H. McLeod: The Religious Crisis of the 1960s

Titel
The Religious Crisis of the 1960s.


Autor(en)
McLeod, Hugh
Erschienen
Anzahl Seiten
300 p.
Preis
$90.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Tripp, Katholisch-Theologische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum

Die 1960er-Jahre sind in der letzten Zeit immer mehr in den Blickwinkel der Zeitgeschichte gerückt, wozu nicht nur der 40. Jahrestag von ‚1968’ beigetragen haben dürfte. Der weitgehende gesellschaftliche Wandel jener ‚dynamischen Zeiten’ ist nicht zu bestreiten. Gerade moralische und religiöse Vorstellungen und Konventionen änderten sich, und so ist es nicht verwunderlich, dass auch wer sich mit der Religions- und Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigt, nicht um dieses Jahrzehnt herumkommt. In seinem neuesten Buch „The Religious Crisis of the 1960s“ vergleicht Hugh McLeod diese Zeit sogar mit den Umbrüchen der Reformationsära (S. 1).

Auf knapp 300 Seiten untersucht der Birminghamer Kirchenhistoriker welche Faktoren zum religiösen Wandel jener Dekade in der westlichen Welt beigetragen haben, und versucht dabei auch herauszufinden, wie „ordinary people“ diesen Wandel miterlebt haben (S. 4). Dazu führte er leider keine eigenen Interviews durch, sondern nutzt das umfangreiche National Sound Archive der British Library als Quellenfundus. Der Fokus der Arbeit liegt auf den Britischen Inseln – der konsequent über die Grenzen der Nationalstaaten hinausgehende Blickwinkel ist jedoch hervorzuheben.

In den ersten beiden Kapiteln ordnet McLeod die 1960er-Jahre in einen größeren zeitlichen Rahmen ein. So widmet sich das erste Kapitel der longue durée der religiösen Entwicklung, wobei er bewusst das zugegebenermaßen problematische Konzept der Säkularisierung vermeidet. Stattdessen spricht er vom „decline of Christendom“. Die sozio-politische Hegemonie des Christentums, die McLeod unter dem Begriff „Christendom“ subsumiert, sei durch die zunehmende religiöse Toleranz, die Trennung von Kirche und Staat und schließlich die allmähliche Auflösung der Verbindungen von Kirche und Gesellschaft abgeschwächt worden (S. 18f.). Dadurch sei der Boden für die Krise des Christentums bereitet worden, die dann durch verschiedene mittel- und kurzfristige Entwicklungen begünstigt wurde. Im zweiten Kapitel beschreibt McLeod die Entwicklungen der Nachkriegszeit, in der bereits erste Ansätze der Probleme und Fragen der 1960er-Jahre zu erkennen waren, die Kirchen aber noch Wachstum zu verzeichnen hatten.

Im dritten, vierten und neunten Kapitel beschreibt McLeod in erster Linie, wie sich gesellschaftliche und religiöse Konzepte im Laufe jener Dekade wandelten. Dabei geht er vom Konzept der „langen 1960er-Jahre“ aus, die in etwa von 1958 bis in die frühen 1970er-Jahre reichten. Die frühen 1960er-Jahre, die er bis etwa 1962/63 ansetzt, sieht er als eine Art Brückenzeit zwischen den 1950er-Jahren, mit ihrem Verlangen nach „Normalität“, und den späteren 1960er-Jahren, mit ihren utopischen Vorstellungen (S. 82). In dieser Zeit wurde vorsichtig hinterfragt, was später offen angegriffen werden sollte (Kapitel 2). Die Mitte des Jahrzehnts sei von einem großen Reformeifer geprägt gewesen. Auch wenn dieser nicht nur die katholische Kirche erfasste, sei der klarste Ausdruck dafür das Zweite Vatikanische Konzil mit seinem Streben nach „Aggiornamento“ (Kapitel 4). Die Reformen führten zwar einerseits zu einer Annäherung der Konfessionen aneinander, allerdings traten an dieser Stelle zunehmend innerkonfessionelle Spannungen zwischen Liberalen, Moderaten und Konservativen auf. Letztere machten gerade die eben genannten Reformen für die „Krise der Kirche“ verantwortlich, die McLeod im neunten Kapitel beschreibt. Zurückgehende Teilnahme am kirchlichen Leben und Probleme bei der Rekrutierung des klerikalen Nachwuchses trafen dabei die Kirchen am unmittelbarsten.

Mehrere Entwicklungen trugen nach McLeod zu dieser Entwicklung bei. Als wichtigsten Faktor sieht er den in den 1960er-Jahren wachsenden Wohlstand (Kapitel 5). Hierdurch seien unter anderem die sozialen Kontrollsysteme der Nachbarschaft und der Großfamilie geschwächt worden, da sich das Leben stärker um das Eigenheim und damit um die Kernfamilie drehte. Außerdem ergaben sich neue Freizeit- und Bildungsangebote, insbesondere für die Jugend. Durch die Migrationswelle, die vom Wachstumsschub ausgelöst wurde, kamen der Staat und die christliche Mehrheitsgesellschaft immer stärker mit anderen religiösen Gruppen in Kontakt; das Christentum war nicht mehr das einzige Deutungsmuster. Gerade die Gegenkulturen waren für alternative religiöse Ideen offen (Kapitel 6). Die hier geäußerte Kritik der Institutionen richtete sich auch gegen die Kirchen. Natürlich geht McLeod auch auf die Studentenbewegung und das Jahr 1968 ein (Kapitel 7). Er beschreibt die Bedeutung der Religion und insbesondere des Christentums für ‚1968’ als zwiespältig, spielten doch auch explizit christliche Organisationen eine gewichtige Rolle in der Studentenbewegung. Dennoch entfernte sich ein großer Teil der Aktivisten weiter von den Kirchen, und auch die Kirchen selbst wurden von der 1968er-Bewegung erfasst.

Den Einfluss der sich wandelnden Geschlechterrollen sieht McLeod als vergleichsweise gering an (Kapitel 8). Frauen und Männer gaben die gleichen Gründe an, warum sie die Kirche verlassen haben; nur sehr wenige Frauen hatten in den Interviews feministische Ideen oder Sexismus als Grund für einen Kirchenaustritt angegeben (S. 180f.). Hier unterschätzt meines Erachtens McLeod den Einfluss der Kategorie Gender. Die gewandelten Geschlechterrollen müssen sich nicht direkt in einer offenen, feministischen Kritik äußern, und auch die Tatsache, dass Frauen und Männer die gleichen Gründe für ihre Abkehr von der Kirche nennen, kann für veränderte Geschlechterrollen stehen, nämlich dann, wenn Frauen und Männer vorher andere Gründe dafür angaben, in der Kirche zu bleiben oder sie zu verlassen. Immerhin erkennt McLeod auch an, dass neue Vorstellungen von Familie und Ehe zu größerer Distanz zur Kirche führten (S. 169ff.). Auch die zurückgehende christliche Sozialisation von Kindern und Jugendlichen, die McLeod als wichtigen Faktor betont (S. 202ff.), ist nicht nur auf ein wachsendes Angebot anderer Sozialisationsinstanzen zurückzuführen, sondern spiegelt auch sich wandelnde Rollenbilder wieder.

McLeod macht neben diesen Entwicklungen noch auf die Bedeutung der zunehmenden Trennung von christlichen Moralvorstellungen und staatlichen Gesetzen aufmerksam – ein Prozess, der in einigen Fällen, wie etwa der Entkriminalisierung der Homosexualität, von kirchlichen Würdenträgern unterstützt wurde. Dies habe auch dazu geführt, dass die Gesellschaft nicht mehr als „Christian Country“ sondern als „Civilized Society“ wahrgenommen wurde (Kapitel 10).

All diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass sich „Christendom“ in den 1960er-Jahren als Gesellschaftsform seinem Ende zuneigte (Kapitel 11). Die Gesellschaft wurde nicht mehr unbedingt als eine christliche beschrieben. Das Christentum hatte nicht mehr die alleinige Deutungshoheit, auch wenn die Kirchen weiterhin die mitgliedsstärksten und einflussreichsten sozialen Organisationen blieben.

McLeods Arbeit zeichnet sich durch ihren konsequent internationalen Blickwinkel aus. Dadurch werden die großen Linien der Entwicklung des Christentums in den 1960er-Jahren deutlich. Es ist dabei nicht als Schwäche zu sehen, dass dabei einige Details nationaler Besonderheiten nicht erwähnt werden. Wer sich für diese interessiert, kann auf die zitierten nationalen Arbeiten zurückgreifen. Seine Argumentation, die jene Prozesse multikausal zu erklären versucht, ist überzeugend, auch wenn man in der Gewichtung der einzelnen Faktoren nicht mit McLeod übereinstimmen mag. Dennoch bietet „The Religious Crisis of the 1960s“ eine eindrückliche Beschreibung des religiösen Wandels der 1960er-Jahre, die sich auch als Einstieg in die Thematik der Religions- und Kirchengeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eignet.

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