Die historische Forschung zur nationalsozialistischen Verfolgung von Sinti und Roma sowie deren Erinnerungs- und Nachgeschichte steckt längst nicht mehr in ihren Kinderschuhen. Auch die Verfolgung in den besetzten und den verbündeten Ländern sowie dem deutschen Reichsgebiet angeschlossenen Gebieten ist in den letzten Jahrzehnten – nicht zuletzt aufgrund der Zugänglichkeit der osteuropäischen Archive – stärker ins Blickfeld gerückt. Gleichwohl birgt die Erforschung der europäischen Dimension der Verfolgungs- und Nachgeschichte weiterhin enorme Potenziale.
Dies bestätigt der von Celia Donert und Eve Rosenhaft herausgegebene Sammelband, der auf der Arbeit des gleichnamigen internationalen Netzwerkes basiert. Die beteiligten Historiker:innen, Sozial- und Kulturwissenschaftler:innen widmeten sich von 2017 bis 2020 auf mehreren Veranstaltungen der Frage, wie Verfolgungserfahrungen und Erinnerungen daran das Leben, die politischen und sozialen Identitäten sowie Handlungsweisen von Roma in verschiedenen Teilen Europas auf lange Sicht prägten.1 Dieses Anliegen verfolgt auch der vorliegende Sammelband mit seinen 13 Fallstudien aus Ost- und Westeuropa. Dabei rücken als nationale Kontexte Rumänien, die Sowjetunion, die Tschechoslowakei, Frankreich und Italien in den Blick, zudem in länderübergreifenden Artikeln Deutschland, Österreich, Ungarn sowie die baltischen Staaten.
Erklärtes Ziel der Herausgeberinnen ist es nicht nur, die kontinuierliche Diskriminierung und Kriminalisierung von Roma sowie die ausbleibende Anerkennung als NS-Opfer in Europa zu problematisieren. Es geht ihnen vor allem darum, Roma als historische Akteure sichtbar werden zu lassen. So soll zugleich die oftmals bediente Erzählung, dass über die Verfolgung deswegen nichts bekannt gewesen sei, weil die Opfer geschwiegen hätten, kritisch hinterfragt werden. Dass er diesen Anspruch tatsächlich einlöst, macht den Band zu einer äußerst lohnenden Lektüre.
Zusammengebunden werden die Beiträge in vier, sich inhaltlich stark überschneidenden Teilen. Die Autor:innen des ersten Abschnitts fragen nach der Produktion von Wissen über die NS-Verbrechen an Roma und den daraus resultierenden Folgen. Lise Foisneau und Viorel Achim konzentrieren sich mit ihren Beiträgen zu den Massen-Inhaftierungen von als „Nomaden“ stigmatisierten Menschen in Frankreich (1944 bis 1946) sowie zur Rückkehr der während des Krieges nach Transnistrien deportierten Roma nach Rumänien (1944 bis 1948) auf die unmittelbare post-faschistische Phase in beiden Ländern. Dabei zeichnen sie ein vielgestaltiges Bild des offiziellen Umgangs mit Roma in dieser Zeit – von fortgesetzter Separierung und Stigmatisierung (etwa als Kollaborateur:innen der Deutschen) über Hilfsangebote aus der Bevölkerung hin zur vorübergehenden Beteiligung an der rumänischen Landreform sowie frühen Diskussionen über die Anerkennung als Minderheit. Mikhail Tyaglyy geht für die sowjetische Ukraine der Verwendung von Wissen über die NS-Verfolgung von Roma nach, das seit 1941 dokumentiert worden ist. Anhand von Gerichtsunterlagen, Zeitungen, publizierten Erinnerungen sowie Theater und Film argumentiert er, dass Roma in der offiziellen Erinnerung der 1940er- bis 1980er-Jahre durchaus vorkamen, jedoch einer verzerrten Darstellung unterlagen. Pavel Baloun zeichnet die Geschichte einer böhmischen Familie bis in die späten 1940er-Jahre nach, die von antiziganistischen Kontinuitäten, dem Kampf um Grundrechte, aber auch von Unterstützung aus der Nachbarschaft geprägt war.
Die Familie als Erfahrungs- und Erinnerungsraum nehmen auch die Beiträge des zweiten Abschnitts in den Blick. Volha Bartash diskutiert Handlungsspielräume und die Rolle von Roma-Familien, die im Zweiten Weltkrieg bei sowjetischen Partisanen Zuflucht suchten und an ihrer Seite kämpften. Paola Trevisan fragt nach den Strategien, mit denen eine kroatische Familie während und nach dem Faschismus die italienische Staatsbürgerschaft zu erlangen versuchte; Lada Viková fokussiert in ihrer dichten Beschreibung die Geschichte einer Roma-Familie aus Mähren. Diese mikrohistorischen Fallstudien verdeutlichen, dass Roma anhaltend eigene Rechte einforderten, jedoch gleichzeitig verschwiegen, als „Zigeuner“ verfolgt worden zu sein oder sich der (internationalen) Bürgerrechtsbewegung zugehörig zu fühlen. Sehr bewusst loteten sie aus, was das Gehörtwerden möglicherweise begünstigte oder verhinderte. Mit der eigenen familiären Verfolgungsgeschichte eng verknüpft ist auch die Entstehung des Museum of Romani Culture in Brno, die Jana Horváthová nachzeichnet. Sie verdeutlicht, dass sich die Initiator:innen des 1991 eröffneten Museums unter anderem in die Tradition der in die 1960er-Jahre zurückreichenden tschechoslowakischen Roma-Bürgerrechtsarbeit stellten.
Der Beitrag zur Musealisierung der Roma-Kultur leitet zugleich zum nächsten Abschnitt über, der sich mit dem öffentlichkeitswirksamen Agieren von Überlebenden auseinandersetzt. Helena Sadílková und Milada Závodská sowie Petre Matei diskutieren darin, wie Überlebende oder Angehörige in der Tschechoslowakei bzw. Rumänien zum öffentlichen Reden oder Schreiben über die NS-Verfolgung gelangten und welche Impulse dafür jeweils ausschlaggebend waren. Dabei wird zum einen die wichtige Rolle deutlich, die hierbei die Roma-Bürgerrechtsbewegung spielte, zum anderen, wie sehr dabei ein sensibles Agieren in den jeweiligen real-politischen Kontexten nötig war. Zu einem ähnlichen Befund kommt Ilsen About, der seit den 1980er-Jahren erschienene Erinnerungsberichte von Romnja aus Frankreich, Deutschland und Österreich diskutiert.
Die beiden Autor:innen im vierten Abschnitt des Bandes wählen einen explizit transnationalen Zugang. Sowohl Ljiljana Radonić mit ihren Ausführungen zur musealen Repräsentation des Genozids an Roma als auch Sławomir Kapralski mit seinen eher allgemeinen Überlegungen zu Erinnerung und Identität verdeutlichen, wie wichtig bis in die unmittelbare Gegenwart die Interventionen von Bürgerrechtsaktivist:innen sind, damit Roma im „postkommunistischen“ Europa überhaupt als individuelle Opfer nationalsozialistischer Verbrechen wahrgenommen werden.
Den Beiträgen gelingt es nahezu durchgängig, Roma als Akteur:innen mit eigenen Strategien und Entscheidungen – kurz: mit agency – zu präsentieren. Dies gilt sowohl für Einzelpersonen als auch für Roma-Organisationen. Viele der Autor:innen profitieren bei der Annäherung an eine akteurszentrierte Perspektive von der Arbeit mit Interviews. Einige haben neben eigenen Interviews auch vorhandenes Material einer Sekundäranalyse unterzogen. Lise Foisneau etwa kontrastiert französische Polizeiunterlagen mit Interviews, die in den 1970er-Jahren mit sogenannten travellers (ein Begriff, den die französische Regierung für verschiedene mobile Bevölkerungsgruppen verwendete) geführt wurden. Volha Bartash zieht neben Unterlagen aus dem Nationalarchiv in Belarus Material heran, das auf Interviews mit Roma-Partisan:innen beruht, die in den 2000er-Jahren geführt worden sind. Lada Viková nutzt für die Rekonstruktion einer mährischen Familien- bzw. Erinnerungsgeschichte nicht nur selbst geführte Gespräche, sondern auch bereits in den 1980er-Jahren entstandenes Interviewmaterial. Somit ist der Band gleichsam nebenbei eine Fundgrube für alle, die auf der Suche nach mündlichen Quellen zur transnationalen Geschichte von Roma sind. Auch die Bandbreite der publizierten Erinnerungsberichte ist beeindruckend. Darüber hinaus hantieren einzelne Beiträge mit bisher wenig genutzten Quellen, etwa Unterlagen der International Refugee Organization oder Berichte der rumänischen Abteilung für Staatssicherheit Securitate.
Eine zweite Besonderheit des Bandes ist seine inter- und transnationale Perspektive. Besonders eindrücklich sind in diesem Zusammenhang die Einblicke in die Roma-Bürgerrechtsarbeit. Frühe Zusammenschlüsse, wie etwa die Uniunea Generală a Romilor din România (General Union of Roma from Rumania, 1933–1949) oder die tschechoslowakische Svaz Cikánů-Romů (Union of Gypsies-Roma, 1969–1973), die Viorel Achim bzw. Helena Sadílková und Milada Závodská in den Blick nehmen, ermöglichen einen vergleichenden Blick auf Fragen nach der Regierungsnähe der Organisationen und lassen zugleich die Notwendigkeit einer stärker inter- bzw. transnationalen Perspektive auf die Bürgerrechtsbewegung erahnen, die im deutschen Kontext mehrheitlich auf die Zeit seit den späten 1970er-Jahren datiert wird. Die transnationalen Dynamiken der Bewegung treten anschaulich in Petre Mateis Beitrag über die Bemühungen um Entschädigung und Anerkennung durch eine kleine Gruppe von Aktivist:innen im Rumänien der 1980er-Jahre zutage. Dezidiert zeigt er, dass Kontakte zur und Entwicklungen der internationalen Bürgerrechtsarbeit einerseits wesentliche Impulse lieferten, andererseits eine besondere Herausforderung darstellten. Angesichts ständig notwendiger Zugeständnisse an den rumänischen Staat war die agency von Roma fortwährend durch ein Lavieren zwischen verschiedenen Interessen charakterisiert.
Die Zeiträume, die in den Beiträgen behandelt werden, sind äußerst heterogen. Während einzelne Studien in die 1920er-Jahre zurückreichen und dem Nationalsozialismus einen breiteren Platz einräumen, fokussieren andere wenige Jahre in der Nachkriegszeit. Der in der Einleitung formulierte Anspruch, mit dem Band neue Fragen in Bezug auf die Geografie des nationalsozialistischen Genozids aufzuwerfen, erfüllt sich damit eher auf indirekte Weise. In Bezug auf den eigentlichen Schwerpunkt in der Nachkriegszeit ist jedoch nur zu wünschen, dass die vielfachen Spuren und Überlegungen – akteurszentriert und transnational – systematisch weiterverfolgt werden.
Anmerkung:
1 Vgl. die Homepage des Netzwerkes unter https://romalegacies1945.wordpress.com (09.05.2023).