldatenlied“ der Gefangenen ist als Dokument des antifaschistischen Widerstandes weltberühmt, 1981 entstand das Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Emslandlager, das 1985 eine erste provisorische Ausstellung in Papenburg eröffnete. Die erste wissenschaftliche Monografie entstand ebenfalls in den 1980er-Jahren1 und die Universität in Oldenburg trägt seit 1991 den Namen eines der bekanntesten KZ-Insassen, des pazifistischen Schriftstellers Carl von Ossietzky (1889–1938). 2011 öffnete die Gedenkstätte Esterwegen am historischen Ort.2 Die Erinnerung an die hier verübten Verbrechen der Nationalsozialisten fußte maßgeblich auf dem jahrzehntelangen kollektiven Engagement von Überlebenden und Hinterbliebenen.3

David Reinicke legt mit seiner an der Universität zu Köln eingereichten und nun veröffentlichten Dissertation die erste Monografie über die SA-Wachmannschaften der sogenannten Emslandlager vor. Dabei fokussiert er nicht allein die Funktion der SA-Angehörigen als Bewacher der Gefangenen, sondern adressiert ebenso zentral ihr Selbstverständnis als Kultivierer und Modernisierer des Landes im Rahmen der nationalsozialistischen Siedlungspolitik. Die „Moor-SA“ – eine Selbstbezeichnung – war bisher nicht im Fokus der neueren Täterforschung. Eine Ausnahme bildet – neben einigen Vorarbeiten von Reinicke selbst – ein Aufsatz von Habbo Knoch, der die Qualifizierungsarbeit von Reinicke betreut hat.4

Anders als die ab 1935/36 der Inspektion der Konzentrationslager (IKL) unterstellten Lager, in denen die Gestapo „Schutzhäftlinge“ einpferchte, unterstanden die emsländischen Strafgefangenenlager ab Ende 1934 dem Reichsjustizministerium, das dort verurteilte Männer im Rahmen des Strafvollzugs unterbrachte. 1937 gehörten zehn Lager dem seinerzeit größten zusammenhängenden Lagerkomplex der Nationalsozialisten an. Die SA-Wachmänner im Emsland trugen deswegen im Gegensatz zu ihren Kameraden nicht das Braunhemd, sondern die blaue Dienstuniform. Die verschiedenen involvierten Akteure bildeten „eine breite Interessenallianz von Lokal- und Mittelinstanzen sowie verschiedenen Reichsbehörden“ (S. 17). Reinicke erfasst die „Moor-SA“ als „Gemeinschaft“ mit einem „kulturell-ideologischen Überschuss“ und fragt nach dem „Verhältnis von Kollektiv und Individuum“ (S. 19). Herkunft und Motivation der Wachmannschaft stehen ebenso im Zentrum der Untersuchung wie der Austausch mit der die Lager umgebenden Bevölkerung. So unterscheidet er in drei Ebenen: die sozial und räumlich strukturierende Ebene, die Erfahrungsebene und die utopische Ebene.

Die Arbeit ist neben Einleitung und Schlussteil in vier Abschnitte gegliedert, die die inhaltlichen Kapitel umfassen und die chronologischen Phasen (November 1933 – Mai 1935, Juni 1935–1938, 1939–1942, 1943–1970) abbilden, wobei die Amtszeit des Kommandeurs Werner Schäfer von 1934 bis 1942 das eigentliche temporale Zentrum der Studie umfasst, während Reinicke zugleich eine äußere Zeitspanne erfasst, die auch die Nachgeschichte der „Moor-SA“ einbezieht. In den 15 Unterkapiteln werden wiederum thematische Schwerpunkte gesetzt.

Der Einleitung folgt ein Kapitel mit kollektivbiographischem Zugang. Mehr als 600 Datensätze des Wachpersonals liefern die empirische Grundlage. Nachdem die SS aufgrund von Vorkommnissen als Wachpersonal abgelöst worden war, übernahm die Osnabrücker SA im November 1933 die Bewachung der Lager. Erstmals kam der Gedanke auf, „bodenständige und bodenverwachsene“ (zit. nach S. 57) SA-Angehörige für die Ansiedlung in der dünn besiedelten und in weiten Teilen unerschlossenen Region zu gewinnen. Mit dem katholischen Milieu des Emslandes hatten die zugezogenen SA-Angehörigen nicht viel gemein; sie blieben Außenstehende; immer wieder kam es zu Reibereien mit der Lokalbevölkerung. Auch in sich war die Gruppe heterogen. So variierten räumliche Herkünfte, soziale Hintergründe und Altersstruktur. Homogenität ergibt sich hingegen beim SA- oder NSDAP-Eintritt, denn 1934 waren 87 Prozent vor dem 30. Januar 1933 in der NS-Bewegung aktiv gewesen und galten damit als „Alte Kämpfer“. So beschreibt der Autor die Prämissen der „völkischen Modernisierung“ (S. 132), in der biologistische Raumkonzepte bestimmten und den SA-Männern als „Pioniere deutschen Bauerntums“ (zit. nach S. 136) das Versprechen auf eine dauerhafte Ansiedlung gemacht wurde, während die Strafgefangenen im Rahmen der Emslandkultivierung Zwangsarbeit zu leisten hatten. „Innere Kolonisation“ und Gewaltpraxis waren in der „Moor-SA“ eng verwoben, wie Reinicke aufzeigt. Im ersten Quartal 1934 verschlechterte sich unter der SA die Haftsituation. Häftlinge wurden häufig misshandelt und es kam zu Erschießungen „auf der Flucht“ – eine Chiffre für die Ermordung von Gefangenen.

Der dritte Abschnitt fokussiert auf die Konsolidierung des Strafvollzugs im Emsland und der Präsentation „als geordnete Musteranstalten“ (S. 170) unter Werner Schäfer. Dieser etablierte nun die der „Moor-SA“ eigentümliche „Doppelstruktur“ (S. 172) der gleichzeitigen Unterstellung im Rahmen der Justizverwaltung und der Eingliederung der Wachmannschaften in die SA-Hierarchie. Die „aus der Doppelstellung resultierende Ungenauigkeit der Zuständigkeiten“ wusste der Kommandeur zum eigenen Machtausbau zu nutzen. Der Haftalltag war von Kollektivstrafen und willkürlichen Schikanen geprägt. Eine Kontrollinstanz, die der Macht Schäfers hätte Einhalt gebieten können, existierte nicht. Individuelle Gewalttaten wurden in der Regel gedeckt, vertuscht und kaum sanktioniert. Lagerleitungen ließ Schäfer untereinander wechseln, um juristische Ermittlungen zu unterlaufen. Die Gewaltpraxis der SA-Männer führt Reinicke nicht zuletzt auf die Abgeschiedenheit und ‚Härte‘ des Emslandes zurück. In diesem Denken verlangte die raue Umgebung strenge Disziplin und erzieherische Härte gegenüber den Gefangenen. In der nationalsozialistischen Propaganda wurde geflissentlich ausgespart, dass sie es waren, die die Kultivierungsarbeiten erbrachten. Diese Verdeckung entsprach dem kolonialistischen Anspruch der SA-Angehörigen. Wie sehr „die Grenzen zwischen innerer und äußerer Kolonisation […] verschwammen“ (S. 184), zeigte sich in den Aktivitäten auf diesem Gebiet: Die Neusustrumer Wachmannschaft war kollektiv in den Reichskolonialbund eingetreten, der Gemeinschaftsraum war mit einer Kolonialecke ausstaffiert, worauf der Autor leider nicht weiter eingeht.

Eine Zäsur bildete das Anfang 1938 gegen Schäfer eingeleitete Dienststrafverfahren und dessen zeitweise Suspendierung. Zwar wurde der SA-Führer letztlich nicht freigesprochen, doch erlitt das Justizministerium eine Niederlage und musste Schäfer im November wieder einsetzen. Doch es war ein „vergifteter Sieg“ (S. 273): Das Jahr 1939 und die ersten Kriegsjahre waren von einem enormen Bedeutungsverlust für die „Moor-SA“ geprägt, der sich neben der Beschneidung der Zuständigkeiten der SA auch in der verschiedenfarbigen Dienstbekleidung für die SA-Wachmänner (blau) und die Justizbeamten (grün) sichtbar manifestierte. Schon 1938 war es anlässlich des Schäfer-Verfahrens zu Dissonanzen und sogar Tätlichkeiten der SA-Wachmänner gegen Justizbeamte gekommen. Vor allem war der angestrebte Ausbau des Lagerkomplexes ausgeblieben. Häftlingsstruktur und Arbeitseinsatz der Gefangenen änderten sich ebenso. Inzwischen war die SA-Wachmannschaft „fester Bestandteil des kulturellen Lebens im Emsland“ geworden. Während des Krieges kam es jedoch erneut zu Auseinandersetzungen mit der Lokalbevölkerung, die Reinicke als „Entwöhnung“ zwischen beiden Gruppen skizziert. Auch die kriegsbedingt enorme personelle Fluktuation und unablässige Abwanderungsbewegungen unterliefen den selbstgesteckten Anspruch der SA-Gemeinschaft. Von der einstigen „Moor-SA“ waren 1945 noch gerade 50 SA-Wachmänner in den Emslandlagern tätig.

Die Nachgeschichte der „Moor-SA“ zeigt die ambivalente juristische Ahndung der Verbrechen sowie das weitere Fortkommen der SA-Männer. Nicht wenige Wachmänner, die um 1938 verbeamtet worden waren, gingen noch in den 1960er-Jahren ihrem Dienst im Justizvollzug nach. Die Ausführungen zu den im Emsland verbliebenen ehemaligen SA-Angehörigen sind jedoch etwas kursorisch geraten und lassen Fragen zur lokalen Erinnerung an die „Moor-SA“ offen.

Dem Autor ist eine nachvollziehbar strukturierte Arbeit gelungen. Den übergeordneten Kapiteln hätte ein zusammenfassendes Zwischenfazit trotzdem gutgetan. Leider wurde ebenso versäumt, die 22 Abbildungen, die Einblicke in die Vergemeinschaftung der „Moor-SA“ bieten, systematisch in die Analyse einzubinden. So dienen sie meist lediglich der Illustration. Wenngleich sich die Regionalstudie als anschlussfähig an eine „Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus“ (S. 397) erweist, sind weitere Arbeiten zum Verhältnis von Bevölkerung und NS-Strukturen nötig, um sich diesem Ziel anzunähern. Das Buch wird sich in den Kanon der noch zu wenigen Untersuchungen zur SA zwischen 1933 und 1945 einreihen.

Anmerkungen:
1 Elke Suhr, Die Emslandlager. Die politische und wirtschaftliche Bedeutung der emsländischen Konzentrations- und Strafgefangenenlager 1933–1945, Bremen 1985.
2 Hölle im Moor. Die Emslandlager 1933–1945. Begleitband zu den Ausstellungen der Gedenkstätte Esterwegen, hrsg. im Auftrag der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen von Bernd Faulenbach und Andrea Kaltofen, Göttingen 2017.
3 Ann Katrin Düben, Die Emslandlager in den Erinnerungskulturen 1945–2011. Akteure, Deutungen und Formen, Göttingen 2022.
4 Habbo Knoch, „Kampf im Moore“. Kameradschaftspraxis und Selbstverständnis der Wachmannschaften in den emsländischen Strafgefangenenlagern zwischen 1934 und 1942, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hrsg.): Entgrenzte Gewalt. Täterinnen und Täter im Nationalsozialismus (= Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Bd. 7), Bremen 2002, S. 50–65.

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