M. Gabovič (Hrsg.): Pamjatnik i prazdnik

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Titel
Pamjatnik i prazdnik. Ėtnografija Dnja Pobedy [Denkmal und Fest, Ethnographie des „Tages des Sieges“]


Herausgeber
Gabovič, Michail
Erschienen
Sankt-Peterburg 2020: Nestor-Istorija
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
799 Rub.
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elnura Jivazada, Institut für Demokratie, Medien und Kulturaustausch e.V.

Wie der 9. Mai jährlich in Russland und den anderen ehemaligen Republiken der Sowjetunion begangen wird, gilt als Lackmustest für die politischen Beziehungen zwischen diesen Ländern. Denn bislang wurde der „Tag des Sieges“ über Nazi-Deutschland als Repräsentation der Macht Russlands wahrgenommen und mit dem Blick auf Moskau und „Erinnerungskriege“ untersucht.1 Verbreitet ist dabei die Wahrnehmung des 9. Mai als eine durchorchestrierte staatliche Feier. Mit dieser reduzierenden Erzählung bricht der vorliegende Band, der die Bandbreite der Akteure und Praktiken in Russland, in den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken und den europäischen Ländern des ehemaligen Ostblocks interdisziplinär in den Blick nimmt. Der 2020 erschienene Sammelband fragt, wie der 9. Mai in öffentlichen Räumen gefeiert wurde und welche lokalen, regionalen und nationalen Implikationen diese Feiern hatten. 16 Beiträge analysieren dies für 13 Orte. Die Umwälzungen, die nach der russischen Annexion der Krim 2014 stattfanden, sind in einem kurzen Nachwort skizziert worden.

Die binäre Position in der Forschung, die die Mächtigen und das Volk als gegensätzliche Akteure des Kriegsgedenkens sieht, wird im Vorwort des Herausgebers in Frage gestellt. Die Annahme, der 9. Mai sei „von oben“ aufoktroyiert, sei genauso verzerrend wie die gängige Meinung, dass der 9. Mai bis 1965 verdrängt worden sei. Michail Gabowitsch argumentiert, dass das Gedächtnis „von unten“ stets in den ideologischen Rahmen des Staates eingepasst worden sei und ein unabhängiges Gedächtnis „von unten“ nie existiert habe. Diese Praktiken seien vom Staat vereinnahmt, in strikte Rahmen gepresst worden und hätten ihrerseits die staatlichen Gedenkrituale beeinflusst.2 Schon der Verweis auf den Beitrag von Olga Resnikowa über Grosny im vorliegenden Band genügt für die Einsicht, dass die Akteure „von unten“ zumindest durch die Ablehnung der offiziellen Geschichtserzählung eine Gegenerinnerung aufrechterhalten können. Überzeugender hingegen ist die These Michail Gabowitschs, dass die Staatsmacht kein einheitliches Gebilde sei, sondern einen Zusammenschluss verschiedener Akteure darstelle, der unterschiedliche, zuweilen konkurrierende Ansichten vertreten und diese in ihren Handlungen zum Ausdruck bringen könne.

Michail Gabowitsch stellt zutreffend fest, dass es „den 9. Mai” für die Länder der ehemaligen Sowjetunion nicht mehr gäbe. Die schwindende Bedeutung Moskaus einerseits, die Umdeutung der Geschichte im Zeichen der nationalen Narrative in den Nachfolgerepubliken andererseits und nicht zuletzt das Entstehen der russischsprachigen Diaspora in Deutschland, Israel und den USA haben eine Vielfalt dieser Feiern zutage gefördert, die nur wenig gemeinsam haben.

Teilnehmende Beobachtung ist bei den meisten Artikeln der wichtigste Zugang. Die Forscher:innen befragten die Teilnehmer der Feste, beobachteten die Teilnehmer und sprachen mit den Organisatoren. Vergleichbarkeit wird dadurch gewährleistet, dass alle Autor:innen ähnliche visuelle Elemente und Akteure aufführen, darunter das Georgsband, das „unsterbliche Regiment“, das Verhalten der Veteranen, Suchgruppen für die Überreste von Soldaten sowie das musikalische Rahmenprogramm. Das „unsterbliche Regiment“, eine ursprünglich von unten initiierte Aktion, bei der die Nachfahren der Kriegsteilnehmer mit Fotos ihrer Großeltern und Eltern über zentrale Plätze ihrer Heimatstädteziehen, soll dazu dienen, die Erinnerung an Vorfahren von den erstarrten und unpersönlichen offiziellen Ritualen zu befreien. In den meisten betrachteten Orten in Russland wurde das Regiment in das Gedenken inkorporiert, so dass der ursprünglich mitschwingende subversive Charakter längst obsolet ist.

Olga Dawydowa-Menge arbeitet am Beispiel der Stadt Sortawala an der russisch-finnischen Grenze heraus, wie die nationale Ideologie des Zentrums mit der lokalen Geschichte in der Peripherie in Konflikt gerät. Die Bevölkerung dieser vormals finnischen Stadt, die 1944 endgültig in die Sowjetunion einverleibt worden war, wurde deportiert und in finnische und karelische Häuser zogen sowjetische Familien ein. Daher hat die aktuelle Bevölkerung keine negativen Erinnerungen an die Vorbewohner. In Interviews sprechen die älteren Siedler von den Finnen als gleichwertige Opfer, die ebenfalls ihre Heimat verlassen mussten. Die sowjetischen Siedler mussten sich den Ort neu aneignen. Zu den informellen Praktiken gehören in den kleinen Ortschaften die Pflege der Soldatendenkmäler durch Schulklassen. Die verdrängte karelische Identität der verbliebenen Minderheit wird in die gesamtrussische umgeformt. Am 9. Mai werden die lokalen Kämpfer kaum erwähnt, vielmehr werden die landesweit üblichen heroisierenden Reden wiederholt, etwa: “Dankbarkeit den Veteranen", „Minderjährige Insassen der Straflager" oder “Sieg über den Faschismus”. Durch intensive wirtschaftliche Kontakte nach Finnland nach 1990 sind die Finnen allgemein positiv besetzt. Die Befragten messen ihnen keine Bedeutung in der Erinnerung an den Krieg bei. Die Nachfahren der finnischen Familien, die aus Sortawala aussiedeln mussten, sind als Touristen und nicht Vertriebene bekannt. Seit 2014 ist jedoch die Erinnerung an den Krieg zum Spannungsfeld zwischen Russland und Finnland geworden.

In weiteren Beiträgen untersucht etwa Xenia Brailowskaja, wie die Denkmäler für die jüngsten Kriege in das St. Petersburger Gedankeneinbezogen werden, z.B. das Denkmal der “Krieger-Internationalisten” für die sowjetischen Afghanistan-Soldaten oder das Denkmal der „Krieger der Spezialeinheiten“ für die russischen Tschetschenienkriege der 1990er Jahren. Während das erste Denkmal in den offiziellen Umzug der Veteranen am 7. Mai zum Auftakt der Feierlichkeiten eingebunden ist, findet das letztere keine Beachtung, da es das schwierige Verhältnis der Gesellschaft zu diesen Kriegen zum Ausdruck bringt.

Der Aufsatz „Trauer und Feier im (post)kolonialen Kontext" ist in mehrere Hinsichten herausragend. Olga Resnikowa ordnet den 9. Mai in Tschetscheniens Hauptstadt Grosny in den theoretischen Rahmen der „Kulturhegemonie“ ein, die in der Tradition Gramscis Unterdrückung als kulturellen Zwang versteht. Der Tag der Deportation der Tschetschenen von 1944 wird mittlerweile nicht mehr am üblichen Tag des Deportationsbeginns, dem 23. Februar, sondern am 10. Mai begangen, um den Festkalender an den gesamtrussländischen anzugleichen. Denn am 23. Februar wird in Russland der „Tag des Vaterlandsschutzes“ begangen. Dabei wurde die konkrete Erfahrung der Deportation durch ein abstraktes Narrativ zu „alle Tragödien, die dem tschetschenischen Volk zustießen” ersetzt sowie der Blick auf das Denkmal durch eine Mauer versperrt. Diese Umzäunung wurde von den Befragten als eine Anbiederung an Moskau wahrgenommen. Obwohl eine aufrichtig stolze Erinnerung von Teilen der Bevölkerung für den 9. Mai als „Tag des Sieges“ vorhanden sei, werden die Träger dieser Erinnerung sowohl von den durchorganisierten offiziellen Veranstaltungen ausgeschlossen als auch von den Einwohnern abschätzig betrachtet. Der Beitrag zeichnet sich durch ein hohes Maß an Transparenz und Selbstreflexion der eigenen Rolle der Forscherin in der Interaktion mit den Interviewpartner aus. Zusätzlich führt der Beitrag ein Novum im Russischen mit gegenderten Sprachendungen bei Gruppenbezeichnungen ein, um die Unsichtbarkeit der Frauen zu verdeutlichten.

Alexei Lastowski zeigt anhand von Umfragen, dass der Zweite Weltkrieg das Fundament der kollektiven Identität in Belarus bildete, während die revisionistische, auf den Opfergedenken fokussierte Geschichtsbetrachtung der Opposition wenig Anklang in der Bevölkerung fand. Nach dem Maydan in Kyiv 2014 wurde die Gestaltung der Feier des 9. Mai zu einem Balanceakt für die Regierung, um einerseits eigene belarussische Identität vor der Vereinnahmung durch Russland zu bewahren und andererseits die prowestliche Opposition zu unterbinden. 2020 wurde zum ersten Mal seit 2010 eine Militärparade abgehalten, die russische Symboliken wie Georgsbänder wurden jedoch verboten.

In den Hauptstädten der EU-Länder Wilna, Sofia und Wien ist der 9. Mai als Tag des Sieges eine marginale Veranstaltung, die durch den Europatag überlagert wird. In Wilna beobachtete Ekaterina Makhotina 2013 eine Entpolitisierung des Gedenkens, welches die Erwähnung der Roten Armee vermeidet und sich vielmehr auf die Erinnerung an die Massenvernichtung der Juden in Litauen während des Zweiten Weltkriegs konzentrierte. In Sofia erlebt dagegen das wenig beachtete Denkmal für die sowjetische Armee ein Revival durch diverse Jugendgruppen, die die zentrale Lage und den öffentlichen Raum für ihre Anliegen nutzen, so die Legalisierung von Marihuana oder die Solidarisierung mit Pussy Riot.

Michail Gabowitschs Analyse von zwei Festen im Treptower Park kommt zu dem Schluss, dass der gleiche Anlass ganz unterschiedliche Implikationen haben könne. Der Gedenktag der russischen Gemeinde und das Fest der Antifa im Rosengarten des Parks unter dem Motto „Wer nicht feiert, hat verloren” haben kaum Berührungspunkte. Sie kollidieren sogar, wenn betrunkene Redner:innen des ersten Fests frauenfeindliche und homophobe Ausschweifungen tätigen. Darüber hinaus arbeitet der Autor die Ähnlichkeiten zwischen den weltlichen sowjetischen und postsowjetischen Ritualen und orthodox-christlichen Ritualen heraus, ohne dabei eine pauschale Gleichwertigkeit zu unterstellen. Erst durch das Pilgern durch militärische Gedenkstätten erhalten diese Orte eine sakrale Komponente. Im Jahr der Feldforschung 2013 fiel der 9. Mai mit dem orthodoxen Osterfest zusammen, daher waren vielerorts die religiös-sakralen Elemente ebenfalls in die Feiern eingebettet, mancherorts mischt sich der Kirchengesang buchstäblich in die Festreden. Die staatsnahe Russisch-Orthodoxe Kirche bildet nun das neue Wertefundament, das früher der kommunistischen Ideologie vorbehalten war. Russlands politische Bildung sehe den Schutz dieser „sakralen Objekte” als „Pflicht jedes ehrlichen Bürgers”.3 Das führe zur medialen Wahrnehmung solcher Initiativen als politisch orchestriert, wie das Beispiel “Putins Nachtwölfe” zeigt. Die Betrachtung der transnationalen Kommemoration als ausschließliche Einflussnahme der politischen Führung Russlands zu betrachten, erweist sich indes als nicht haltbar, was der Beitrag durch Erforschung von grenzüberschreitenden Initiativen „von unten“ untermauert.

Eine Erkenntnis des Bandes, die sich durch viele Beiträge über Russland zieht, ist, dass der 9. Mai trotz des proklamierten staatstragenden Charakters viele Modifikationen hatte. Diese reichen vom karnevalesken Volksfest in Moskau bis hin zu ablehnende Haltung der Bevölkerung in Grosny, der kein identitätsstiftendes Narrativ für die Russische Föderation angeboten werden konnte. Der gut bebilderte Band ist nicht nur sehr lesenswert für das Verständnis der Geschichtsbilder im modernen Russland, sondern kann durchaus als Standardwerk für alle Forscher:innen gelten, die zu Erinnerungskulturen in der ehemaligen Sowjetunion und ihren transnationalen Praktiken arbeiten. Die Beiträge von Olga Dawydowa-Menge über Sortawala, von Sewil Gusejnowa über die russischsprachigen Migrantenklubs in Berlin sowie Tatjana Schurschenkos Beitrag über die russischsprachige Diaspora in Wien und Michail Gabowitschs Aufsatz über den Treptower Park gleichzeitig ein wertvoller Beitrag zur Migrationsforschung.4

Obwohl das Projekt den postsowjetischen Raum abdecken soll, kommen die Republiken des Südkaukasus und Zentralasiens nicht vor. Die Sprengung des Memorials für die Helden des „Großen Vaterländischen Krieges“ in Kutaissi, Georgien, wird nur nebenbei erwähnt. Dennoch stellt der Sammelband ein gutes Fundament zur Spiegelung der Veränderung dieser Praktiken vor allem im Russland vor dem 24. Februar 2022 dar. Die Neuausrichtung des 9. Mai in der Ukraine als Europatag statt eines „Tages des Sieges“ 2022 zeigt, dass der 9. Mai zumindest in den ehemaligen Sowjetrepubliken seine Bedeutung massiv einbüßt. Die Invasion der Ukraine durch Russland 2022, die den 9. Mai zumindest in ihren karnevalesken Praktiken vorhersehbar obsolet macht, dürfte nicht dazu führen, dass das Buch rasch an Bedeutung verliert. Im Gegenteil, das Buch ist nicht nur für die Ethnographie, sondern auch für die Geschichtswissenschaft mehr als relevant.

Anmerkungen:
1 Etwa: Elizabeth Wood, Performing Memory. Vladimir Putin and the Celebration of World War II in Russia, in: The Soviet and Post-Soviet Review 38 (2011), 172-200.
2 T.G. Ashplant, Graham Dawson, Michal Roper (Hrsg.), The Politics of War Memory and Commemoration, London, New York 2000.
3 Mischa Gabowitsch, Cordula Gdaniec, Ekaterina Makhotina (Hrsg.), Kriegsgedenken als Event. Der 9. Mai 2015 im postsozialistischen Europa, Paderborn 2017.
4 Thomas Faist / Eyüp Özveren, Transnational Social Spaces. Agents, Networks and Institutions, Burlington 2004.

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